Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise

Es sind [/] Nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten.

Ich kehre immer wieder staunend zu Lessing zurück. Der Nathan war direkt nach dem Goetheschen Werther einer meiner Ini­tia­tions­tex­te für das, was ich später „Klassiker“ zu nennen gelernt habe. Das frühe „Potztausend!“ (Friedrich Schlegel) differenzierte sich während des Studiums ein wenig aus, und über die Jahre hin habe ich immer und immer wieder die eine und andere Inszenierung auf der Bühne angeschaut (zuletzt eine, die nicht nur nicht lustig, sondern auch gänzlich ohne Witz war), stets in der Hoffnung, es würde sich eine oder einer an dem Text bewähren; das Beste, was ich zu sehen bekam, war ein Bühnenbild. Aber ich gebe zu: Es ist sehr schwierig, dem Stück gerecht zu werden.

Die Schwierigkeiten beginnen schon auf dem Titelblatt: Obwohl der Nathan offenbar eine Komödie (in Lessings Deutsch ein „Lustspiel“) darstellt und als solche inszeniert werden muss, merkte Lessing wohl, dass es mit dieser Einordnung nicht so einfach gehen dürfte. Zu ernst sind die verhandelten Probleme, zu wenig komisch die Dialoge, zu gesucht und künstlich (und fragil, aber dazu später) das Komödienende, selbst wenn die Inszenierung Lessings mühevolle Vorbereitungen dazu nicht kürzen sollte; und kürzen muss sie irgendwo (wenn auch nicht gleich auf 100 Minuten, wie zuletzt), wenn sie in den dem heutigen Publikum zumutbaren Grenzen bleiben will. Als Warnschild stellt Lessing deshalb die Gattungsbezeichnung „Ein dramatisches Gedicht“ voran, als zweifle er selbst daran, dass er ein Schauspiel für die Bühne geschrieben habe.

Als nächstes haben wir höchst anspruchsvolle Charaktere: Außer der Titelfigur ist keiner ohne Fehl und Tadel, alle hegen Vorurteile, handeln rasch und unüberlegt, lassen sich von Einfällen und Leidenschaften hinreißen. Am schlimmsten ist vielleicht die Figur des Patriarchen von Jerusalem, ein Fanatiker („Tut nichts! der Jude wird verbrannt.“ IV/2, V. 168 u. ö.), der überhaupt nur einmal leibhaftig auftritt, aber als Da­mo­kles­schwert das Schicksal Nathans und Rechas bedroht. Man denke: Das Oberhaupt der Christenheit in Jerusalem als der heimliche Bösewicht des Stücks und dagegen ein Muselman (wenn der auch erst noch ein wenig geläutert werden muss) und ein Jude als Repräsentanten einer ver­nunft­be­stimm­ten Humanität. Und auch sonst ist fast alles Vorurteil, Intrige und Vorteilsnahme; es ist ein Wunder, dass das Stück überhaupt zu seinem versöhnlichen Ende kommt.

Und dieses Ende ist nicht leicht zu glauben: Statt des einen Ge­schwis­ter­paars (Saladin und Sittah) stehen nun plötzlich deren zwei (Recha und der Tempelherr) auf der Bühne und sollen zudem auch noch untereinander miteinander verwandt sein als Onkel und Tante und Neffe und Nichte. Und der in Liebe entflammte Tempelherr wird von jetzt auf gleich ein liebevoller Bruder, und die Familienbande überlagern alle religiösen Konflikte, die doch gar nicht gelöst wurden. Und am ärgsten: Die neu gewonnene Harmonie schließt Nathan gar nicht ein, der zwar als Stifter der Familienbande glänzt, aber im gegenseitigen Erkennen ganz außen vor bleibt. Wenn’s denn bedeuten soll, dass alle Menschen und immer schon heimlich Brüder und Schwestern einander sind und waren und die Religionen nur die Tünche über den wirklich bedeutenden Verbindungen, warum bleibt dann gerade der weise Jude außen vor? (Ich sehe es vom Dramaturgischen her schon ein: Das Ende ist auch so schon un­wahr­schein­lich genug, aber dennoch …).

Und vom Fragmenten-Streit, der zu alle dem den fernen Hintergrund bildet, haben wir da noch gar nicht geredet.

So bleibt das Stück ein Meisterwerk an Sprache und Gehalt, doch wacklig konstruiert, und sein Weg am dramaturgischen Abgrund entlang verlangt ein sorgsam bedachtes und in jeder Einzelheit beherrschtes Spiel. Dieser Anspruch geht offenbar über das hinaus, was heutiges Theater will und kann. Daher habe ich eine politische Inszenierung nach der anderen gesehen, die von Text und Absicht des Stückes einfach nicht getragen wurden, habe Kürzungen erlebt, die das Ende ganz zuschanden machten. Da saß dann ein ahnungsloses Publikum und lachte Lessing aus statt jener, die für das Scheitern verantwortlich waren und es am Ende wohl auch gewollt haben. Mag sein, Lessing ist tatsächlich nicht mehr für unsere Zeit, doch das sagt nichts Gutes über unsere Zeit.

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. In: Derselbe: Werke und Briefe. Bd. 9: Werke 1778–1780, S. 483–627. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1993. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen. 1383 Seiten. Nicht mehr im Druck.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson

Kurzbiographie Johnsons in seinem Hausverlag von einer ausgewiesenen Kennerin des Autors. Das Buch ist in drei Abschnitte geteilt: Leben (ca. die Hälfte des Textes), Werk (ein weiteres Drittel) und Wirkung. Es folgt ein Anhang mit Zeittafel, Bibliographie und Personen- sowie Werkregister.

Inhaltlich ist das Buch unter Berücksichtigung des geringen Umfangs tadellos, wenn auch das Leben etwas weichgezeichnet erscheint; Johnsons Fremdheit in Gesellschaft, seine rigorose, auf andere oft verstörend wirkende Rechthaberei oder sein Alkoholismus kommen zwar vor, aber wohl dosiert und abgemildert. Von daher ist das vermittelte Bild nicht ganz richtig, ganz falsch ist es aber eben auch nicht.

Was die Darstellung des Werks angeht, so gibt es kaum etwas einzuwenden; eine bessere Kurzdarstellung aller Aspekte von Johnsons Schreiben kenne ich einfach nicht. Im Abschnitt Wirkung gibt es das zu erwartende Maß von allgemeinem Geschwätz des Sowohl-Als-auch gemischt mit einigen wenigen handfesten Informationen; da ist ein Querlesen vollständig ausreichend.

Die Seiten des Bandes sind recht angenehm gestaltet: Fotos werden in Maßen eigesetzt, die Darstellung des Haupttextes unterstützende Zitate aus Primär- und Sekundärtexten sind in grau hinterlegten Kästen in den Fließtext eingefügt. Auf Fuß- oder Endnoten wird komplett verzichtet.

Insgesamt ersetzt oder ergänzt der Band die inzwischen in die Tage gekommene Rowohlt-Monographie von Jürgen Grambow (1997). Für eine rasche und überblickende Information gut geeignet.

Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson. sb 47. Berlin: Suhrkamp, 2010. Broschur, 158 Seiten. 8,90 €.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember

In dieser Atmosphäre war es nicht überraschend, dass die Nachfrage nach der Reparatur von Radioapparaten, die durch ständiges Drehen an den Knöpfen auf der Suche nach einem besseren Empfang beschädigt worden waren, deutlich zunahm.

Nach dem Erfolg von Simms Hitler-Biographie liefert DVA nun auch sein neues Buch über die kurze Zeitspanne zwischen dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und Hitlers Kriegserklärung an die USA nach. Zusammen mit seinem Kollegen Charlie Laderman vollzieht er in minutiöser Darstellung auf knapp 550 Seiten die Entwicklung nach, die letztendlich zum Kriegseintritt der USA auch in Europa führte. Auch Vor- und Nachgeschichte werden kurz umrissen, aber im Großen und Ganzen konzentriert sich das Buch auf das, was der deutsche Titel nahelegt (in diesem Fall ist es einmal zu begrüßen, dass der Verlag auf die Übernahme des amerikanischen Titel Hitler’s American Gamble verzichtet hat).

Bei der kleinteiligen Darstellung des Buches, die sich von den Entscheidungen und Strategien der Führungsspitzen bis hin zur Meinung der Frau und des Mannes auf der Straße erstreckt und sich, wenn auch nicht in gleichem Umfang, allen Kriegsschauplätzen und beteiligten Nationen widmet, sind Redundanzen selbstverständlich unvermeidbar. So erfahren wir zum Beispiel immer und immer wieder, dass sich neben anderen Winston Churchill, Roosevelt, Stalin, Hitler, zahlreiche Diplomaten und Beamte sowie befragte US-Amerikaner Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen der Angriff der Japaner und der Krieg im Pazifik auf die Hilfslieferungen der USA für Großbritannien und die Sowjetunion im Rahmen des Lend-Lease-Programms haben werden. Und da dies Roosevelt, Churchill und ihre Berater sowie zahlreiche andere Protagonisten über die ganzen fünf Tage hinweg kontinuierlich beschäftigt, lesen wir es auch unzählige Male. Andererseits halten sich die Autoren mit summarischen Urteilen und Zusammenfassungen eher zurück, die nur im ersten und letzten Kapitel ein größere Rolle spielen, was ein sehr an den historischen Ereignissen und ihrer unmittelbaren Einschätzung entlanggeführtes Bild ergibt.

Wer sich in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges einigermaßen auskennt, kann getrost auf die Lektüre der ersten beiden (der Angriff auf Pearl Harbour beginnt auf Seite 169!) und des letzten Kapitels verzichten. Für alle, die interessiert sind, mit welcher Genauigkeit sich historische Abläufe des 20. Jahrhunderts rekonstruieren lassen, sicherlich eine nicht nur inhaltlich spannende Lektüre.

Brendan Simms / Charlie Laderman: Fünf Tage im Dezember. Von Pearl Harbour bis zur Kriegserklärung an die USA – Wie sich 1941 das Schicksal der Welt entschied. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. München: DVA, 2021. Pappband, Lesebändchen, 638 Seiten. 32,– €.

Jahresrückblick 2020

Das Lesejahr 2020 war zum Glück überwiegend positiv. Es waren eigentlich nur zwei Titel, bei denen ich die Lesezeit tatsächlich bereut habe:

  • August Lafontaines Quinctius Heymeran von Flaming wurde aufgrund einer späten Empfehlung Arno Schmidts erneut ediert. Das Buch selbst ist höchstens in historischer Perspektive von Interesse, an sich handelt es sich nur um routiniert geschriebene Unterhaltungsliteratur des 18. Jahrhunderts.
  • Orlando Figes’ Die Europäer ist ein weiteres oberflächliches, populär geschriebenes Buch aus der Feder eines Historikers, der es eigentlich besser wissen sollte.

Dem standen zahlreiche gute Lektüren gegenüber:

  • George Eliots Middlemarch hat das Lesejahr sicherlich überstrahlt: Der Roman, gegen den ich lange Zeit unbestimmte Vorbehalte gehegt hatte, erwies sich in der Neuübersetzung von Melanie Walz als eine große, humorvolle und realistische Erzählung, die die Literatur ihrer Zeit souverän überblickt.
  • Salman Rushdies Quichotte hat mich, nachdem ich eine Zeit gebraucht hatte, mich einzulesen, wahrhaftig überwältigt. Ein grandioser und phantasievoller moderner Roman von einem der wirklich großen Erzähler unserer Zeit.
  • Hinzu kommen die Fortsetzung der Dostojewskij-Lektüre mit Böse Geister und dem mich weniger überzeugenden Ein grüner Junge sowie die Lektüre der restlichen drei Bände der Serapionsbrüder E. T. A. Hoffmanns. Auch bei diesen Autoren wird die systematische Lektüre sicherlich fortgesetzt werden.
  • Als interessante Entdeckung standen am Ende des Jahres zwei Texte von Marguerite Duras, von der ich sicherlich noch das eine oder andere lesen werde.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming

Diese Lektüre bedarf einiges an Erläuterungen. August Heinrich Julius Lafontaine (1758–1831) war ein Massenschriftsteller der Goethe-Zeit, der seine Romane in serieller Produktion schrieb. Er hatte einen ungeheuren Erfolg beim Publikum, wurde aber von den Kritikern, wenigstens von jenen, die wir auch heute noch lesen, im besten Falle als ein Trivialautor, im schlimmsten als ein Schreiberling unterster Kategorie angesehen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er zu Recht weitgehend vergessen; dennoch ist das vorliegende Buch ein Nachdruck aus dem Jahr 2008 und in einer – wenigstens damals noch – halbwegs prominenten Buchreihe erschienen, den Haidnischen Alterthümern.

Bei den Haidnischen Alterthümern handelt es sich um eine in lockerer Folge herausgegebene Reihe von Büchern, die allesamt auf Hinweise Arno Schmidts zurückgehen. Schmidt hatte Mitte der 1950er Jahre damit begonnen, für den Südfunk Stuttgart, für den Alfred Andersch damals als Redakteur tätig war, sogenannte Nachtprogramme zu schreiben. Es handelte sich um dialogisch aufbereitete Essays zur Literatur, die spät abends gesendet wurden. Damals war die Arbeit für den Rundfunk für die meisten Schriftsteller recht attraktiv, da die Funkhäuser vergleichsweise gut bezahlten. Schmidt, dessen eigene Werke zwar Anerkennung bei Kritik und Kollegen fanden, sich aber nur schleppend verkauften, war auf Brotarbeiten wie Übersetzungen, Texte fürs Feuilleton oder eben auch die Nachtprogramme für den Funk dringend angewiesen.

Die Aufmachung der 2. Serie
der Haidnischen Alterthümer

Für die Funk-Essays griff Schmidt auf seine breite Lektüre der Belletristik des 18. und 19. Jahrhunderts zurück und konnte auf einige Autoren und Werke hinweisen, die damals halbwegs oder weitgehend vergessen waren. Als Schmidt dann nach dem Erscheinen von Zettel’s Traum (1970) auch für ein etwas breiteres Publikum zu einem Gerücht geworden war, wurden 1978 die Haidnischen Alterthümer begründet, die angeblich die Lieblingsbücher Arno Schmidts herauszubringen gedachten. Man könnte über diesen Anspruch nun Band für Band diskutieren, aber dafür ist hier kaum der richtige Platz. Wie dem auch sei: Es erschienen in 30 Jahren insgesamt 16 Titel, für die sich allesamt eine Empfehlung Arno Schmidts konstruieren ließ.

Im Jahr 2008 fand die Reihe dann ihr Ende mit dem hier besprochenen Roman. Schmidt hatte 1965 einen entsprechenden Funk-Essay verfasst, der den etwas merkwürdigen Titel Eine Schuld wird beglichen trug. Anlass dafür war, dass sich Schmidt in seiner umfangreichen Biographie über den Romantiker Friedrich de la Motte Fouqué dem Urteil der Zeitgenossen folgend über August Lafontaine abfällig geäußert hatte. Angeblich hatte er damals auch drei von dessen Romanen gelesen und für schlecht befunden. Nun aber habe er sich eines Besseren belehrt, weitere Romane konsumiert und müsse Abbitte leisten: So schlecht seien Lafontaines Romane gar nicht gewesen. Ganz am Ende bespricht Schmidt dann auch für einige Minuten eben jenen Quinctius Heymeran von Flaming, der es deshalb zur Ehre eines Nachdrucks gebracht hat.

Der vierbändige Roman vom Ende des 18. Jahrhunderts umfasst 1.200 Seiten, auf denen leider nicht viel mehr steht, als bequem auch auf 300 gepasst hätte. Erzählt wird eine endlose Abfolge von Liebeshändeln, wobei Lafontaine auf dem Rücken dieses Stroms von Ge- und Missverständnissen eine milde Satire auf einige gelehrte Theorien seiner Zeit transportiert. Der Titelheld, der aus einem shandyianischen Adels-Haushalt stammt, dessen Hausherr besessen über seine Ahnenreihe dilettiert, eignet sich auf der Universität eine obskure Rassentheorie an, mit der er nun die Welt interpretiert und dabei natürlich aufs Vortrefflichste scheitert. Es wird unsäglich viel geweint – der Beweis der Echtheit der Gefühle in der bürgerlichen Literatur der Zeit – und geschwätzt, die Missverständnisse und ihre Auflösung sind sehr trivial und vorhersehbar. Auch der Humor, den man dem Buch durchaus nicht absprechen kann, reicht nur für den ersten Band aus; danach ist es wie auf der Rückreise von einer Kaffeefahrt: Man ist sicher, dass man jede mögliche Pointe schon mindestens zweimal gehört hat.

Es handelt sich bei diesem Buch um ganz gewöhnliche Unterhaltungsware des späten 18. Jahrhunderts, wie sie so seitdem in ungebrochener Tradition den Buchmarkt betritt und wieder verlässt. Der dünne satirische Anstrich hebt das Buch zwar ein wenig über die Masse hinaus, doch macht sich hier nur einer über ganz offensichtlichen Unfug der Anthropologen seiner Zeit lustig, ohne dabei wirklich das Niveau eines originellen und freien Denkens zu erreichen. Lafontaine steckt im Gegenteil ganz tief in der bürgerlichen Moral seiner Zeit fest und bedient letztlich die entsprechenden Vorurteile zuverlässig. Auch sind die meisten seiner Figuren gänzlich eindimensional und verfügen ausschließlich über Charakterzüge, die dem Verlauf der Handlung dienlich sind. Einzig die Mutter Flaming ist ihm ein wenig menschlich geraten; er wusste also schon, was er da treibt.

Mit Blick auf Arno Schmidt und seine banal-psychoanalytische Sprachtheorie – „Das’ss ja heutzutage bekannt genug, daß jeder Könner zu seinem Können grundsätzlich åuch noch ’ne gänzlich zwecklose Theorie hinzuerfindn muß.“ – ist es nicht unwitzig, dass er einen Roman in den Druck zurückgelobt hat, dessen Protagonist mit einer kruden, selbstgezimmerten Theorie durch die Welt läuft, mit der er überall nur Celten, Mongolen, Slaven und Neger wahrnimmt, aber nicht in der Lage ist, die Realität oder Individualität seiner Mitmenschen zu erfassen.

Wer sich einen Eindruck verschaffen will – auch weil das Buch in die in Deutschland nur dünn besetzte Epoche der Empfindsamkeit gehört – kann getrost nach der Lektüre des zweiten der ursprünglichen vier Bände aufhören; ich selbst habe die letzten 450 Seiten nur mehr quer gelesen.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2008. 2 Pappbände mit Leinenrücken, Silber-Kopfschnitt, Lesebändchen, 632 + 822 Seiten. 39,90 €.

„Verrückt nach Karten“

Von Zeit zu Zeit fällt einem doch wieder einmal ein rundum gelungenes Buch in die Hand! Dieser großformatige Band (ein wenig über DIN A4) widmet sich dem Zusammenhang zwischen Kartographie und Literatur, also nicht nur dem Phänomen der fiktiven Karten, sondern auch dem der geographischen Karten, die zu Stoff für die Phantasie von Autoren wurden oder die selbst ihre weißen Flächen mit erfundenen Kontinenten, Inseln, Ländern und Bewohnern angefüllt haben. Er ist üppig bebildert und enthält zahlreiche locker geschriebene, gut lesbare und interessante Essays, die sich von ganz verschiedenen Richtungen aus dem zentralen Thema annähern: So eröffnet der Herausgeber Huw Lewis-Jones den Band mit einem ausführlichen Gang durch den Teil der englischsprachigen Literatur, der auf die ein oder andere Weise mit der Kartographie verbunden ist; es folgen dann Autoren der phantastischen Literatur, Zeichner phantastischer Karten (darunter Daniel Reese, der die Karten für die Herr-der-Ringe-Verfilmungen von Peter Jackson gezeichnet hat), Leserinnen und Leser (so etwa die witzige und immer originelle Sandi Toksvig, die durch die durch und durch englische Quizshow QI endgültig zur Berühmtheit geworden ist), ja es findet sich mit Roland Chambers sogar ein Illustrator, der die durchaus weit verbreitete Furcht vor Karten thematisiert.

Der Band ist zu stundenlangem staunenden Blättern ebenso gut wie zur unterhaltendsten Lektüre, die selbst wieder Anlass werden wird zu eigenen Entdeckungen und neuen Lektüren. Als deutschsprachiger Leser wünschte man sich natürlich, dass auch die eigene Literatur vorkäme, so etwa Arno Schmidt mit seinen selbstgezeichneten Karten und Skizzen oder auch Heimito von Doderer mit seinen riesigen Wandplänen, auf denen er die Welt seiner Figuren entworfen hat. Aber man kann nicht alles haben.

Es ist noch ein wenig früh für Geschenktipps zum Fest: Aber mit diesem Buch macht man allen Freunden gleich welchen Literaturgenres eine Freude. Ein ideales Geschenk für sich und andere!

Huw Lewis-Jones (Hg.): Verrückt nach Karten. Aus dem Englischen von Hanne Henninger. Geniale Geschichten von fantastischen Ländern. Darmstadt: wbg Theiss, 2019. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 256 Seiten. 34,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (118)

Unser Publikum ist noch so jung und einfältig, daß es eine Fabel nicht versteht, wenn es am Schluß keine Moral findet. Es errät keinen Scherz, spürt keine Ironie; es ist einfach schlecht erzogen. Es weiß noch nicht, daß in anständiger Gesellschaft und in einem anständigen Buch offenkundiges Schimpfen keinen Platz finden darf; daß die gegenwärtige Bildung eine schärfere, nahezu unsichtbare und nichtsdestotrotz tödliche Waffe erfunden hat, die, im Gewande der Schmeichelei, den unabwendbaren und sicheren Schlag versetzt. Unser Publikum gleicht einem Provinzialen, der, da er das Gespräch zweier Diplomaten belauscht hat, die einander feindlichen Höfen angehören, versichert bleibt, daß jeder der beiden seine Regierung hintergeht zugunsten ihrer gegenseitigen, zärtlichsten Freundschaft.

Michail Lermontov
Ein Held unserer Zeit

Allen Lesern ins Stammbuch (112)

Vieles Lesen macht stolz und pedantisch; viel sehen macht weise, verträglich und nützlich. Der Leser baut eine einzige Idee zu sehr aus; der andere (der Weltseher) nimmt von allen Ständen etwas an, modelliert sich nach allen, sieht, wie wenig man sich in der Welt um den abstrakten Gelehrten bekümmert, und wird ein Weltbürger.

Georg Christoph Lichtenberg
Sudelbücher (H 30)

Stephen Leacock: Nonsense Novels

Indessen strich der Monat, welcher Lord Ronald vom Earl zugemessen worden, dahin. Es war bereits der 15. Juli, dann ein, zwei Tage später war’s der 17. Juli, und beinahe unmittelbar darauf der 18. Juli.

Stephen Leackock dürfte in Deutschland allgemein so unbekannt sein, wie er mir war. Leacock wurde 1869 in Südengland geboren und wanderte als Sechsjähriger mit seiner Familie nach Kanada aus. Dort erhielt er eine hervorragende Ausbildung, schlug sich als Lehrer durchs Studium zuerst der Sprachen, dann der Politologie, in der er auch seinen Studienabschluss machte. Ab 1908 hatte er ein Professur in Montreal für Politologe und Ökonomie inne; sein Buch Elements of Political Science (1906) wurde zu einem internationalen Standardwerk des Fachs. Als belletristischer Schriftsteller begann Leacock bereits während seiner Studienzeit zu arbeiten; sein Œuvre umfasst humoristische Erzählungen, Essays, sozialkritische Romane und Biografien (über Mark Twain und Charles Dickens). In den zwanziger Jahren wurden einige seiner Bücher auch ins Deutsche übersetzt (Kurt Tucholsky rezensierte ihn lobend), aber das Interesse an ihm wurde nach dem Zweiten Weltkrieg offensichtlich nicht wiederbelebt.

Ich selbst bin jetzt durch die Übersetzung eines seiner Büchlein durch Friedhelm Rathjen auf ihn gestoßen. Die Nonsense Novels (Erstausgabe 1911) sind eine Sammlung literarischer Genre-Parodien, die sich über Ton und Stoffe der Trivialliteratur des späten 19. Jahrhunderts lustig machen, vom Sherlock-Holmes-Roman und der unheimlichen Novelle über die romantische Erzählung von ritterlicher Liebe, dem Gouvernanten-Schicksal- und Seefahrer-Roman bis hin zum Zukunfts-Roman à la H. G. Wells. Diese letzte Parodie lässt mit ihrem Hohelied auf Mühe und Arbeit allerdings etwas zu sehr den Ökonomen Leacock durchblicken.

Die Parodien leben durchweg von der bizarren Übersteigerung der Tendenzen ihrer Vorlagen, so dass der Titel der Sammlung den Ton des Buches recht gut trifft. Rathjen baut den exaltierten Stil Leacocks hübsch nach, so dass auch der deutschsprachige Leser in den vollen Genuss dieses literarhistorischen Nonsens kommt.

Stephen Leacock: Nonsense Novels. Übersetzt und hg. von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2018. Bedruckter Pappband, 140 Seiten. 35,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Allen Lesern ins Stammbuch (111)

Besonders ist, daß unsere Dichter von unsern vernünftigen, Leuten von Stand nicht mit Vergnügen gelesen werden. Der Fehler kann unmöglich in unserm Publikum liegen, er liegt sicherlich in unsern Dichtern, es sind meist junge oder alte Knaben, die im Zirkel unerfahrner Bewunderer aufgewachsen sind, und daher nicht zunehmen können. Wer nicht zu gewissen Jahren oft in Gesellschaft war, wo er nicht die erste Rolle spielte, und seine Kräfte in einer Spannung sein mußten, um nicht eine üble Meinung von sich zu erwecken, wird gewiß ein Tropf werden und das sind gewiß allemal 9 unter 10 unserer gerühmten Dichter. Der Mann der Welt kann nichts von ihnen lernen, er übersieht sie, so wie das handlungsvollste Schauspiel auch noch Bemerkungen enthalten muß, die selbst den Denker bei der Lampe beschäftigen können müssen, so kann selbst die Ode indem sie die Einbildung mit Bildern hinreißt wie das Licht einen, dem der Star jetzt ausgezogen worden, tiefe Bemerkungen enthalten, die den Mann von Überlegung wenn der Rausch verfliegt beschäftigen können. Aber mein Gott wie kann der etwas sagen der nichts weiß?

Georg Christoph Lichtenberg
Sudelbücher (F 613)