Uwe Timm: Rot

Bald […] werden die Herbstbilder Pegasus, Fische und Walfisch gut zu sehen sein. Und in dem Walfisch ist der [τ] Cet, der unserer Sonne so ähnlich sein soll, weil auch er Planeten hat. Vielleicht das wahre Utopia, ohne angemaßte Herrschaft, ohne unnötiges Leid, das würde schon reichen.

timm-rotEin außergewöhnlich gut konstruierter und detailreicher Roman über den Abschied von den Idealen der 68er-Studentbewegung; für die eine oder den anderen dürfte er vielleicht sogar ein wenig zu konstruiert sein. Der Ich-Erzähler Thomas, ein Alt-68er, der im bürgerlichen Leben nie recht Fuß gefasst hat, liegt buchstäblich auf der Straße, die er bei Rot überquert hatte, weshalb er angefahren wurde. Wahrscheinlich stirbt er während des Erzählens und färbt mit seinem Blut die Straße unter sich; neben ihm liegt ein Päckchen Sprengstoff, das gerade aus seiner Aktentasche gefallen ist.

Beruflich ist Thomas Grabredner, einer jener, die gebeten werden, in den Fällen über dem Toten zu sprechen, wenn keine der Konfessionen sich als zuständig betrachtet oder vom Toten gern gesehen würde. Und so hält Thomas in seinen letzten Minuten auf Erden eine Grabrede auf sich und seine ehemaligen Freunde aus der Studentenbewegung: Zum Beispiel Edmond und Vera, die aus der Frankophilie Edmonds einen lukrativen Weinimport gemacht und sich als neureiche Alkoholiker in einer Neubau-Villa niedergelassen haben. Die Ehe kriselt, Vera ist im Entzug, Edmond sitzt im von seiner Frau leergeräumten Haus, säuft Wein aus dem Suppenteller und schlägt seinen Kopf vor die Wand. Oder Krause, der mit Lisa, einer Norwegerin, in Mecklenburg-Vorpommern in ländlicher Idylle mit Streuselkuchen und Schlagsahne lebt. Beide sind Lehrer, und Krause betreibt nebenbei ein Antiquariat, das auf die Theorie der Studentenrevolution spezialisiert ist.

Am wichtigsten aber ist Aschenberger, der gerade verstorben ist und Thomas testamentarisch als seinen Grabredner verpflichtet hat. Auch Aschenberger scheint sich bürgerlich etabliert zu haben – er hat bei seiner Heirat den Namen seiner Frau angenommen und heißt nun Lüders. Er verdient sein Geld mit alternativen Stadtführungen durch Berlin, lebt in einer mit Büchern vollgestopften Wohnung und plant einen letzten großen Coup: Er will die Berliner Siegessäule als Symbol der missratenen deutschen Geschichte in die Luft sprengen und sich anschließend der Polizei stellen. Aus seinem Nachlass stammt der Sprengstoff, der Thomas bei seinem Unfall aus der Tasche gefallen ist.

Die Wiederbegegnung mit Aschenberger setzt Thomas sichtlich zu, der selbst sich vor einigen Jahren nach einer Midlife-Crisis radikal von der eigenen Vergangenheit getrennt hat, in dem er allen persönlich Besitz verkauft oder weggeworfen hat und seitdem in einer kargen Wohnung sein Leben von Tag zu Tag verbringt. Doch sein unreligiöses Mönchstum wird derzeit heftig gestört: Thomas hat eine Affäre mit der verheirateten Iris, die eine Generation jünger ist als er. Iris ist Bühnenbildnerin und Lichtgestalterin, sie lebt also davon, ästhetische Illusionen zu verkaufen. Die Affäre spitzt sich kurz vor Thomas Unfall zu, als Iris schwanger wird, ihren Mann Ben verlässt und mit Thomas eine Familie gründen will. Ihre offene Emotionalität überwältigt Thomas immer mehr, der kurz davor steht, sich auf Iris Pläne einzulassen, als der Unfall all dem ein Ende setzt.

Außer dieser Hauptlinie der Erzählung glänzt der Roman mit zahlreichen weiteren Nebenfiguren und Kleinsterzählungen, etwa der depressiven Animateurin Tessy, der politisch engagierten Türkin Nilgün oder dem Maler Horch – wahrscheinlich der spannendsten Figur im ganzen Roman. Man findet heute nur wenige Erzähler, die tatsächlich soviel zu erzählen haben und denen es gelingt, ihre divergierenden Stoffe dennoch auf die großen literarischen Themen – Tod, Liebe, Geburt – zu fokussieren, ohne dass es peinlich wird. Ein wirklich gelungenes Stück!

Uwe Timm. Rot. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001/2005. Bedruckter Pappband, 428 Seiten. 15,– Euro. (Auch als dtv-Taschenbuch lieferbar.)

Uwe Timm: Freitisch

Wat wullen Se denn? Ich frage, wo Arno Schmidt wohnt. Da hat der Bauer in die Dunkelheit gezeigt. Und gesagt: Kümmt immer wieder ener. De let keenen vor.

Es ist heute schon eine angenehme Ausnahme, wenn ein erzählender Text mit der spezifischen Gattungsbezeichnung Novelle versehen ist und nicht mit dem allgemeinen Vertriebslabel Roman beklebt wird. Wenn dann zudem tatsächlich eine »sich ereignete unerhörte Begebenheit« – wenn auch in ironischer Brechung – den Höhepunkt der Erzählung bildet, kann man als Leser höchst zufrieden sein.

Uwe Timms »Freitisch« erzählt von der Begegnung zweier alter Münchner Studienkollegen in einer Kleinstadt an der Peene. Der eine der beiden, der Ich-Erzähler, ist pensionierter Studienrat, Deutsch und Geschichte, der andere ein Fachmann für Müllentsorgung, der für die Stadt eine neue Deponie planen soll. Kennengelernt haben sie sich Mitte der 1960er Jahre am Freitisch einer Versicherungsgesellschaft, einem Vierertisch, den außer den beiden auch ein Jurist und ein weiterer Germanist mit dem Spitznamen Falkner regelmäßig frequentierten. Und an diesen Tisch hatte der damalige Mathematikstudent – daher sein Spitzname Euler – und jetzige höhere Müllmann die Arno-Schmidt-Lektüre eingeführt, ausgerechnet mit dem Band »Kühe in Halbtrauer«, damals die letzte Neuerscheinung Schmidts.

Da der pensionierte Studienrat aus der Zeitung erfahren hatte, dass Euler in die Stadt kommen werde, passt er ihn vor dem Rathaus ab, und man geht miteinander in ein Café am Ort und erinnert sich der alten Zeiten: Der eigenen Aufbruchstimmung, die mit der der 68er-Generation nicht viel gemeinsam hatte, der Schreibversuche, die nur Falkner schließlich zum Beruf gemacht hat, der Diskussionen um Arno Schmidt, die durchaus kontrovers waren, und schließlich auch zweier Fahrten Eulers nach Bargfeld, um den »Meister« persönlich kennenzulernen; auf der zweiten hatte ihn der Ich-Erzähler begleitet. Und auf dieser Fahrt geschieht dann das Unerhörte: Durch einen Trick – der hier natürlich nicht verraten wird – gelingt es Euler diesmal (beim ersten Besuch hatte sich Schmidt nicht sehen lassen) tatsächlich, den »Meister« neugierig zu machen und an den Zaun zu locken. Als das Gespräch erst einmal eröffnet ist, darf Euler auch eintreten und bekommt sogar die mitgebrachten Exemplare von »Kühe in Halbtrauer« signiert. Allerdings erhält er auch verbindlichst Auskunft über die Texte, die er Schmidt vorab zugeschickt hatte, was seine Stimmung gründlich ruiniert. Diese Begegnung findet übrigens Anfang August 1965 statt, also kurz bevor Schmidt in die Niederschrift von »Zettel’s Traum« abtaucht.

Doch ist Schmidt nicht nur in den Erinnerungen der beiden alten Freunde präsent: Der Text ist durchwirkt mit zahlreichen Schmidt-Zitaten und -Anspielungen. Auch ist es sicherlich kein Zufall, dass gerade der Band »Kühe in Halbtrauer« als zentrales Paradigma Schmidtschen Schreibens benutzt wird, denn nicht nur die Erzählung »‹Piporakemes!›«, die Timm explizit heraushebt, stand bei der Entstehung der Novelle Pate, sondern sie ist als Erzählung über zwei sich erinnernde Alte auch eine Variation auf »Kühe in Halbtrauer« selbst. Und auch in den hier und da eingeschobenen Kleinsterzählungen und Anekdoten blitzt Schmidtsche Erzählkunst auf. Alles in allem eine höchst produktive, zugleich lakonische und intelligente Auseinandersetzung mit Arno Schmidt und seinem Erzählen, die jeglichen Versuch der Imitation oder Anbiederung vermeidet. Dass der Text bei all seiner Kunstfertigkeit auch für diejenigen attraktiv geblieben ist, die Schmidt nicht oder nur oberflächlich kennen, beweisen die zahlreichen positiven Besprechungen in den Feuilletons. Als Schmidt-Kenner und -Leser wünschte man sich, mehr solch gelungene Aneignungen zu Gesicht zu bekommen.

Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. Leinen, 136 Seiten. 16,95 €.

(geschrieben für den Bargfelder Boten, Lfg. 343–344.)