Biedermeier – Die Erfindung der Einfachheit

biedermeier Katalog zu einer Ausstellung, die in Milwaukee, Wien und Berlin zu sehen war und derzeit noch in Paris in kleinerem Umfang zu sehen ist. Der Katalog zerfällt in die weithin üblichen beiden Teile: Im ersten Teil finden sich Essays, die sich dem Ausstellungsthema historisch oder theoretisch widmen, der zweite Teil bringt zahlreiche Bildtafeln zur Ausstellung. Die Verantwortlichen für die Ausstellung und Herausgeber des Katalogs verzichten bewusst auf den Versuch, das Phänomen des Biedermeier scharf gegen andere Stile oder Epochen abgrenzen zu wollen.

In der allgemeinen Wahrnehmung leidet das Biedermeier in der Regel darunter, dass ihm nur dasjenige zufällt, was der jeweilige Interpret nicht für die von ihm in den Fokus genommene Epoche, sei es Klassik, Romantik oder Realismus, zu gebrauchen versteht. Ganz im Gegensatz dazu wird hier Biedermeier als ein offener Begriff für eine Reihe von Stiltendenzen gebraucht, die sich zwischen 1815 und 1848 finden lassen, ohne dass behauptet würde, diese Tendenzen seine nicht auch vor oder nach dieser Zeitspanne präsent. Auch wird dem Vorurteil widersprochen, es handele sich beim Biedermeier um eine vornehmlich bürgerliche und deshalb einfache, schlichte und anspruchslose Stilepoche. Im Gegenteil wird aufgezeigt, dass sich sowohl Adel als auch Bürgertum mit einem klaren Stilbewusstsein die Tendenzen dieses Stils zu eigen gemacht haben.

Der historisch-theoretische Teil bringt manche Anregungen zu den vielfältigen Verflechtungen der Zeit- und Stiltendenzen des oben angeführten Zeitraums sowohl in der bilden Kunst als auch in der Literatur. Wirklich erstaunlich war für mich aber der Bildteil, der von Möbeln über Zimmerbilder und Hausrat (Glas, Porzellan, Silber- und andere Metallarbeiten, Tapeten und Stoffmuster) bis hin zu den Gemälden der Zeit eine reichhaltige Auswahl an Exponaten präsentiert. Insbesondere die immer wieder – im Sinne des 20. Jahrhunderts – überraschend moderne Anmutung zahlreicher Alltagsexponate hat mich gefangen genommen. Ein Bilderbuch, in dem es manch eine Quelle der Moderne zu entdecken gibt.

Biedermeier – Die Erfindung der Einfachheit. Katalog. Hg. v. Hans Ottomeyer, Maria Luise Sternath-Schuppanz u. Laurie Winters. Ostfildern: Hatje Cantz, 2006. Leinen, Fadenheftung, Kunstdruckpapier (26,5×33,5 cm), 440 Seiten m. 70 S-W- u. 430 Farbabb. 49,80 €.

Zeno.org

Zeno.org ist ein Ableger der Digitalen Bibliothek. Angefangen hat diese Seite als kommerzieller Download-Anbieter, bei dem man Bände der Digitalen Bibliothek erwerben und auf den eigenen Rechnen herunterladen konnte. Heute Nacht um 0:00 Uhr startet Zeno.org außerdem offiziell die größte freie deutschsprachige Online-Bibliothek. Dieser Status wird auch der Tatsache geschuldet sein, dass Zeno.org als Mirror der Wikipedia fungiert.

Insgesamt wird Zeno.org rund 1,6 Millionen Seiten mit etwa 600 Millionen Wörtern und 420.000 Bildern anbieten. Neben Allgemeinen Lexika – besonders historisch wichtigen – finden sich umfangreiche Texte zu Geschichte, Philosophie, Kunst und Kunstgeschichte sowie aus der klassischen Literatur. Das ist kein Pappenstiel; und diese Bibliothek soll kontinuierlich weiter wachsen.

Zeno.org setzt auf ein Konzept von Sponsoring und Buchpatenschaften, das den Bestand und die Erweiterung der Bibliothek finanzieren soll. Nähere Einzelheiten liefert die Seite. Wir werden das Projekt mit großem Interesse beobachten und hoffen, dass sich die Professionalität der Digitalen Bibliothek auch bei diesem Projekt fortsetzen wird, und wünschen der Seite eine blühende Zukunft.

Von der Höhe der Alpen (17)

I ain’t never seen ’em, but my common sense tells me the Andes is foothills, and the Alps is for children to climb! Keep good care of your hair! These here is God’s finest sculpturings! And there ain’t no laws for the brave ones! And there ain’t no asylums for the crazy ones! And there ain’t no churches, except for this right here! And there ain’t no priests excepting the birds. By God, I are a mountain man, and I’ll live ‚til an arrow or a bullet finds me. And then I’ll leave my bones on this great map of the magnificent …

Del Gue

Shortlists (2)

Warnung : »Überlegen Sie sich’s zwanzig Mal, ehe Sie irgend ‹Gesammelte Werke› kaufen ! Sie werden von selbst vorsichtiger, wissen Sie erst, daß Sie sich jedesmal mit einem kompletten Fremdleben, einem Superschicksal, belasten : mehr, als Sie bewältigen können. – Wer mehr als 1 Dutzend ‹Gesamtausgaben› besitzt, ist ein Charlatan ! – Oder aber : er hat sie nicht gelesen.«

Apodiktisch, wie wir ihn lieben, spricht hier Arno Schmidt ein hartes Wort über jene Buchlieberhaber aus, die nicht nur einen großen Teil der zu erübrigenden Zeit mit Lesen verbringen, sondern in deren Wohnungen sich die Bücherregale mit den Bildern um den Platz an den Wänden streiten und oft, zu oft gewinnen. Da wird ein neuer Autor entdeckt, und man deckt sich vorsorglich mal mit einer Werkauswahl oder eine ‹Gesamtausgabe› ein, denn es könnte ja sein, dass einen gleich morgen in aller Frühe, noch vor Öffnung der ersten Buchhandlungen oder Bibliotheken der ununterdrückbare Drang überfällt, Honoré de Balzacs »Das Alter einer schuldigen Mutter« zu lesen, und man hätte es nicht im Haus.

Deshalb als Gegengewicht zur ersten Shortlist und für alle, denen es ähnlich geht, hier als Klagegesang:

10 Autoren, für die ich gern mehr Zeit haben würde:

  1. Christoph Martin Wieland: Auch ich habe den Reprint in den goldenen Zeiten der Greno Verlages gekauft und brav die wichtigen Romane gelesen: »Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva«, »Die Geschichte des Agathon«, die unvergleichliche »Geschichte der Abderiten« und auch den anspruchsvollen »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«. Und dennoch bleibt das Bewusstsein, das da noch Bände um Bände von Schätzen zu heben sind.
  2. Jean Paul: Vielleicht die subjektiv schmerzlichste Lücke. Noch zu Schulzeiten habe ich nach ¾ der »Flegeljahre« aufgegeben, dann im Studium all die kleineren Sache gelesen, damit die Hanser-Werkausgabe wenigstens nicht ganz ungenutzt herumsteht, aber mir nie die Ruhe und Zeit genommen, die großen Romane durchzugehen.
  3. Thomas Pynchon: Gerade vor ein paar Tagen habe ich noch mit einem Freund darüber gesprochen, dass meine frühe Pynchon-Lektüre so lange her ist, dass ich mich kaum daran erinnere. Ich wäre schon neugierig, wie »Gravity’s Rainbow« heute, nach beinahe 30 Jahren auf mich wirken würde. In »Mason & Dixon« bin ich irgendwo in der Mitte stecken geblieben und »Against the Day« liegt seit dem Erscheinen unangetastet hier herum.
  4. Honoré de Balzac: Auch hier vermute ich, dass wahre Schätze zu heben sind, habe aber bis auf einige Inseln keinen blassen Schimmer, was der Kontinent der »Menschlichen Komödie« birgt.
  5. Heimito von Doderer: »Die Strudlhofstiege« war – wie bei so vielen – die »Einstiegsdroge«, und dann ist einfach immer wieder etwas dazwischen gekommen. Da muss noch einmal ganz von vorne begonnen werden.
  6. William Faulkner: Noch während des Studiums sind die blauen Bände des Diogenes Verlags ins Bücherregal gewandert und seitdem brav von Wohnung zu Wohnung mit umgezogen. Gelesen habe ich bislang einige Erzählungen, aber noch keinen einzigen der Yoknapatawpha-Romane, noch nicht einmal auf Deutsch. Statt dessen hat man irgenwann einmal den 10-bändigen Hemingway durchgelesen und ärgert sich heute über die verschwendete Zeit!
  7. Ludwig Tieck: Auch so ein Autor, bei dem man das Gefühl hat, nie an ein Ende kommen zu können, gleichgültig wieviel man auch immer von ihm gelesen hat. Wenn es nur wenigstens einmal die Novellen komplett wären …
  8. Marcel Proust: Da ist das Misstrauen gegen die deutsche Übersetzung der »Suche nach der verlorenen Zeit« die Hauptursache, dass ich beim ersten Versuch schon im Swann stecken geblieben bin. Vielleicht gelingt ein neuer Anlauf mit der überarbeiteten Fassung? Aber die Zeit, die Zeit …
  9. Johann Gottfried Herder: Auch so ein typischer Ausschnitt-Autor, also einer, von dem man immer nur die »Stellen« aufsucht und hier ein wenig in den »Ideen« schmökert und dort einige Seiten den »Briefen zur Beförderung der Humanität« folgt, sich aber nie zu einer gründlichen Lektüre entschließt, obwohl man weiß, dass von hier gewaltige Einflussströme ausgehen, denen man immer und immer wieder begegnet. Was einem allein bei Nietzsche alles auffallen könnte, wenn man Herder wirklich gründlich kennte, …
  10. Johann Wolfgang von Goethe: Ganz gleich, wieviel Goethe ich wie oft gelesen habe, das hört nicht auf …

Shortlists (1)

Markus Kolbeck aka Dostojewskij macht uns auf eine für Deutschland angeblich neue Modewelle aufmerksam: Shortlists. Solche Listen sind in allen Lifestylebereichen eine hilfreiche Orientierung, da sie in der Regel nach dem Muster »Blinde betreiben Farbberatung« erstellt werden. Auch Möchtegernlesern wird der Weg gewiesen!

Auch ich werde mich daher nicht lumpen lassen und eine neue Rubrik einführen, die in lockerer Folge Listen für Kenner und Liebhaber liefern wird. Heute:

10 Bücher, über die Sie beruhigt mitreden können, ohne sie gelesen zu haben:

  1. Die Bibel – zum einen ist sowieso klar, was drin steht, zum anderen kennt man ja die beiden wichtigen Teile aus dem Kino, zum dritten: Haben Sie sich mal den Stil von dem Autor angekuckt?
  2. Johann Wolfgang von Goethe: Faust – unfraglich ein Meisterwerk! Wenn auch der zweiten Teil seine Längen hat.
  3. Karl Marx: Das Kapital – unbedingt den Witz von dem Mann erzählen, der »Das Kapital« von Karl May liest und sich wundert, dass so wenig Indianer drin vorkommen! Ansonsten genügt der Satz: »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.«
  4. Herman Melville: Moby-Dick – betonen Sie, dass jetzt endlich eine deutsche Ausgabe vorliegt, die einen Bindestrich im Titel hat. Erwähnen Sie außerdem »diesen Übersetzer-Streit, den es da mal gegeben hat«.
  5. James Joyce: Finnegans Wake – ist anerkannt unlesbar! Vergessen Sie nicht, sich über diese »angebliche deutsche Übersetzung« zu mokieren.
  6. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften – hat von den anderen auch keiner gelesen, so lässt sich rasch Einigkeit erzielen. Sagen Sie: »In dem Fall liegt Reich-Ranicki aber mal daneben!«
  7. Arno Schmidt: Zettel’s Traum – sagen Sie einfach, dass Sie einen Bekannten haben, der das Buch besitzt. Nennen Sie aufs Geratewohl irgendein Gewicht für das Buch, das ihnen unvorstellbar hoch vorkommt; wenn Sie sich zu sehr vergriffen haben sollten, lachen Sie nachher und meinen es ironisch. Echte Kenner erkennt man daran, dass Sie den Titel mit Apostroph aussprechen!
  8. Hans Henny Jahnn: Fluß ohne Ufer – erwähnen Sie, dass der Autor früher Orgelbauer war und später Pferde-Urin getrunken hat, weil er das für gesundheitsfördernd hielt. Lassen Sie den Namen Hubert Fichte fallen und ziehen Sie wissend die Augenbrauen hoch!
  9. Patrick Süskind: Das Parfüm – haben ohnehin alle gelesen – oder wenigstens den Film gesehen, also einfach mitnicken! Fragen Sie: »Kennen Sie auch ›Die Taube‹?« Und wieder nicken! Lassen Sie sich nicht auf die Fangfrage ein, ob in »Die Taube« eine Gehörlose vorkommt!
  10. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft – einfach nur nicken und lässig abwinken: Klar, versteht sich von selbst!

 

In eigener Sache

Seit März dieses Jahres schreibe ich in Kooperation mit der Solinger Stadtbibliothek eine wöchentliche Kolumne für die Solinger Morgenpost. Da zum einen die Länge dieser Kolumne begrenzt ist, zum anderen die Zielgruppe eine andere ist, zum dritten auch Überschneidungen mit diesem Blog vorkommen, habe ich diese Texte im Normalfall hier nicht eingestellt (eine Ausnahme ist etwa der Beitrag über Candida Höfers Bildband »Bibliotheken« gewesen, der in beiden Medien nahezu gleich besprochen wurde).

Nun habe ich mich aber entschlossen, ein kleines Archiv der Kolumne anzulegen, da sich die älteren Beiträge sonst doch rasch verlieren. Ich habe dafür auf der Subdomain kolumne.fraenzel.de ein eigenes Blog eröffnet. Auch in Zukunft werden inhaltliche Überschneidungen der beiden Blogs vorkommen; doppelte Einträge – wie im Fall Höfer – werden aber vermieden werden. Vielleicht mag ja die eine oder der andere auch dieses Blog abonnieren. Weitere Reklame in dieser Sache wird nicht gemacht.

Der achte Teil der Septologie?

Ich kann mich noch gut erinnern, wie mir das Phänomen zum ersten Mal begegnet ist: Da hatte auf der Rückseite des dritten Teils von Frank Herberts »Dune« ’was gestanden vom Abschluss der Trilogie, und wenig später fiel mir in einer Buchhandlung der vierte Teil in die Hand, auf dessen Rücken zu lesen war: »Der lang erwartete vierte Teil« – der Triologie Tetralogie Quadrilogie?

Heute meldet nun die SZ in der Rubrik »Panorama« (wohlgemerkt, nicht unter »Literatur«), dass auch Joanne K. Rowling plant, ihr Septett ihre Sepsis Septologie um einen weiteren Band zu ergänzen, weil sie noch soviel Material von den anderen sieben übrig hat. Das heiß ich mir, aus einer Nadel einen Wagen voll spalten!

Katze, Katze – Tatze, Tatze

katzenkalender2007Es gibt – abgesehen von den Übrigen – im Grunde nur drei große Gruppen von Menschen: Hundemenschen, Katzenmenschen und jene gesegneten Exemplare, die mit beiden leben können und wollen. Für die letzten beiden Gruppen stellt der Verlag Schöffling & Co. seit über zehn Jahren seinen »Literarischen Katzenkalender« her. Er ist für jede Woche im Jahr gerade richtig: jeweils ein Blatt mit einem ausgesuchten Katzenbild und einem Zitat, Sprichwort oder Bonmot – gerade kurz genug, dass man sich nicht daran satt sieht, und gerade lang genug, dass man Zeit hat, Bild und Text wirklich auszukosten.

Ich verfolge den »Literarischen Katzenkalender« nun seit einigen Jahren und jedes Jahr erwarte ich, dass er nun eigentlich nachlassen müsste. Soviel gute Katzen-Fotos kann es doch nicht geben und die Zitate müssten denen bei Schöffling & Co. doch auch langsam ausgehen. Und jedes Jahr ist der Kalender wieder eine Freude. Sicher: Hier und da schmuggeln sie ein Zitat ein, dass nur indirekt mit Katzen zu tun hat, so etwa einige Verse aus Goethes »Zauberlehrling« zu einem Bild, auf dem nur ein Katzeschwanz über den Rand einer Badewanne lugt, aber auch in diesen Fällen überzeugt immer die Kombination von Bild und Text.

Und gleich auf dem nächsten Blatt liegt ein junger, frecher Katz in einer halboffenen Schublabe und darunter steht:

Cyril blinzelte träge und begab sich wieder an seine Morgentätigkeit, Racers Schublade auszuleeren. Als der Kater fertig war, hob er den Kopf, als ob die Aufgabe ihn nun langweile.

Martha Grimes

Wer ihn nicht selbst gebrauchen möchte, sollte ihn wenigstens verschenken; ich habe es mir dieses Jahr ausgebten, dass ich nach Ablauf des Jahres den alten Kalender im Tausch gegen den fürs neue Jahr zurückbekomme. Ich werde mir eine kleine Sammlung anlegen, denn die Kalender sind wie kleine Bildbände, die man auch Jahre später noch einmal mit Freude durchblättert. Für jede und jeden, die/der eine Katze hat, gerne eine hätte oder eine haben sollte!

Der literarische Katzenkalender 2007. Schöffling & Co. 56 Blatt. Spiralbindung. 19,90 €.

P.S.: »Der Literarische Katzenkalender« hat auch eine eigene Homepage.

Der Große der Kleinen

LK 07Seit mehr als 50 Jahren liefert Reclam, Stuttgart, jedes Jahr seinen kleinen Literaturkalender, der auf etwas mehr als 100 Seiten die literarischen Geburts- und Gedenktage des kommenden Jahres versammelt und zu einer Auswahl der wichtigsten Jubiläen kurze Autorenporträts und Textausschnitte liefert: Eine Einstimmung auf das kommende Lesejahr und eine angenehme Anregung zu der einen oder anderen (Wieder-)Lektüre. Und ein literarisches Jubiläums-Rätsel gibt es obendrein.

Natürlich steht im nächsten Jahr Joseph von Eichendorff auf dem Programm, dessen 150. Todestages wir gedenken. Als einer der langlebigsten Romantiker hatte er zu Ende seines Lebens seine Zeit derartig überlebt, dass ihn einige Lexika bereits voreilig für tot erklärt hatten. 2007 wäre eine gute Gelegenheit, wieder einmal in einer Gedichtsammlung Eichendorffs zu blättern oder die lang zurückliegende Schullektüre des »Taugenichts« durch die des Romans »Dichter und ihre Gesellen« zu ergänzen.

Bei den neueren Autoren wird ausführlich auf Martin Walsers 80. Geburtstag hingewiesen, und wir erfahren, dass Peter Handke, in den wilden Jahren um 68 herum als revolutionär-konservativ- individualistisches Alternativprogramm gestartet, endlich das Rentenalter erreicht, von dem sein Werk seit vielen Jahren Zeugnis ablegt. Aber auch an den ersten Todestag von Robert Gernhardt, den wir gern noch ein paar Jahre mehr bei uns gehabt hätten, wird erinnert.

Unter den nicht ganz so populären Autoren fällt der 200. Geburtstag von Friedrich Theodor Vischer ins Gewicht: Der schwäbische Philosophie-Professor hatte neben der Arbeit an seiner umfangreichen »Aesthetik« noch Zeit für mancherlei gefunden: Umfangreiche Vorlesungen zu Shakespeare, den autobiographisch unterfütterten Roman »Auch Einer«, in dem er »die Tücke des Objekts« erfunden hat, und der einzigen, wirklich gelungenen Parodie des Goetheschen Faust: »Faust, der Tragödie dritter Teil. Treu im Geiste des zweiten Teils des Goetheschen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky«, in der er sich nicht nur über den Goetheschen Text, sondern auch über die Goethe-Forscher seiner Zeit lustig macht. Vielleicht entschließt sich ja im Jubiläums-Jahr ein Verlag, einmal wieder Vischers »Kritische Gänge« aufzulegen.

Man sieht: Der kleine Literaturkalender von Reclam liefert so manche Anregung und Gelegenheit zum Schmökern. Man kann ihn ein Jahr lang in der Tasche tragen und immer mal wieder einen Blick hineinwerfen und einige Seiten lesen. Ein kleines Buch fürs ganze Jahr, und das für nur 2,60 €.

Reclams Literatur Kalender 2007 (53. Jahrgang). RUB 18436. Broschiert, 128 Seiten. 2,60 €.

Ein Lesebuch des Aberglaubens

hdwb AbberglaubensEs ist ein seltener Fall, dass ein Nachschlagewerk das erste seiner Art ist und dennoch über viele Jahrzehnte hinweg nach Inhalt und Umfang ein unverzichtbares Standardwerk bleibt. Das »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« ist eine solche Ausnahmeerscheinung. Es wurde zu Anfang des 20. Jahrhunderts konzipiert und erschien unter erheblichen Schwierigkeiten zwischen 1927 und 1942 in zehn Bänden. Viele seiner Einträge sind inzwischen überholt, aber dennoch ist das Lexikon als ganzes bis heute ein unverzichtbares Hilfsmittel für alle, die sich mit Volksglauben, Sagen, Märchen und anderen Formen der Volksliteratur beschäftigen. Nun ist in der Digitalen Bibliothek eine CD-ROM-Ausgabe des Werks erschienen.

Dabei ist das »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« (HDA) nicht nur als Nachschlagewerk geeignet, sondern es ist eine nahezu unerschöpfliche Quelle zum Schmökern: Viele Artikel sind eine Sammlung zahlreicher Überlieferungen, die hier zum ersten Mal auf engstem Raum zusammengefasst sind, sich überschneiden, ergänzen, auch widersprechen. Man bekommt ein Eindruck von der reichhaltigen und lebendigen Überlieferung des Volksglaubens, der sich auf alle Lebensbereiche erstreckt und über viele Jahrtausende auch auf die Hochkultur und besonders die Kunst auf vielfältigste Weise eingewirkt hat. Und man lernt von Gebräuchen, die heute nahezu vergessen sind:

Teller (und Tellerwurf). Die alteuropäische, im Kaukasus und wohl auch anderwärts noch bestehende Speisesitte, Fladenbrote als T. für eine Auflage von Fleisch zu benützen, hat vielfach die T.form von Gebildbroten auf Weihnachten und Ostern bestimmt, wie dies Gebäckmodel aus dem 15. und 16. Jh. und neuere Gebäcke in Form von Korb-T.n wie etwa im Lüneburgischen, dartun.

Nach der Bibel hatten die Juden den Brauch nebst einem Widderpaar tellerförmige Brote ins Opferfeuer zu werfen. Vorläufig fehlen Belege dafür, daß eine solche Übung im Mittelmeerkreis etwa zum Aberglauben des T.wurfes geführt hätte, um eine Feuersbrunst zu löschen. Sicher war keine Speisung sondern ein Bannen und Binden des Elementes zu seiner Besänftigung beabsichtigt, wenn es 1601 in den Aufzeichnungen des Pfarrers Noll zu Rüdesheim heißt: »Gegen Blitzfeuer (sic!) Schreibe folgendes (Satorformel) (s.d.) auf einen T. und wirf ihn in das Feuer, dann wird es verlöschen«. Vorschrift und Anwendung sind in späteren Tagen in Süd- und Mitteldeutschland vielfach in Geltung geblieben. Man wirft in der Tat aber auch wohl mit Opferabsicht Speck-T. oder einen T. aus Zinn – dem »Silber der Armen« – ins Feuer.

Mag ein solcher Eintrag eher obskur erscheinen, so liefern die umfangreichen Einträge etwa über den Glauben an eine »Endschlacht«, der sich in zahlreichen Kulturen wiederfindet, oder auch der gleich nachfolgende über »Engel« ein unvergleichlich reiches Bild von den Weltkonzepten früherer Zeiten, die heute in unserer mehr und mehr dem Glauben an die Vernunft anhängenden offiziellen Kultur drohen, komplett vergessen und durch gänzlich andere Glaubenskonzepte ersetzt zu werden. Mit dem Vergessen geht aber auch einher, dass uns Nachgebornenen eine wesentliche Grundlage zum Verständnis der Kultur, Kunst und Literatur früherer Epochen verloren zu gehen droht.

Ich will nicht verschweigen, dass das HDA auch seine Schwächen hat: Es ist besonders in den späten Bänden lückenhaft geblieben. Bei wichtigen Stichwörter wie z. B. »Teufel« oder »Zahl« wird zwar auf den Nachtrag verwiesen, die entsprechenden Artikel sind aber nie geschrieben oder gedruckt worden. Auch bemängeln moderne Kritiker, dass der dem HDA zugrunde gelegte Begriff des Aberglaubens zu eng war und bestimmte Geheimkünste und magische Wissenschaften ausschloss. Diese Kritik ist berechtigt, ändert aber garnichts an der Fülle des gelieferten Materials und ebensowenig daran, dass das HDA bis heute keinen gleichwertigen oder gar überlegenen Nachfolger gefunden hat. Wer sich mit dem Phänomen des Volksglaubens beschäftigen will, kommt auch heute noch am HDA nicht vorbei!

Das HDA ist 1986 erstmals wieder nachgedruckt worden und erfreut sich seitdem ungebrochener Beliebtheit bei Laien und Fachleuten. Die gedruckte Fassung in 10 kartonierten Bänden kostet derzeit 148,– €; die CD-ROM der Digitalen Bibliothek wird bis zum 31.12.2006 für 75,– € (danach 90,– €) angeboten und hat den für ein Nachschlagewerk unersetzlichen Vorteil einer Volltextsuche. Außerdem lassen sich durch das Register der digitalen Ausgabe auch die Einträge des Nachtragbandes nahtlos in die Stichwortliste einfügen. Kopier-, Markierungs- und Notizfunktionen gehören zum Standard der Software der Digitalen Bibliothek und genügen allen praktischen Ansprüchen. Alle Einträge der CD-ROM sind mit einer wortgenauen Konkordanz zur gedruckten Ausgabe versehen, so dass Zitate aus der digitalen Ausgabe auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Der CD-ROM liegt eine gedruckte Einführung in die Benutzung der Software bei. Inzwischen bietet die Digitale Bibliothek auch Software für MAC- und Linux-User an, die von der Homepage des Verlages heruntergeladen werden können.

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer. Digitale Bibliothek Bd. 145. Berlin: Directmedia Publishing, 2006. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) – MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis bis 31.12.2006: 75,– €, danach 90,– €.