Viktor Glass: Goethes Hinrichtung

Der Titel Goethes Hinrichtung ist etwas reißerisch geraten, denn in keinem Sinne handelt Viktor Glass’ Roman von einer Hinrichtung, die Goethe zugehören würde. Erzählt wird im Gegenteil die  Geschichte der Anna Katharina Höhn, die 1783 wegen der Tötung ihres Neugeborenen in Weimar verurteilt und mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht wurde. Zuletzt hatte Sigrid Damm in ihrem Buch „Christiane und Goethe“ ein wenig Lamento um Goethes Verwicklung in diesen Fall gemacht, das in einer ebenso naiven wie pathetischen Einschätzung der Position Goethes gipfelte.

Davon wenigstens ist Viktor Glass weit entfernt. Er entwickelt die Geschichte der Schwangerschaft, Kindstötung, Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung Höhns parallel zur Biografie Goethes in diesen Monaten. Beide Ebenen sind alles in allem solide recherchiert, die Lücken angemessen aufgefüllt, wenn mir auch einige Details unverständlich geblieben sind, so etwa die Anwesenheit Lenzens in Weimar, der bekanntlich zu dieser Zeit längst in Moskau lebte. Aber solche Kleinigkeiten fallen sicherlich noch unter die Lizenz der dichterischen Freiheit. Ob etwa Glassens Version, der junge Herzog Carl August habe die Re­gie­rungs­ge­schäf­te nur ungern übernommen, während Anna Amalia sie leichten Herzens hinter sich gelassen habe, auch noch unter diese Lizenz fällt, bliebe kritisch zu hinterfragen.

Problematischer ist aber sicherlich die Deutung der Rolle Goethes in der Sache Höhn, die Glass entwickelt: Bei ihm ist Goethe ein konsequenter Gegner der Todesstrafe und daher auch im Fall Höhn eigentlich für eine Begnadigung der Höhnin zu lebenslangem Zuchthaus. Diese Ehrenrettung geschieht sicher in der besten Absicht; auch behauptet Glass, Goethe habe diese Haltung ebenso in seinen Schriften vertreten, ohne allerdings auch nur ein konkretes Beispiel mehr anführen zu können als die Figur des Gretchens im „Faust“. Eine solche Idealisierung Goethes steht in einem offensichtlichen Gegensatz zu dem von Goethe im Fall Höhn abgegebenen Gutachten, das sich zwar zögerlich aber doch deutlich für die Beibehaltung der Todesstrafe im Falle von Kindstötungen ausspricht. Glass muss dieses Gutachten deshalb einerseits zu einer neutralen, unter großem zeitlichen Druck abgegebenen Stellungnahme verbiegen und andererseits seine Abfassung zu einem vorläufigen und hinhaltenden Urteil umdeuten, das Goethe in einer Sitzung des Geheimen Consiliums in Glassens Sinne mündlich zu widerrufen gedenkt. Leider findet nun gerade diese Sitzung nie statt, so dass Goethes Votum  in seiner in Glass’ Sinne „unglücklichen“ Formulierung stehen bleibt.

Solange sich der Leser darüber im Klaren ist, dass es sich in wesentlichen Teilen dieses Goethe-Bilds um freie Fantasien des Romanautors handelt, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben oder gegen die doch wenigstens mehr Indizien sprechen als für sie, kann die Lektüre dieses Goethe-Höhn-Romans durchaus gewinnbringend sein. Seine Illustration des Le­bens­all­tags in einer Mühle des 18. Jahrhunderts ist ebenso überzeugend, wie die Beschreibung des Prozesses gegen Anna Katharina Höhn detailreich und informativ. Es ist allerdings eher zu befürchten, dass die meisten Leser das Ganze für die sprichwörtliche bare Münze nehmen.

Viktor Glass: Goethes Hinrichtung. Berlin: Rotbuch, 2009. Pappband, Lesebändchen, 223 Seiten. 19,90 €.

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