Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil

»Handelt es sich um ein Zitat?« fragte ich. »Gewiß doch. Uns bleiben nur noch Zitate. Die Sprache ist ein System von Zitaten.«

Dieser zweite Teil der gesammelten Erzählungen Borges’ enthält drei weitere Erzählbände:

  • David Brodies Bericht (1970)
  • Das Sandbuch (1975) und
  • Shakespeares Gedächtnis (1980/1983)

Man muss leider feststellen, dass diese Bände in der Hauptsache mehr von demselben liefern, das auch schon im ersten Teil vorherrschte: Machistische Messerstecher, Doppelgänger, besonders Doppelgänger von Borges selbst, unmögliche Gegenstände – das titelgebende Sandbuch etwa ist nur eine breitgetretene Fußnote aus der Bibliothek von Babel –, merkwürdige Kulturen und Sekten und Sektierer.

Meine guten Vorsätze hatten die ersten Seiten nicht überdauert; auf den folgenden standen dann die Labyrinthe, die Messer, der Mann, der sich für ein Abbild, das Spiegelbild, das sich für wirklich hält, der Tiger der Nächte, die Schlachten, die im Blut wieder aufleben, Juan Muraña blind und unselig, Macedonios Stimme, das Schiff, gebaut aus den Nägeln der Toten, das Altenglische, wieder aufgesagt an den Abenden.

S. 203

Das Buch ist angenehm zu lesen, doch zeigt es, wie eng der thematische Horizont Borges’ war, in dem er dann allerdings eine erstaunliche Fülle von erfundenen und wirklichen Tatsachen kunstvoll miteinander vermischt.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen zweiter Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Curt Meyer-Clason, Dieter E. Zimmer und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 6. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 258 Seiten. 9,99 €.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil

Noch bin ich, wiewohl nur teilweise, Borges.

Es gibt wohl keinen ernsthaften Leser, der nicht irgendwann in seinem Leben auf Die Bibliothek von Babel stößt oder gestoßen wird. Allein daraus könnte man die These ableiten, dass Jorge Luis Borges einer der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sein muss, wenigstens unter denen, auf die es ankommt.

Die Bibliothek von Babel beschreibt ein anscheinend unbegrenztes sphärisches Universum, das im Wesentlichen nur aus sechseckigen Räumen, Verbindungsgängen und Treppen besteht. In jedem der Räume bestehen vier der Wände aus jeweils fünf Bücherregalen mit immer 32 Büchern, von denen jedes 410 Seiten hat; „jede Seite hat vierzig Zeilen; jede Zeile etwas achtzig Zeichen von schwarzer Farbe“. Die Bücher sind außen beschriftet, aber es kann in der Regel vom Titel des Bandes, so er überhaupt einen Sinn hat, nicht auf den Inhalt des Buches geschlossen werden. Diese Bibliothek wird von Bibliothekaren bewohnt, deren Hauptaufgabe darin besteht, den ihnen erreichbaren Teil der Bibliothek nach sinnvollen Zeichenkombinationen in den Büchern zu durchsuchen, denn ihr Inhalt besteht aus zufälligen Aneinanderreihungen von 25 alphabetischen Symbolen (22 Buchstaben, Punkt und Komma sowie das Leerzeichen). Wovon diese Bibliothekare leben, wie sie sich ernähren, bleibt unerwähnt.

Es haben sich mit der Zeit unter den Bibliothekaren einige Annahmen über die Bibliothek durchgesetzt; dazu gehört die These, dass die Bibliothek alle möglichen Kombinationen der 25 Symbole enthält; allerdings hat es in früheren Zeiten Versuche gegeben, sich gegen die Hoffnungslosigkeit, die die Bibliothek in den Bibliothekaren erzeugt, dadurch zu erwehren, dass man systematisch Bücher vernichtet hat; doch hat dies kaum Auswirkungen auf den Bestand der Bibliothek, denn zu jedem vernichteten Buch gibt es zahllose Kopien, die von dem vernichteten nur um ein oder zwei Symbole abweichen. Naturgemäß enthalten die meisten Bände unlesbare Zeichenfolgen, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Zeichenketten in einer vergangenen oder zukünftigen Sprache sinnvolle Texte ergeben. Doch kaum ein Bibliothekar hat in seinem Leben mehr als eine Handvoll lesbarer Einzelstellen zu sehen bekommen.

Eines [der Bücher], das mein Vater in einem Sechseck des Umgangs 1594 erblickte, bestand aus den Buchstaben M C V, in perverser Wiederholung von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein anderes (das in dieser Zone oft konsultiert wird) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, aber auf der vorletzten Seite steht: O Zeit deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: Auf eine vernünftige Zeile oder korrekte Notiz entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs.

S. 161

Eine andere Sicht auf die Bibliothek versteht aber, dass irgendwo in ihr auch alle Meisterwerke der Literatur aller Zeiten verborgen sein müssen und das wiederum unzählige Male. Irgendwo gibt es den unwiderlegbaren Beweis, dass Shakespeare mit Queen Elizabeth identisch war, in einem anderen, dass es sich bei seinen Werke um eine geschickte Fälschung Goethes handelt. Ebenso findet man die schlüssigen Beweise für jede bekannte und unbekannte Verschwörungstheorie ebenso wie deren Widerlegung, ja es muss Bücher geben, in denen Beweise und Gegenbeweise sich in den Sätzen Wort für Wort abwechseln. Und es gibt ein Buch, in dem die Wirklichkeit der Welt enthüllt wird, also einen Katalog der Kataloge der Bibliothek, durch den jedes Buch direkt erreichbar wird. Leider gibt es auch endlos viele Fälschungen dieses Katalogs. Und gleichgültig wie viele Fälschungen es gibt, niemand wird sie je in dem Ozean des Unlesbaren finden.

Je länger man über dieses im Grunde recht einfach entworfene Labyrinth nachdenkt, desto tiefer und desaströser wird es: Wenn man beginnt zu begreifen, dass unsere wirklichen Bücher nur eine verschwindende Teilmenge der Bibliothek von Babel sind und nichts sie davor schützt, gänzlich unerheblich zu sein, weil sich in ihr nicht nur viel größere Meisterwerke mit Notwendigkeit finden, sondern weil es auch ein Buch dort gibt, dass unsere gesamte Kultur unrettbar der Banalität übergibt. Manche Gedankenspiele sind geeignet, einen zur Verzweiflung zu bringen.

Nun ist Die Bibliothek von Babel nur eine von zahlreichen Erzählungen in diesem Buch. Es enthält drei Erzählbände von Borges: Universalgeschichte der Niedertracht (1934), Fiktionen (1944) und Das Aleph (1949). Während die Universalgeschichte der Niedertracht hauptsächlich Biographien von Betrügern, Seeräubern, Mördern und anderen Verbrechern enthält (Borges hat auch später noch eine große Neigung dazu gehabt, obskure Biographien, Fakten und Fiktionen zu sammeln), finden sich auch Paraphrasen von Erzählungen aus anderen Quellen. Fiktionen bringt zahlreiche phantastische Erzählungen, die zumeist einen einzigen zentralen Gedanken oder ein einziges zentrale Motiv in die Konsequenzen ausspinnen; darunter findet sich auch die oben vorgestellte Bibliothek von Babel. Das Aleph kann als eine Fortsetzung und Mischung der Tendenzen der beiden Vorgängerbände angesehen werden.

Borges, der immer nur in kleinen Formen (Erzählung, Anekdote, Lemma, Gedicht) exzelliert hat, muss als einer der ganz großen Meister der Literatur des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die Fülle seines oft entlegenen Wissens, seiner originellen Einfälle und seiner ausgesuchten Sprache machen jedes seiner Bücher zu einem gänzlich eigenen Lese-Abenteuer. Jeder und jedem, der ihn noch nicht gelesen hat, sei geraten, es mit zumindest einem der beiden Erzählbände aus der Hanser-Werkausgabe (insgesamt 12 Bände) zu versuchen; alle Bände der Ausgabe sind zu Taschenbuch-Preisen als eBooks verfügbar.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 5. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 459 Seiten. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Jahresrückblick 2022

Das Jahr 2022 war ein etwas durchschnittliches Lektüre-Jahr, sowohl was die Menge der gelesenen und hier besprochenen Bücher angeht als auch nach deren Qualität. Wirklich negative Ausreißer gab es aber keine; es hat sich auch in diesem Jahr die Tendenz bei mir verfestigt, nur noch tote Autoren zu lesen, und der Anteil des Wiedergelesenen hat sich, so wenigstens mein ungeprüfter Eindruck, erhöht.

In der Erinnerung stechen hervor:

  • Gogols Tote Seelen, die in der Übersetzung von Vera Bischitzky sich als überraschend frisches Buch erwiesen.
  • Thomas Manns Der Erwählte, der seit über 40 Jahren zu meinen liebsten Büchern gehört.
  • Die beiden abschließenden Teile von Anthony Burgess The Malayan Trilogy in der Übersetzung von Ludger Tolksdorf.
  • Und – noch kurz vor Toresschluss – Joseph Conrads Lord Jim in der neuen Übersetzung von Michael Walter; wahrscheinlich der Höhepunkt dieses Lesejahres.

William Beckford: Träume, Gedankenspiele und Begebenheiten

Dieses Buch hat eine recht merkwürdige Entstehungs- und Publikationsgeschichte: Beckford wurde 1780 im Alter von 20 Jahren von seiner Familie auf die unter Adeligen und reichen Bürgern nicht unübliche Grand Tour geschickt, bei der die jungen Männer Europa kennenlernen, sich eine gewisse Weltläufigkeit und eventuell auch eine sexuelle Vorschule für ihr späteres Eheleben aneignen sollten. Beckford füllte auf der Reise eine Reihe von Notizbüchern, auf deren Grundlage er dann eine Art Gedächtnisprotokoll in Form von Briefen an einen fiktiven Freund, einen Maler entwarf. Das Buch wurde 1783 abgeschlossen und gedruckt, dann aber auf Druck der Familie zurückgezogen und eingestampft; 5 von 500 Exemplaren haben überlebt. Beckford hat das Material dann in seinem sehr viel kon­ven­tio­nel­le­ren Reisebuch Italy, with sketches from Spain and Portugal (1834) verwendet. Die ursprüngliche Fassung wurde erst 1891 im Umfeld der Wiederentdeckung von Beckfords Vathek publiziert. Nun liegt die erste deutsche Übersetzung des Buches vor.

Beckford erweist sich auch hier als ein durchweg origineller Kopf. Im Text zeigt er sich als einen klassisch breit gebildeten Autor, der in der Hauptsache an Malerei interessiert ist und das für seine reisenden Zeitgenossen übliche Abklappern der anerkannten Sehenswürdigkeiten eher für Zeitverschwendung hält. Reizvoll ist die Lektüre besonders im Vergleich mit anderen Reiseberichten der Zeit (Smollett, Sterne (der vom Verlag auf dem Pappschuber zum Buch unternommene Versuch, Beckfords Buch mit dem Sternes in Verbindung zu bringen, ist natürlich Unfug), Goethes Vater, Herder, Goethe, Goethes Sohn etc. pp.), wobei Beckford durchaus eine sehr bestimmte und eigenständige Stimme liefert.

Eine recht vergnügliche Lektüre, wenn man keine konventionelle Reiseliteratur erwartet. Zu empfehlen ist, das Buch in eher kleinen Portionen zu sich zu nehmen, um nicht die Geduld mit dem sprunghaften und selbstverliebten Erzähler zu verlieren.

William Beckford: Träume, Gedankenspiele und Begebenheiten in einer Reihe von Briefen aus verschiedenen Gegenden Europas. Aus dem Englischen von Wolfram Benda. Berlin: Aufbau, 2022. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 351 Seiten. 44,– €.

William Beckford: Vathek

Jedermann fiel ohne den geringsten Widerstand oder Kampf: so daß Vathek sich schon innerhalb weniger Augenblicke von den Leichen seiner getreusten Untertanen umgeben sah; welche sämtlich auf den Haufen geworfen wurden.

Da gerade William Beckfords italienisches Reisebuch Dreams, Waking Thought, and Incidents zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist, habe ich seinen sogenannten Roman Vathek noch einmal aus dem Bücherschrank geholt und die nur noch vage Erinnerung aufgefrischt. Der Text soll nach einer vom Autor kolportierten Legende im Jahr 1782 (Beckford war gerade 21 Jahre alt) innerhalb von nur drei schlaflosen Tagen auf Französisch niedergeschrieben worden sein, was man angesichts der gelieferten literarischen Qualität durchaus glauben mag. Erstmals veröffentlicht wurde er 1786 anonym in englischer Übersetzung, wobei der Übersetzer gleich die nächste Legende aufsetzte, in dem er behauptete, er habe den Text direkt aus dem Arabischen übersetzt. Obwohl das Buch durchaus dem modischen Interesse an orientalischen Erzählungen entgegenkam, war das Buch kein Erfolg und wurde in der Hauptsache von anderen Schriftstellern rezipiert. Beckford blieb den meisten seiner Zeitgenossen eher als verrückter Exzentriker bekannt, denn als Künstler oder Schriftsteller.

Seine eigentliche Karriere machte Vathek erst nach seiner Wie­der­ver­öf­fent­li­chung 1891. Er bediente perfekt die Faszination an und das phantastische Spiel mit der Dichotomie von Gut und Böse – das vom Autor ohnehin nur apologetisch angeklebte „moralische“ Ende ließ sich bequem ignorieren – und den westeuropäischen Geschmack an orientalischer Üppigkeit. So wurde Vathek nachträglich als Quelltext einer bösen Phantastik kanonisiert.

Erzählt wird die Geschichte des Kalifen Vathek, der in einem sehr erfundenen Orient sich dem Bösen verschreibt und versucht, die absolute Macht zu erreichen, über die er – zumindest nach Ausweis der Erzählung – ohnehin bereits verfügt. Der Text ist vollständig anekdotisch gebaut, widerspricht sich auch auf kurzen Strecken gern selbst und exzelliert einzig in einer üppigen, grausamen, aber auch gern sexuellen Phantasie, die ihn für die meisten zeitgenössischen Leser sicherlich unzumutbar machte. Nicht dass nun jemand zu viel erwartet: Nach dem heutigen Geschmack ist der Text so dezent, dass gerade das Sexuelle nur andeutungsweise zu finden ist; aber das 18. Jahrhundert hatte da noch gänzlich andere Em­pfind­lich­kei­ten.

Die Handlung ist kaum der Rede wert und muss daher auch nicht nacherzählt werden. Der Protagonist ist ein brutaler Aufschneider und Verschwender, der unter dem Pantoffel seiner machthungrigen und vom Bösen faszinierten Mutter steht, die ihn geradewegs im wörtlichen Sinne zur Hölle schickt. Am Ende werden, wie schon angedeutet, die Bösen zwar bestraft, aber das hat mit dem vorherigen Text kaum etwas zu tun und ist erzählerisch auch in keiner Weise vorbereitet.

Wer Lust am Zelebrieren des Bösen um des Bösen willen hat, wird hier sein Vergnügen finden; alle, die derartigen Mummenschanz eher albern finden, können sich die Lektüre beruhigt sparen. Warnen möchte ich aber vor der Übersetzung Franz Bleis (1907), die über Strecken nur so ungefähr etwas mit dem Original zu tun hat.

Willam Beckford: Vathek. Eine orientalische Erzählung. Aus dem Englischen von Wolfram Benda. Mit 11 Illustrationen von Gottfried Helnwein. München: Artemis/Winker, 1987. Leinen, Fadenheftung, 196 Seiten. Diese Ausgabe ist nur noch antiquarisch greifbar, der Text selbst aber leicht im Internet zu finden.

Aus dem Zugang: Ray Bradbury in der Library of America

Die Library of America bringt in zwei Bänden eine Auswahl der wichtigsten Texte Ray Bradburys, der den meisten Lesern wesentlich nur als Science-Fiction-Autor bekannt sein dürfte. Sein Fahrenheit 451 (1953) ist in Europa wohl mit der Verfilmung François Truffauts (1966) zu einem Klassiker der Moderne geworden; The Martian Chronicles (Mars-Chroniken; 1950), vielfach fälschlich als Roman bezeichnet, gehört zu den kanonischen Texten des Genres. Weit weniger bekannt dürften Bradburys Erzählungen sein, die dem Horror-Genre oder der phantastischen Literatur zuzuordnen sind. Formal ähnlich wie The Martian Chronicles entfaltet Dandelion Wine (Löwenzahnwein; 1957) in einer Reihe lose miteinander verbundener Erzählungen ein Panorama der 20er-Jahre in der fiktiven Kleinstadt Greentown im Mittleren Westen der USA, wobei das Leben der Figuren zum Teil von phantastischen, zum Teil auch von nur eingebildeten Ereignissen gestört wird. Den zentralen Faden liefert der Heranwachsende Douglas Spaulding, der in diesem Sommer entscheidende Erfahrungen für sein weiteres Leben macht.

In derselben Stadt ist auch Bradburys Roman Something Wicked This Way Comes (Das Böse kommt auf leisen Sohlen; 1962) angesiedelt. Die Handlung dreht sich um einen Jahrmarkt, der in die Stadt kommt und den offenbar ein dunkles Geheimnis umgibt. Zentrales phantastisches Motiv ist ein Karussell, das die Fähigkeit besitzt, seine Passagiere jünger oder älter zu machen, sie dabei aber zugleich unter die Macht des Jahrmarkt-Direktors Dark zu bringen, eines Wiedergängers des Illustrated Man (Der illustrierte Mann; 1951), um den herum Bradbury bereits zuvor eine Reihe unheimlicher Geschichten erfunden hatte.

Die Bände der Library of America sind nicht genug zu loben: Die Leinenbände mit Dünndruckpapier, solider Fadenheftung und Lesebändchen liefern sorgfältig edierte Texte zu einem mehr als vernünftigen Preis. Der Verlag ist ein Non-Profit-Unternehmen, das seine Ausgaben zum Teil aus den Verkäufen, zum Teil aber auch aus Spenden finanziert. In Deutschland sind die Bände nicht immer problemlos zu erreichen, und leider liefert der Verlag derzeit wieder einmal nicht direkt nach Europa. Es lohnt den Aufwand der Besorgung aber nahezu in jedem Fall. Die beiden Bradbury-Bände sind auch zusammen in einer Kassette zu bekommen und bieten eine hervorragende Möglichkeit einen der besten phantastischen Autoren des 20. Jahrhunderts zu entdecken.

  • Ray Bradbury: Novels & Story Cycles. The Martian Chronicles. Fahrenheit 451. Dandelion Wine. Something Wicked This Way Comes. LoA Bd. 347. New York: Library of America, 2021. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 887 Seiten. Listenpreis: 40.– $.
  • Ray Bradbury: The Illustrated Man. The October Country. Other Stories. LoA Bd. 360. New York: Library of America, 2022. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 979 Seiten. Listenpreis: 40.– $.

Anthony Burgess: Betten im Orient

Plötzlich, während er mit einem Streichholz nach den aufgequollenen Zigarettenkippen im Wasser des Aschenbecher stocherte, erschien ihm all dies als romantisch – der letzte Legionär, seine Einsamkeit, die aussichtslose Sache wirklich aussichtslos –, und instinktiv zog er den Bauch ein, strich sich, um den nackten Teil der Kopfhaut zu bedecken, übers Haar und wischte sich den Schweiß von den Wangen.

Der abschließende Teil der Malayan Trilogy erschien nur ein Jahr nach Der Feind in der Decke und schließt ohne präzise Zeitangabe an die Handlung des vorherigen Teils an. Die Handlung erstreckt sich nur wenig über den Unabhängigkeitstag der Föderation Malaya, den 31. August 1957 hinaus. Von einer konkreten, zusammenhängenden Handlung lässt sich in diesem Buch noch weniger sprechen als in den beiden vorhergehenden Teilen, das Figurenensemble ist noch lockerer miteinander verknüpft und der Protagonist Victor Crabbe erscheint nur noch als eine Figur unter anderen. Er ist nominell immer noch Leiter der staatlichen Schulbehörde des fiktiven Kleinstaates Negeri Dahaga, doch besteht seine Hauptaufgabe darin, seinen malaysischen Nachfolger einzuarbeiten und von diesem als Trouble Shooter benutzt zu werden. Als privates Projekt versucht er, dem jungen chinesischen Komponisten Robert Loo zum Durchbruch zu verhelfen, der allerdings parallel dazu eine erhebliche Wandlung durchläuft und schließlich ganz anders endet, als Crabbe sich das gewünscht hätte.

Parallel dazu werden die Geschichten einer außergewöhnlich gut aussehenden Lehrerin erzählt, die verzweifelt einen Traumprinzen zum Heiraten sucht, eines Polizei-Schreibers, der aus seinem Job gedrängt wird und den dafür verantwortlichen Kollegen mehrfach verprügelt, seines Sohns, der mit drei Freunden an einer versuchten Erpressung nur knapp vorbeischliddert, eines muslimischen Tierarztes, der versucht die Lehrerin zu heiraten, um den Heiratsplänen seiner Mutter zu ergehen, der gesamten malaysischen Gesellschaft, die von tiefen Vorurteilen der ethnischen Gruppen untereinander geprägt ist und schließlich auch der abziehenden Engländer, die durch US-Amerikaner ersetzt werden, um Malaya nicht den kommunistischen Revolutionären zu überlassen; viel Stoff für knapp 240 Seiten. Das Buch klingt aus mit einer milden Parodie auf Heart of Darkness, die die finale Bedeutungslosigkeit Victor Crabbes manifestiert.

Der Titel ist natürlich eine Anspielung auf Shakespeares Antony and Cleopatra, wobei das Zitat selbst mehrfach in Der Feind in der Decke vorkam, hier aber bis auf den Titel wohl absichtlich komplett fehlt. Man kann in dieser Trilogie bereits Burgess’ spätere, sehr souveräne Erzähler vorausahnen, ja es gibt bereits eine Stelle, wo sich der Autor erlaubt, die Leser direkt anzusprechen.

Ein in seiner gewollt musivischen Form sehr gelungener Ausklang dieses erstaunlich welthaltigen Erstlings.

Anthony Burgess: Betten im Orient. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  241 Seiten. 34,– €.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke

Bei Allah, seine Gläubiger waren hinter ihm her, oder ein Beilschläger, oder vielleicht seine Ehefrau. Im Orient ist die Auswahl begrenzt.

Der zweite Teil der Malayan Trilogy erschien 1958, zwei Jahre nach Jetzt ein Tiger. Die Handlung beginnt am 12. Februar 1956 als der Protagonist Victor Crabbe zusammen mit seiner Frau Fenella noch weiter in den Norden Malayas fliegt, um dort eine Stelle als Schulrektor anzutreten. Fenella ist etwas angekratzt, da sie am selben Tag erfahren hat, dass Victor eine Affäre mit einer Malaiin hatte, was ihren Drang, nach England zurück zu wollen, nicht gerade reduziert.

In Kenching, der Hauptstadt des fiktiven Staates Negeri Dahaga, erwartet sie niemand am Flughafen. So schlagen sich die Crabbes allein zur Stadt durch, wobei sie unterwegs zufällig auf Rupert Hardman treffen, einen alten Studienkollegen Victors, der sich in Kenching mehr schlecht als recht als Anwalt durchschlägt und der die zweite Hauptfigur des Romans werden wird. Hardman setzt sie am Haus von Victors Vorgesetztem Talbot ab, wo sie zuerst dessen Frau Anne kennenlernen, die ebenfalls eine wichtige Rolle im weiteren Verlauf der Handlung spielen wird.

Wie bereits im ersten Band werden auch diesmal mehrere Erzählstränge parallel erzählt: Victor Crabbe hat mit seinem Vizerektor zu kämpfen und steht außerdem im Zentrum des lokalen Klatsches. Er beginnt eine Affäre mit Anne Talbot, die ihn als einen von zwei möglichen Kandidaten für einen Ausstieg aus ihrer Ehe betrachtet. Fenella wird von einem malaiischen hohen Beamten umworben, was sie zu ganz ungekannten Höhen des Selbstbewusstseins führt. Rupert Hardman heiratet die reiche Witwe Normah, um seine finanziellen Probleme überwinden und sich endlich selbstständig machen zu können. Dass er zu diesem Zweck Muslim werden muss, nimmt er vorerst billigend in Kauf, es wird aber eine ärgere Belastung für ihn, als er erwartet hatte. Schließlich plant er seine Flucht aus Malaya und vor seiner Ehefrau auf einer Pilgerreise gen Mekka. Und noch einige andere Nebenstränge werden verfolgt.

Burgess, der zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon die komplette Trilogie konzipiert hatte, bekommt zum Ende des zweiten Bandes gerade noch ein etwas vages Gleichgewicht als Abschluss hin: Victor steigt als Nachfolger Talbots zum Chef des Schulamtes auf; es gelingt ihm zudem durch einen unfreiwilligen Akt des Heldentums die Gerüchte um seine kommunistische Gesinnung zu widerlegen. Zwar hat ihn Fenella verlassen, aber nach einem Durchgang durch Depression und Krankheit scheint er auch diesen Schlag überwunden zu haben. Derweil geht Malaya immer rascher seiner Unabhängigkeit und damit Victor seiner Überflüssigkeit entgegen.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  216 Seiten. 32,– €.

Wird fortgesetzt …

Thomas Bernhard: Die Autobiographie

… aber hier wird auf das Kopfschütteln, gleich auf welcher Seite und mag sie sich als die kompetenteste ansehen, keinerlei Rücksicht genommen.

Zwischen 1975 und 1982 sind fünf au­to­bio­gra­phisch unterfütterte Erzählungen von Thomas Bernhard erschienen, die 2004 innerhalb der Werkausgabe bei Suhrkamp erstmals in einem Band, dem Band 10 unter dem herausgeberischen Titel Die Autobiographie zusammengefasst wurden. Die Herausgeber dieses Bandes stellen selbst fest, dass der gewählte Titel nicht durch irgend eine Äußerung des Autors gestützt werden kann. Es soll hier nicht diskutiert werden, inwieweit dieser neue Titel und die neue Form die Wahrnehmung und das Verständnis dieser Erzählungen beeinflussen, denn dazu wäre als Vergleichsgröße eine Dokumentation des Verständnisses eines Lesers vonnöten, der die Erzählungen etwa kontinuierlich mit ihrem Erscheinen gelesen hätte; allein schon das wäre wohl weit von jeder Realisierbarkeit entfernt. Doch genug des Nominalstils.

Die Reihe der Erzählungen beginnt mit der Internatszeit Bernhards in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsmonaten in Salzburg. Der Ich-Erzähler leidet sowohl unter dem Regiment des faschistischen Direktors Grünkranz als auch seines katholischen Nachfolgers „Onkel Franz“. Dieser erste Band, Die Ursache. Eine Andeutung (1975) endet mit dem Entschluss des Erzählers das Gymnasium zu verlassen und eine Lehre bei einem Lebensmittel-Händler zu beginnen. Der Keller. Eine Entziehung (1976) knüpft direkt an dieses Ende an und verfolgt die Lebensgeschichte weiter bis zum Abbruch der Lehre durch eine Lungenerkrankung, die sich der Erzähler beim Abladen einen Fuhre Kartoffeln im Regen zugezogen hat. Der Atem. Eine Entscheidung (1978) berichtet vom sich anschließenden Klinikaufenthalt, Die Kälte. Eine Isolation (1981) von der nachfolgenden Kur. Der letzte Band Ein Kind (1982) springt chronologisch in die Zeit vor Die Ursache und beginnt mit einer Radtour, die der Erzähler als Achtjähriger ohne die Erlaubnis seiner Mutter nach Salzburg unternommen hat, auf der er aber verunglückt, ohne sein Ziel zu erreichen. Nimmt man den erzählerischen Anspruch für einen Moment ernst, so erzählt Bernhard hier sein Leben einigermaßen kontinuierlich zwischen dem achten und dem neunzehnten Lebensjahr nach.

Dabei sind alle fünf Erzählungen beherrscht vom Ton und der Geisteshaltung des erwachsenen Erzählers, seinem durchgehenden Ressentiment eines Außenseiters gegen die Gesellschaft, den Menschen schlechthin, die Österreicher und die Salzburger im speziellen, dem unvergessenen und unverziehenen Leid des von einem ambitionierten Großvater durch diverse Künste (Geigenspiel, Gesang, Malerei) getrieben Kindes, das zusätzlich unter dem Druck einer ihm in Hass-Liebe zugetanen Mutter leidet und keinen heimischen Ort in der Welt finden kann. Die Texte sind einerseits durchaus bewegend, andererseits in der typischen Bernhardschen Manier nervtötend und penetrant. Bernhard zelebriert in dem Kind und Jugendlichen, von dem er erzählt, seine Verletztheit, Einsamkeit und Misanthropie. Es fehlt diesen Büchern in weiten Teilen der sonst oft bei ihm vorherrschende bissige oder auch zynische Humor, der hier ersetzt wird durch ein eher unverstelltes, aber distanziert geschildertes Mitleid mit sich selbst als Kind. Diese größere Unmittelbarkeit sollte einen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch diese Texte hoch stilisiert sind, dass die permanenten Wiederholungen, Reformulierungen und Variationen (die durchaus auch als musikalisches Element verstanden werden können) eine mehrfache Überschreibung des Erinnerten durch einen dies Erinnern instrumentalisierenden Erzähler darstellen.

Die fünf Erzählungen bilden einen guten Einstieg in den Bernhardschen Kosmos: Wer ausprobieren möchte, ob er mit Bernhards Stil zurecht kommt, kann es mit irgendeinem der Bände probieren; vielleicht ist Die Ursache der beste Prüfstein. Es ist aber nicht notwendig, bei der Lektüre die innere Chronologie oder die der Veröffentlichung einzuhalten.

Thomas Bernhard: Die Autobiographie. Werke Bd. 10. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen. 582 Seiten. 42,– €.