Zum Tod von Paul Wühr

3. Juni 1986, München

Diana Kempff ruft an. Ich hätte zu ihr einmal gesagt, nach meinem Tod soll sie anderen sagen: ich habe Gott geliebt. Ein anderer Ausbruch: Scheißkonjunktive, ScheißGötter. Aussprüche eines Richtigen? – Ich nütze nichts aus in diesem Leben. Das ist der Rest von Tugend. Sonst war ich immer bemüht, mich aus unguten, peinigenden oder auch belästigenden Empfindungen zu befreien. – Was ich Diana erzählte: Heute im Luitpoldpark ein Augenblick großer Ruhe, auch im Zusammenhang mit der Empfindung des Augenblicks (mehr kann ich darüber nicht sagen: vergessen). Meine Formulierung noch im Park: Das einzige aktuelle Erfassen dieser Welt ist mystisch. Man muß Mystiker werden. Ich werde es mir nicht erlauben. Diana sagte noch viel Gutes, Liebes zu mir.

Paul Wühr
Der faule Strick

Zum 80. Geburtstag von Paul Wühr

Was ich über dieses falsche Buch sagen könne, fragte mich mein Inspektor, oben, auf der Terrasse, Ecke Marschallstraße, er gebe sich einmal dazu her, mein Diktat aufzunehmen in seinen Text.
Ob ich etwas über das Falsche sagen sollte, wollte ich wissen und gab zu bedenken: Aus einer falschen Welt heraus als Autor eines falschen Buches sich auf eine Interpretation des Falschen einzulassen, würde bedeuten: hier zusammenfassen zu müssen, wie in diesem falschen Buch aus allen Gegensätzen und vor allem dem des Richtigen und des Falschen herauszugelangen sei, was allenfalls richtig herauskommen könnte, damit aber gar nichts bedeuten würde.
Bedeuten sollte es also etwas? wurde ich gefragt.
Es sollte nichts bedeuten.
Er lachte.
Er solle ruhig lachen, über mein Bemühen um das Unmögliche, meinte ich. Ich rede, sagte ich und deshalb: um aus der Rede herauszugelangen.

Paul Wühr
Das falsche Buch

Ernst-Jandl-Preis für Paul Wühr

Ich gebe sonst nicht viel um Literaturpreise, da sie nur selten etwas über die Qualität des oder der Ausgezeichneten aussagen; zu verzwickt sind dazu zumeist die gegenseitigen Interessen von Publicity, persönlichen Bekanntschaften und einander waschenden Händen.

Aber die Meldung, dass Paul Wühr den Ernst-Jandl-Preis erhalten hat, hat mich doch gefreut. Ich bin seit 1983, dem Jahr, in dem »Das falsche Buch« erschien, treuer Wühr-Leser und habe das Glück gehabt, auf einer Lesung Wührs in Tübingen eines der raren Exemplare von »Gegenmünchen« verlagsfrisch erwerben zu können!

Da Wühr auch vielen Literatur-Interessierten unbekannt sein dürfte, setze ich hier (leicht überarbeitet) ein kurzes Wühr-Portrait hin, das ich 1998 für die Newsgroup de.rec.buecher geschrieben habe:

Paul Wühr wurde am 10.7.1927 in München geboren und lebt heute in Italien. Er hat die meiste Zeit als Hauptschullehrer in und um München gelebt. Er schreibt Prosa und Lyrik und hat in der Phase der sogenannten Experimentellen Literatur 1970 ein Buch veröffentlicht, das sich in seiner Merkwürdigkeit ohne weiteres mit Arno Schmidts »Zettel’s Traum« und Brinkmanns »Rom Blicke« messen kann: »Gegenmünchen« (wie das meiste von Paul Wühr bei Hanser; da muß jemand sitzen, der ihn wirklich verehrt, denn die machen seit jetzt fast vier Jahrzehnte Bücher von ihm, an denen sie einfach nichts verdienen können!), das in einer völlig verrückten Mischung aus Lyrik, Prosa und Abbildungen die Stadt München zum Thema hat.

Unter den lyrischen Sachen dürfte »Preislied« das bekannteste sein, das es auch bei Reclam in der Universal Bibliothek gab. (Das war übrigens, wenn ich mich recht erinnere, noch vor zwanzig Jahren Abiturstoff an österreichischen Gymnasien!)

Kurzfristig Aufsehen um Paul Wühr hat es gegeben, als 1983 »Das falsche Buch« erschien. Damals hat ihn das überregionale Feuilleton kurz zur Kenntnis genommen, und das Buch ist daraufhin auch bei Fischer im Taschenbuch erschienen und war ungewöhnlich lange Zeit lieferbar. Es handelt sich um einen Roman, dessen Protagonisten in der Hauptsache Hunde sind, die sich auf der abgesperrten Münchner Freiheit bewegen.

Im Jahr 1987 wurde eine ganz gute und informative Aufsatzsammlung, hg. von Lutz Hagestedt, vorgelegt, in der man auch ein bißchen über Wührs Leben erfährt. Seit 1997 gibt es auch ein Paul-Wühr-Jahrbuch, das ich aber noch nicht in der Hand gehabt habe.

Zum Einstieg empfehlen würde ich durchaus »Das falsche Buch«, weil es einen guten Eindruck von Wührs Humor und seiner Spannbreite gibt. Die zweite Wahl »Der faule Strick« – ein Kommentar zu einem Kommentar eines Tagebuchs (alle Textebenen sind im Buch präsent) – ist leider nie im Taschenbuch erschienen und wie das meiste von Wühr längst nur noch antiquarisch greifbar. Und in »Gegenmünchen« muss man als Leser wenigstens einmal in seinem Leben geblättert haben, um zu sehen, was alles im 20. Jahrhundert möglich war. Daraus nur eine einzige Überschrift als Appetit-Happen:

Dokumentarspiel
Wie Schwarze Roten weiße Sünden verzeihen
oder
Die Mörder in letzter Linie

gespielt wird unter dem Bürgersaal
Bühnenbild: im Hintergrund links
der rote Terror rechts der weiße
Terror
Personen: Pater Rupert Mayer
(steht vor 21 Särgen der 21
Gesellen des Gesellenvereins
St. Joseph – ermordet am 6.6.1919)
ihm gegenüber auf der
linken Seite: Er und Sie
in der Mitte: alle gutgesinnten
Katholiken Münchens
Einzige Szene:
Die unterbrochene Grabrede

Das ganze denke man sich in einer Fraktur gesetzt. Und danach geht das Theater dann los.

Zuletzt ist in diesem Jahr »Dame Gott« erschienen. Ich werde hier bei Gelegenheit eine Besprechung einstellen.