Jahresrückblick 2015

Auch für das vergangene Jahr die Höhen und Tiefen der Lektüre in einem kurzen Überblick diesmal mit einer sich zufällig ergebenden Aufteilung zwischen Belletristik und Sachbuch.

Die drei besten Lektüren des Jahres 2015:

  1. Philip Roth: Der menschliche Makel – ein sehr fein gearbeiteter Roman über grobe Vorurteile und die Macht des moralischen Klatsches.
  2. William Faulkner: Absalom, Absalom! – einer der ganz großen US-amerikanischen Romane des 20. Jahrhunderts über Folgen des Rassismus und anderer Lügen.
  3. Henry James: Die Gesandten – subtile Neuübersetzung eines der bedeutenden Spätwerke Henry James’, in dem beinahe nichts passiert und sich dennoch alles ständig in Bewegung befindet.

Die drei schlechtesten Lektüren des Jahres 2015:

  1. Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit – ein gutes Beispiel dafür, wie man mit einem halbverstandenen und gar nicht durchdachten Konzept die Welt nicht begreifen kann.
  2. Hazel Hutchison: Henry James – eines der schlampigsten Bücher, das ich je in der Hand gehabt habe: Inhalt, Übersetzung und Lektorat sind indiskutabel.
  3. Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution – ein weiteres Exemplum für ein schludriges Sachbuch eines eigentlich versierten Historikers, das auf ein breites Publikum abzielt, das es ohnehin nicht besser weiß.

Hazel Hutchison: Henry James

Hutchison-JamesWie an anderer Stelle bereits erwähnt, erfährt Henry James im Vorfeld der 100. Wiederkehr seines Todestages eine kleine Renaissance in Deutschland. Dazu gehört auch die Veröffentlichung einer kurzen, populären Biographie beim Parthas Verlag. Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Englischen, und das Elend mit dem Buch beginnt bereits im Impressum, dem nicht zu entnehmen ist, wann und wo das Original einst erschienen ist (London: Hesperus Press, 2012). Die Autorin Hazel Hutchison ist, so der Waschzettel, „spezialisiert auf die Literatur des 19. Jahrhunderts“, eine Behauptung, die ich nicht per se in Zweifel ziehen will, … Für diese kurze Biographie wenigstens hat sie annähernd genug gelesen. Insgesamt kann man unempfindlicheren Lesern das Buch durchaus in die Hand geben, bei sensibleren Naturen würde ich davon abraten.

Das Buch ist eine jener Komplettkatastrophen, die nur selten in dieser Reinheit zutage treten: Die Autorin verfügt entweder nicht über ausreichend Bildung für das, worüber sie schreibt, oder sie hat schlicht schlampig gearbeitet, das Deutsch der Übersetzerin ist schlecht und ihre Übersetzung zumindest an einigen Stellen schlicht falsch und schließlich liegt auch noch ein Totalversagen der Lektorin vor, deren Namen der Verlag – vielleicht zur Strafe? – im Impressum ausdrücklich anführt.

Beginnen wir mit der Autorin: Mag es gerade noch so angehen, William Makepeace Thackeray als „comic novelist“ zu charakterisieren, so ist es ganz sicher falsch, jenes Fort, dessen Beschießung den Beginn des Amerikanischen Bürgerkriegs markiert, Fort Summer zu nennen (das allerdings könnte auch auf die Kappe von Übersetzerin oder Lektorin gehen; ich habe die Originalstelle nicht ansehen können) und es nach North, statt richtig nach South Carolina zu verlegen. Auch die Behauptung, der 14-jährige Henry James habe Gemälde der Präraffaeliten in der Londoner National Gallery gesehen, bezeugt die weitgehende Ahnungslosigkeit der Autorin, was die allgemeine Kultur des 19. Jahrhunderts angeht. (Es mag durchaus sein, dass James bereits um 1857 Bilder der Schule angeschaut hat, aber wenn, dann in der Royal Academy; die Sammlung der National Gallery enthielt zu dieser Zeit noch gar keine zeitgenössischen Werke.) Auch, dass sie zu faul ist nachzuschlagen, wie alt Turgenjew im November 1875 war, als James ihn kennenlernte, und sich mit einem nicht nur ungefähren, sondern einfach falschen „um die fünfzig“ begnügt, wirft kein gutes Licht auf das Buch.

Es ist durch die Übersetzung nicht besser geworden: Bereits die Übersetzung der oben erwähnten Phrase vom „comic novelist“ mit „Komödiendichter“ ließ mich Arges befürchten, aber dies ist nur der Auftakt zu einer ganzen Bonanza von Rechtschreibfehlern, willkürlich gesetzten oder weggelassenen Kommas, fehlenden Apostrophen, adjektivisch gebrauchten Adverbien, grammatikalisch falschen Konstruktionen, falschen „dass“, unglücklichen Übersetzungen Falscher Freunde und gröbsten stilistischen Schnitzern, dass es bald aufhört, ärgerlich zu sein, und sich der Leser köstlich über die schiere Menge an Patzern zu amüsieren beginnt.

All dies hätte durch das Lektorat aufgefangen werden müssen, doch ist dies nicht nur nicht geschehen, die Lektorin hat ihren Beitrag zum Gelingen der vollständigen Katastrophe geleistet: So teilt uns etwa der Text mit, dass sich das Ehepaar Edith und Teddy Wharton 1905 ein Automobil zugelegt hatte, in dem herumkutschiert zu werden, Henry James offenbar großen Spaß bereitete. Auf der gegenüberliegenden Seite wird dies illustriert durch ein Bild, das das Ehepaar Wharton und Henry James angeblich 1904 in dem betreffenden Automobil zeigt. Auf S. 82 bekommen wir ein kleines Porträt-Bild von Constance Fenimore Woolson zu sehen, das sie im Jahre 1887 zeigt; ergänzend bringt S. 101 ein nahezu identisches Bild angeblich aus dem Jahr 1890. Hinzukommen falsche Worttrennungen, und sogar einer der heute so selten gewordenen Zwiebelfische hat es ins Buch geschafft.

Kurz gesagt: Mir ist seit Jahren kein so durch und durch schlampig gemachtes Buch mehr in die Hand gekommen. Mag sein, hier wurde ein neuer Standard begründet!

Hazel Hutchison: Henry James. Übersetzt von Ute Astrid Rall. Berlin: Parthas, 2015. Pappband, 224 Seiten. 24,80 €.

P.S.: Noch ein Detail am Rande: Das Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek unter dem falschen Autorennamen Hutchinson erfasst. Vielleicht wird es ja so gnädigerweise unauffindbar.