Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre

Unsere Freunde haben einen Roman in die Hand genommen, und wenn dieser hie und da schon mehr als billig didaktisch geworden, so finden wir doch geraten, die Geduld unserer Wohlwollenden nicht noch weiter auf die Probe zu stellen.

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Bei Goethes »Wanderjahren« handelt es sich un­be­streit­bar um den schwierigsten Roman des Weimarer Meisters. Nicht nur die Editions- und Re­dak­tions­ge­schich­te stellt eine Herausforderung für jeden Herausgeber dar, sondern die inhaltliche Breite und formale Beliebigkeit des Buches fordern auch ein hohes Maß an Toleranz von den Lesern. Für die konkrete Lektüre hilft es auch wenig, wenn uns versichert wird, bei dem Roman handele es sich um einen frühen Vorläufer der Moderne, wenn man von Seite zu Seite mehr geneigt ist, ausnahmsweise ein einziges Mal im Leben Friedrich Gundolf zu­zu­stim­men und den Roman nicht nur stofflich, sondern auch technisch langweilig, d. h. verfehlt zu finden (»Goethe«, Berlin 101922, S. 716). Auch dass sich Goethe des höchst problematischen Charakters seines Buches offenbar bewusst war, hilft nur indirekt weiter; aber dazu später noch ein paar Worte.

Was erzählt wird, lohnt kaum der Mühe, es wiederzugeben: Wir finden den aus den »Lehrjahren« wohl bekannten Wilhelm Meister zu Anfang des Romans zusammen mit seinem Sohn Felix auf dem Weg nach Italien. Die Turmgesellschaft, die sich in den »Lehrjahren« als eine Wilhelms Geschick steuernde Vereinigung herausgestellt hatte, hat ihm für diese Reise einige merkwürdige Bedingungen auferlegt, die ihn in Bewegung halten sollen: Er darf nicht mehr als drei Tage und Nächte unter demselben Dach verbringen, muss von Station zu Station seiner Reise immer eine erkleckliche Distanz zurücklegen und darf an einen einmal besuchten Ort erst nach Jahr und Tag wieder zurückkehren. Dies liefert die natürliche Grundlage für die a­nek­do­ti­sche Reihung von Orten und Ereignissen, die die erste Hälfte des Romans weitgehend beherrscht. Im Laufe des Romans wird außerdem die auktoriale Erzählstruktur überschrieben durch eine Herausgeberfiktion, die vorgibt, es handele sich bei dem Roman eben nicht um eine Erzählung im her­kömm­li­chen Sinn, sondern um eine Auswahl aus einem ungeordneten Konvolut von Papieren, das dem Herausgeber vorliege.

Dementsprechend ist das Buch denn auch eine lose Folge von Ereignissen, Gesprächen, Reden, Briefen und Novellen, die – je weiter, desto schlechter motiviert – schlicht auf den Faden einer vollständig beliebigen Handlung aufgereiht werden. Auf der Ebene der Fabel im traditionellen Sinne er­schei­nen nur zwei Elemente als für den Roman wesentlich: Wilhelms Ausbildung zum Wundarzt – nicht zum Arzt im Sinne eines All­ge­mein­me­di­zi­ners, wie man hier und da lesen kann – und der am Ende stattfindende utopische Aufbruch einer großen Gruppe unter Leitung der Turmgesellschaft nach Amerika, wo man in einer selbstbestimmten – tatsächlich aber natürlich von den weisen Führern der Turmgesellschaft vorgegebenen – Gesellschaftsform zu leben gedenkt. Zum Glück ist der deutschen Literatur ein dritter, in einem fiktiven Amerika spielender Teil der Lebensgeschichte Wilhelms erspart geblieben.

Thematisch tritt das Buch mit großem Anspruch auf: Pädagogik, Gesellschaft, Industrialisierung, vita activa versus vita contemplativa, Vulkanismus versus Ozeanismus – dies alles und mehr wird in Gesprächen und Reden der Figuren (und damit immer zugleich auch unter in­di­vi­duel­lem Vorbehalt) diskutiert und analysiert. Hinzu kommen die beiden Spruch­samm­lun­gen der Ausgabe von 1829, die unter anderem Kleinigkeiten wie Kunst, Wissenschaft und Wissenschaften, Mathematik, Wahrheit, Poesie, Lord Byron und Laurence Sterne aphoristisch bewirtschaften. Falls der heutige Leser hier nicht einfach vor dem intellektuellen Anspruch des Buches kapituliert – denn er soll nicht nur verstehen, was hier überhaupt gesagt wird, sondern er muss es immer auch noch in den historischen Horizont der 1820er Jahre einstellen, um es angemessen wahrnehmen zu können –, so könnten ihm durchaus Bedenken kommen, ob denn ein Roman, und sei es auch ein so umfangreicher wie die »Wan­der­jah­re«, das geeignete Medium für die Erörterung so zahl- und um­fang­rei­cher Themen ist.

All dies hat zu scharfer Kritik geführt; Gundolfens haben wir oben schon zitiert, weil er aber so spitz und witzig ist, soll hier einmal mehr Arno Schmidt zu Wort kommen:

Das erste Axiom ist für heute: es gibt gar keine »Klassiker«, sondern nur »klassische Werke« (wenn man schon den albernen Begriff weiter behalten will). So ist wohl Faust »klassisch« aber Wilhelm Meisters Wanderjahre eine freche Formschlamperei mit durchschnittlichem Inhalt; und die »Prinzessin Brambilla« ist ein Kunstwerk, und »Hanswursts Hochzeit« und dergleichen, säuische Lappalien, nicht wert der Druckerschwärze. Und ich wiederhole, was ich Euch – Dir und Alice – so oft gesagt habe: es gibt keinen Dichter, der nicht besser nur die Hälfte geschrieben hätte; bei den meisten war ein Viertel schon zu viel. –

Und der zweite Satz lautet: abgesehen von Goethes wis­sen­schaft­lich­phi­lo­so­phi­schen und seelischen Defekten, hatte er als Autor noch den, daß er keinen Roman schreiben konnte. Das ist auch gar keine Schande: Wieland, Poe, Storm, Keller waren völlig unbegabt für’s Bühnenspiel, Hoffmann und Stifter für gebundene Rede aller Art, Klopstock hätte sich im Formalen auf Ode, Anekdote und gram­ma­ti­sche Gespräche beschränken sollen. Unangenehm für die Nachwelt wird so Etwas aber, wenn der Dichter das selbst nicht merkt, also Wieland sich an der Alceste versucht, Klopstock ein Epos schreibt, und Goethe die Wanderjahre »macht«.

»An Uffz. Werner Murawski«

(Und gleich der Gegensatz [zu Wieland]: bei Goethe ist die Prosa keine Kunstform, sondern eine Rumpelkiste – den »Werther« beiseite; und »Wahrheit und Dichtung«, wo allerdings ja gar kein Problem einer Stofformung vorliegt –: gewaltsam aneinandergepappte divergente Handlungsfragmente; grob an den Hauptfaden geknotete Novellen; Aforismensammlungen; Waidsprüchlein aller Art – todsicher den ungeeignetsten Personen in den Mund gelegt: was läßt er das Kind Ottilie für onkelhaft weltkundige »Maximen« in ihr Tagebuch schreiben! – Das demonstrativste Beispiel ist der »Wilhelm Meister«, zumal die »Wanderjahre«: was er sich hier, z. B. an Kapitelübergängen leistet, ist oft derart primitiv, daß ein wohlgeratener Primaner, der n bißchen was auf sich hält, sich ihrer schämen würde. Eine freche Formschlamperei; und ich mache mich jederzeit anheischig, den Beweis anzutreten (wenn ich nicht meine Arbeitskraft ernsthafteren Dingen schuldig wäre: Goethe, bleib bei Deiner Lyrik! Und beim Schauspiel!).

»Aus dem Leben eines Fauns«

Schmidt hält die Faulheit eines diktierenden Schriftstellers (»An Uffz. Werner Murawski«) für eine der Ursachen von Goethes frecher Formschlamperei, was immerhin eine bodenständig-handwerkliche Erklärung für den Zustand des Textes liefert, statt sich in poetologische Spekulationen zu verlieren.

Dagegen darf mit Sicherheit angenommen werden, dass sich Goethe über den heiklen Charakter seines Buches vollständig im Klaren war. Es gibt zahlreiche Stellen im Text, die – wie die eingangs als Motto zitierte – die Zumutungen der formalen Beliebigkeit und inhaltlichen Schwierigkeit explizit thematisieren. Goethe lässt den Erzähler immer erneut den brüchigen Aufbau und die losen Übergänge kommentieren und anmerken, dass es zu dem gerade Verhandelten noch viel zu sagen gäbe, nur sei eben hier der Ort nicht. Auch die letzten Worte des Romans (Ist fortzusetzen.) deuten auf das unendliche Projekt, von dem das Buch nur einen verschwindenden Ausschnitt liefert.

Im Gegensatz zu den beiden Hauptströmungen der Deutung bin ich heute weder geneigt, dem Roman seinen Mangel an formaler und inhaltlicher Geschlossenheit als Fehler anzukreiden, noch halte ich es für besonders überzeugend, Goethe als einen frühen, noch unsicheren Modernen zu lesen. Offensichtlich resultiert der Mangel der Form zuerst einmal aus dem ausschweifenden inhaltlichen Anspruch, dem Goethe zu genügen versucht. Doch scheint es mir zu kurz gegriffen, die bis dahin für einen Roman unerhörte thematische Fülle allein für die brüchige Form verantwortlich zu machen. Vielmehr scheint Goethe allerspätestens in den 1820er Jahren nicht mehr am Erzählen um des Erzählens willen, an der Fiktion als Fiktion interessiert gewesen zu sein. Die Fabel im traditionellen Sinne liefert ihm nur mehr ein Vehikel, mit dem er versucht, seine Weltsicht und -deutung einem breiteren Kreis des gebildeten bürgerlichen Publikums bekannt zu machen. Auch befreit die künstlerische Aufarbeitung sozialer, wissenschaftlicher und philosophischer Thesen ihn von jenen Ansprüchen an die Theorie, denen er weitgehend misstraut:

Man tut immer besser, daß man sich grad ausspricht, wie man denkt, ohne viel beweisen zu wollen: denn alle Beweise, die wir vorbringen, sind doch nur Variationen unserer Meinungen, und die Widriggesinnten hören weder auf das eine noch auf das andere.

[…]

Da nun den Menschen eigentlich nichts interessiert als seine Meinung, so sieht jedermann, der eine Meinung vorträgt, sich rechts und links nach Hülfsmitteln um, damit er sich und andere bestärken möge. Des Wahren bedient man sich solange es brauchbar ist; aber leidenschaftlich-rhetorisch ergreift man das Falsche, sobald man es für den Augenblick nutzen, damit als einem Halbargumente blenden, als mit einem Lückenbüßer das Zerstückelte scheinbar vereinigen kann. Dieses zu erfahren, war mir erst ein Ärgernis, dann betrübte ich mich darüber, und nun macht es mir Schadenfreude. Ich habe mir das Wort gegeben, ein solches Verfahren niemals wieder aufzudecken.

Da zudem im Kern der Weltdeutung der »Wanderjahre« ein Plädoyer für das Tätigsein in der Welt und gegen das übermäßige – um nicht ›maßlose‹ zu sagen – Theoretisieren und Abstrahieren steht, erschiene jede rein essayistische Behandlung der verhandelten Themen als eine Bewegung in die falsche Richtung.

Goethes Missachtung der Form sollte also gerade nicht als eine Missachtung der Kunst der Literatur verstanden werden, sondern geradezu als ihre Hochschätzung: Nur die Kunst erlaubt es Goethe, seiner Auffassung nach angemessen über die Welt und ihr Verständnis zu schreiben, ohne sich entweder in Abstraktion einer- oder Banalität andererseits zu verlieren. Dazu aber ist es zugleich nötig, die traditionelle Form zu zerbrechen (man entschuldige diese Reminiszenz an Schillers »Lied von der Glocke«) und in den Trümmern der Form  weiter zu erzählen.

Besser macht all dies das Buch aber leider nicht!

Vielleicht zum Schluss noch ein Wort zu der hier gelesenen Ausgabe. Wie oben bereits erwähnt, haben die »Wanderjahre« eine etwas komplizierte Publikations- und Redaktionsgeschichte: Es erschienen zu Goethes Lebzeiten zwei Fassungen, eine fragmentarische 1821, die notwendig wurde durch die Pustkuchensche Fortsetzung der »Lehrjahre« (ebenfalls 1821), und eine umgearbeitete und erweiterte 1829, die heute die Grundlage der meisten Ausgaben bildet. Allerdings hatte Goethe Eckermann gegenüber erwähnt, dass die beiden Spruchsammlungen der Ausgabe von 1829 in der Hauptsache aufgenommen worden seien, um den Umfang des jeweiligen Bandes abzurunden. Eckermann hat sich daher später entschlossen, die Spruchsammlungen wieder aus den »Wanderjahren« herauszunehmen, eine Praxis, der bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die meisten Herausgeber gefolgt sind.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Redaktion der Ausgabe von 1829 eher flüchtig war und so ungewollt einige zusätzliche Brüche und fehlende Anschlüsse produziert hat. Natürlich bringt die Münchner Ausgabe, die seit einigen Jahren meine Brotausgabe der Werke Goethes ist, die »Wanderjahre« vollständig in beiden Fassungen. Doch wenn man nicht die Geduld aufbringen möchte, den Text gleich zweimal zu lesen, so bietet die Ausgabe bei Reclam so etwas wie eine integrale Fassung der beiden Versionen und ergänzt einige der aus der Ausgabe von 1829 herausredigierten, zum Verständnis aber notwendigen Teile.

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden. RUB 7827. Stuttgart: Reclam, 1982/2002. Broschur, 565 Seiten. 9,60 €.

3 Gedanken zu „Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre“

  1. Ich kann mich erinneren daß ich in grauer Vorzeit während meines Studiums die Lehr- sowie die Wanderjahre mit Genuß gelesen habe.
    Aber die Wanderjahre sind so ziemlich aus der Erinnerung geschwunden, aus den Lehrjahren ist mehr haften geblieben.

    Ist das ein Kriterium für die Qualität der beiden Werke? Bin mir nicht sicher

  2. Ich weiß es nicht recht: Vielleicht gibt es sehr gute Literatur, die einfach schlecht zu erinnern ist, während man einige Details aus Karl May sein ganzen Leben lang mit sich herumschleppt: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.

  3. Ich habe einst im Deutschunterricht, als gerade die Iphigenie „dran“ war, erwähnt, daß ich das Stück „mit Genuß gelesen“ hätte. Irritierter Kommentar des Deutschlehrers: „Mit WAS?“ Seidem bin ich mit solchen Formlierungen eher geizig. 🙂

    Ich habe mich einmal durch die ganze Münchener Ausgabe gelesen – eher unsystematisch in der Reihenfolge des Erscheinens – und dabei einen Autor gefunden, der mich vor allem als Mensch und „Charakter“ interessiert, weniger wegen der überwiegenden Brillianz seiner Werke, die reine Fiktion ist. Drei Viertel von Goethes „Output“ kann man getrost aussondern.

    Goethe ist in meinen Augen ein Universal-Dilettant, der über alles & jedes mitreden will, wobei denn auch meinetwegen schöne Beobachtungen und Einzelbemerkungen anfallen, aber künstlerisch letztlich vieles verfehlt ist. Etwa sein gestelztes „Märchen“ – da ist mir der „Blonde Eckbert“ hundertmal lieber. Ähnlich ist es mir mit den „Wanderjahren“ ergangen, die ich garantiert nie wieder anrühren werde. Für mich bleiben von Goethe der Werther, Faust, die Gedichte, vielleicht noch Tasso und Iphigenie, mit viel gutem Willen die „Wahlverwandschaften“, obwohl mir das Buch eigentlich zuviel „Laborgeruch“ ausströmt (pun intended).

    Das ist natürlich alles sehr subjektiv. Um den Referanzrahmen anzugeben: Als Denker ziehe ich Lessing, als Prosaschreiber Wieland und Tieck vor, als Wissenschaftler Alexander von Humboldt.

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