Blogparade: So verstau’ ich meine Bücher

bibliothek01 Read it! hat eine Blogparade angestoßen, in der man seine Büchersammlung vorstellen soll. Links ist das Hauptgewicht meiner privaten Sammlung zu sehen: die Belletristik. Die Aufstellung ist inzwischen wieder nach Autoren-Alphabet, nachdem ich während des Studiums – da hat man mehr Zeit zum Suchen – eine ganze Zeit lang eine Aufstellung nach Geburtsdatum des Autors vorgezogen hatte. Den umfangreichsten Anteil bildet deutsche Belletristik, gefolgt von englischen und bibliothek02amerikanischen Autoren (viele im Original; Englisch ist die einzige Fremdsprache, die ich flüssig lese). Unter den Franzosen sticht eindeutig Flaubert hervor, bei den Russen ist die Auswahl sehr konventionell. Italiener und Spanier sind nur vereinzelt vertreten.

Inmitten der »Bibliothek« steht ein Lesesessel. Im Hintergrund sind hier Nachschlagewerke zu sehen, direkt hinter dem Sessel und rechts davon ist die Goethe-Sammlung; ganz rechts sind noch Kleist und Fontane zu erraten.

bibliothek03Außer dieser Hauptmasse finden sich auch sonst in allen Räumen außer der Küche und dem Bad Bücherregale. Hier dürften die gut 12 Meter Philosophie den wichtigsten Teil bilden, die im Arbeitszimmer direkt hinter mir stehen. Dabei liegen die Schwerpunkte auf der Antike, dem deutschen Idealismus und seinen Folgen und dem 20. Jahrhundert (allerdings mit Ausnahme Sartres ohne die Franzosen). Auch hier ist die Aufstellung aus praktischen Gründen nach Alphabet. bibliothek04Neben diesen Hauptgruppen gibt es einzelne Regale für Geschichte, Kulturwissenschaften und Religion, Germanistik (wenig für einen, der das Fach studiert hat) und Rhetorik, Naturwissenschaften und was man sonst noch so braucht. Da kommen auch noch einige Meter zusammen. Insgesamt herrscht drängender Platzmangel, was die zahlreichen Bücherstapel in allen sich anbietenden Ecken beweisen.

Besonders alte oder wertvolle Ausgaben finden sich bei mir kaum; ich  arbeite mit den Büchern, da sind solche Eigenschaften eher hinderlich beim praktischen Umgang. Auch habe ich nie besonderen Wert auf Erstausgaben gelegt, wenn sich auch hier und da Ausnahmen finden.

Fabio Stassi: Die letzte Partie

978-3-0369-5535-3 Ein Schach-Roman, wie die meisten anderen voller Fehler und Schlampigkeiten, weil die wenigsten Schriftsteller Schachspieler sind und noch weniger Schachspieler Schriftsteller. Diesmal dreht es sich um den dritten Schachweltmeister José Raúl Capablanca y Graupera (1888–1942), der den Titel 1921 dem alternden Lasker abgewann und ihn unerwartet schon 1927 an Alexander Aljechin wieder verlor. Den erzählerischen Rahmen des Buches bildet ein fiktiver Wettkampf zwischen Capablanca und einem namenlosen Amerikaner (es kann sich nach Lage der Dinge eigentlich nur um Samuel Reshevsky handeln), der 1941 in einem winzigen Ort in Portugal ausgetragen wird. Der Gewinner des Wettkampfes soll das Recht haben, gegen Aljechin um den Titel des Weltmeisters zu spielen.

Eingefügt in diesen erzählerischen Rahmen ist eine romanhafte Biografie Capablancas. Stassi betont in einer Vorbemerkung zum Buch, sein Held hieße »nur durch Zufall José Capablanca«, was wohl heißen soll, dass das Buch keinen Anspruch macht, zwischen Fiktion und historischer Tatsache zu unterscheiden. So ist es denn auch geworden: Frei erfundene Passagen, offenbare Anekdoten, Gerüchte und konkrete Lebensumstände werden munter miteinander gemischt. Man kann dem mit Vergnügen folgen, man darf es aber auch für gänzlich belanglos halten.

Ärgerlicher sind die in Schach-Erzählungen üblichen Schlampigkeiten, denen auch hier weder Autor noch Übersetzerin entkommen sind:

  • Beim Schach werden keine Notizblöcke verwendet, sondern Notationsformulare;
  • es gibt nichts in der Schachterminologie, das »eine Königsvariante« heißt;
  • der Satz »Unter Zugzwang machte er nie einen Fehler« ist blanker Unsinn, da Zugzwang genau die Situation im Schach bezeichnet, in der der Spieler durch seine Verpflichtung zu ziehen gezwungen ist, einen Fehler zu machen;
  • so etwas wie ein »Simultanschachturnier« existiert zwar, ist aber etwas anderes als die im Buch gemeinte »Simultanveranstaltung«;
  • Schachuhren surren nicht, sie ticken;
  • der Schachspieler Nabokovs heißt auf Deutsch Lushin und nicht Luzin, selbst wenn ihn die Italiener so schreiben sollten;
  • das 8×8-Schachbrett existiert nicht »seit Jahrtausenden«;
  • und auch das Folgende ist nur unfreiwillig komisch:

Wenn man keine groben Fehler beging, entschied sich alles am Schluss.
Nur am Schluss.

Nein, auch wenn man grobe Fehler begeht, entscheidet sich die Schachpartie stets am Schluss, nämlich dann, wenn sie aus ist.

Auch der Versuch, die historischen Rahmenbedingungen darzustellen, macht nur den Dilettantismus des Autors klar: Da weiß einerseits Capablanca bereits im März 1941, dass die Wehrmacht eines Tages in Moskau einmarschieren werde, und andererseits unterhält man sich angeblich 1938 in der Schweiz über die Erfolge Adolf Hitlers »bei den letzten Wahlen«.

Richtig ärgerlich ist aber Gewäsche wie dieses (ich kommentiere den Text fortlaufend in eckigen Klammern):

Die Figuren auf dem Schachbrett bildeten ein merkwürdig verzogenes Muster [eine ungewöhnliche Stellung], das nur schwer zu deuten war. Weiß hatte drei Bauern, einen Turm und beide Läufer und Springer eingebüßt. [Normalerweise sagt man, was noch auf dem Brett ist; die Information, welche Figuren Weiß eingebüßt hat, besagt gar nichts, solange wir nicht wissen, wie es bei Schwarz aussieht.] Wie es zu dieser seltsamen Konstellation gekommen war, wusste sich keiner der Anwesenden zu erklären. [Wahrscheinlich durch abwechselndes Ziehen der beiden Kontrahenten.] Schwarz war am Zug. Mit seinen kleinen Fingern hob José Raúl den Springer und verkündete [sagte] »Schach«, indem er ihn im Schutz des Läufers [gedeckt durch den Läufer] zwischen Dame und Turm platzierte. Der weiße König brachte sich in die letzte Reihe [auf der letzten Reihe] in Sicherheit. José Raúl zog einen der Türme in die Mitte des Spielfelds [ins Zentrum]. Der Unbekannte raubte [schlug] ihm einen Läufer und schöpfte neue Hoffnung. Doch Capablancas Turm wanderte [zog] zum Ende der Reihe [bis auf die Grundlinie? an den Rand?] und bot ein zweites Mal Schach. Der König wich zur Seite aus, wurde aber von der schwarzen Dame angegriffen. Er machte noch einen Schritt. [Mehr als einen Schritt pro Zug kann er wohl auch nicht machen.] Beharrlich zog der schwarze Turm nach. Der weiße Turm stellte sich ihm entgegen [wurde dazwischen gezogen]. José Raúl entwendete [schlug] einen Bauern. Da entfernte die weiße Dame selbstgewiss [es handelt sich um ein Stück Holz oder Elfenbein!] den schwarzen Springer. Dem Unbekannten war das Lächeln ins Gesicht zurückgekehrt, als hätte er nicht mehr einen Bengel von sechs Jahren vor sich, sondern als wäre er kurz davor, Golmayo oder Vázquez zu schlagen. José Raúl platzierte seine Dame ins letzte Feld [wo mag das »letzte Feld« eines Schachbretts sein?] und sagte mit seinem hellen Stimmchen ein viertes Mal: »Schach dem König.« Beruhigt begab sich der König in die Deckung seines Turms [zog der König hinter seinen Turm]. Dreist setzte Jose Raúl ihm seinen Turm vor die Nase und verkündete ein fünftes Mal Schach.

Es geht in diesem Stil noch einen ganzen Absatz weiter bis zum Schachmatt. Der Vorteil eines solchen Stils ist offensichtlich: Dem Nichtschachspieler wird der Eindruck eines wichtigen Geschehens vermittelt, ohne dass man ihm zumutet, wirklich etwas zu verstehen. Würde man ihm ein Diagramm einer konkreten Stellung zeigen und zudem eine konkrete Zugfolge, würde er bald ärgerlich, denn wenn er nach vieler Mühe vielleicht heraus hätte, was das Bildchen und die kryptischen Zeichen sollen, so müsste er feststellen, dass er dem Geschehen immer noch nicht folgen kann, ohne ein Schachbrett aufzubauen, wenn er denn überhaupt eines im Haus hat. Die wenigen Schachspieler, die sich über den poetischen Unfug ärgern, fallen da kaum ins Gewicht. Lesen die überhaupt Romane? – Angesichts des vorliegenden wahrscheinlich besser nicht!

Fabio Stassi: Die letzte Partie. Aus dem Italienischen von Monika Köpfer. Zürich: Kein & Aber, 2009. Pappband, Lesebändchen, 236 Seiten. 19,90 €.

John Updike: Gertrude und Claudius

978-3-570-19528-4 Erzählung der Vorgeschichte des Hamlet Shakespeares von der Hochzeit von Hamlets Eltern bis zum Anschluss an die zweite Szene des ersten Aktes bei Shakespeare. Reizvoll ist die Entscheidung Updikes, kenntlich zu machen, dass er aus drei verschiedenen Quellen schöpft, in dem er in den drei Teilen des Buches die Figuren unter verschiedenen  Namen (Amleth, Hamblet, Hamlet / Gerutha, Geruthe, Gertrude / Horwendil, Horvendile, Hamlet)  auftreten lässt. Damit hört aber die Treue zu den Quellen auch fast schon wieder auf. Wahrscheinlich soll es ein Ausdruck von Ironie gelten, dass alle Handelnden durchweg als Figuren modernen Zuschnitts auftreten. Was im Text allerdings daraus entsteht, ist und war zu allen Zeit Schwulst:

Gerutha erfuhr in diesem Augenblick ein Frauengeheimnis: zu lieben ist ein Vergnügen, das jenem, geliebt zu werden, entspricht, ihm antwortet, wie die Kamine zu beiden Seiten eines Saales einander ihre Wärme entgegenstrahlen. Die Liebe einer Frau ist ein Strömen, das, einmal ausgelöst, nur unter großen Schmerzen zum Versiegen gebracht werden kann. Die des Mannes ist im Vergleich dazu ein jähes Sprudeln. Sie eilte in ihrer schimmernden Nacktheit zum Bett, neben dem, auf einem kleinen Tisch, eine einzelne Kerze brannte, fand auf dem Kopfpolster ihre Nachtmütze, zusammengefaltet wie ein dicker rauher Liebesbrief, und in den Schatten von Horwendils dann und wann donnernden Schlummer geschmiegt, schlief sie ein.
[…]
Horwendil ließ es seither nicht an Tatenlust fehlen, wahrlich nicht, viele Ausrufe des Lobs und des Entzückens kamen ihm über die kundigen Lippen, wenn sie über ihren Leib hinglitten, und seine Stoßkraft entlud sich jedesmal so reichlich, daß er eine Kumme hätte füllen können, aber empfindsame Prinzessin, die sie war, spürte sie etwas Abstraktes in seiner Leidenschaft: sie war ein Ausdruck seiner allgemeinen Vitalität, nicht mehr. Er wäre mit jeder Frau wollüstig gewesen, und natürlich hatte seine Lust einer ganzen Reihe von Frauen gegolten, bevor sie da war.

Dies ist nur ein Beispiel aus dem ersten Teil; der geduldige Leser kann aber in allen Teilen solche missratenen Passagen finden.

Darüber hinaus macht Updikes Buch nur noch eines deutlich: Dass Shakespeares Entscheidung, Hamlet in das Zentrum seines Stücks zu stellen, statt seine Mutter und seinen Onkel, einmal mehr sein Genie unter Beweis stellt. Sowohl die »unglückliche« erste Ehe Gertrudes als auch ihre sexuell erfüllte zweite sind ödes Klischee, von Updike breitgetreten und bis ins Detail ausgeschwätzt. All das kennt man aus hundert anderen Büchern in gleicher Weise und in mehr als einem Dutzend origineller, konziser und präziser. Updike dagegen bleibt in Erfindung und Ausführung trivial.

John Updike: Gertrude und Claudius. Aus dem Amerikanischen von Maria Carlsson. Lizenzausgabe. Hamburg: Gruner + Jahr, 2006. Leinenrücken, Lesebändchen, 269 Seiten. 10,– €.

Stewart O’Nan: Das Glück der anderen

978-3-570-19532-1 Erzählt wird die Geschichte der Stadt Friendship und ihres Sheriffs, Predigers und Totengräbers Jacob Hansen, über die binnen weniger Tage gleich zwei Katastrophen hereinbrechen: Zum einen eine Diphtherie-Epidemie, zum anderen ein verheerendes Großfeuer, das sich aufgrund eines langanhaltenden trockenen Sommers unaufhaltsam ausbreitet. Weder die Zeit noch der Ort der Handlung werden präzise bezeichnet, doch offensichtlich handelt es sich um eine amerikanische Kleinstadt Ende des 19. Jahrhunderts: Der Telegraph ist schon etabliert, aber nicht das Telefon, Jacob Hansen fährt schon Fahrrad, aber es gibt noch keine Autos. Der Leser darf annehmen, dass O’Nan die Handlung absichtlich in die Zeit unmittelbar vor den ersten Erfolgen bei der Bekämpfung der Diphtherie in den 1890er Jahren gelegt hat.

Dabei geht es O’Nan nur in zweiter Linie um die Beschreibung der Folgen einer solchen Epidemie für eine Kleinstadt, sondern in der Hauptsache um die Auswirkungen auf seinen Protagonisten: Jacob Hansen verliert durch die Diphtherie bereits sehr früh im Roman seine kleine Tochter und seine Frau, bleibt aber dennoch bis zum Ende unermüdlich für seine Stadt tätig. Dies gelingt ihm durch eine Ablösung von der Realität des Geschehens, die er erst aufgibt, als das Ende der Stadt unmittelbar bevorsteht. Unterstützt wird die Beschreibung dieser Ablösung durch die durchgehende Verwendung der literarisch sehr seltenen Du-Erzählung: Der Erzähler – dass er mit dem Protagonisten identisch ist, kann nur vermutet werden – spricht den Protagonisten stets mit »Du« an. Diese Sonderform des personalen Erzählens erlaubt es O’Nan, eine deutliche Distanz zwischen Erzähler und Protagonist aufzubauen, ohne dabei auf einen auktorialen Erzähler zurückgreifen zu müssen. In dieser Hinsicht stellt das Buch ein interessantes erzähltechnisches Experiment dar.

Der Originaltitel des Buches A Prayer for the Dying setzt doch einen etwas anderen Ton als das etwas altruistische Das Glück der anderen, das der deutsche Verlag dem Buch aufs Titelblatt gepresst hat. Vielleicht war ihnen der Originaltitel zu negativ für ein  Buch, in dem mehr oder weniger alle Figuren am Ende tot sind. Der Originaltitel weist darauf hin, dass die Katastrophe bei Jacob Hansen auch eine religiöse Krise auslöst. Überhaupt ist die Hauptfigur recht differenziert und vollständig erfunden: Sein Umgang mit den Toten geht bis auf seine Zeit als Soldat im Amerikanischen Bürgerkrieg zurück, aus der auch seine Aversion gegen Pferde – daher das Fahrrad als Fortbewegungsmittel – stammt. Seit langer Zeit von Toten umgeben, sind für ihn die Unterschiede zwischen den Lebenden und den Toten geringer als für einen Alltagsmenschen. Hansens Glaube ist nur ein weiterer Aspekt dieser Verbundenheit des Lebenden mit den Toten.

Alles in allem ein interessanter Roman mit einer außergewöhnlichen, aber überzeugend eingesetzten Erzählperspektive.

Stewart O’Nan: Das Glück der anderen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Lizenzausgabe. Hamburg: Gruner + Jahr, 2006. Leinenrücken, Lesebändchen, 235 Seiten. 10,– €.

Jhumpa Lahiri: The Namesake

978-0-618-48522-2 Geschichte eines aus Calcutta stammenden, in die USA ausgewanderten bengalischen Ehepaars und seiner Kinder, in der Hauptsache des Sohnes Gogol, auf dessen Namen sich der Titel bezieht. Nachdem Gogol als erstes Kind der Gangulis geboren wurde, warten die Eltern auf einen Brief aus Kalkutta, in dem seine Urgroßmutter den Namen für das Kind mitteilt. Doch der Brief geht auf dem Postweg verloren, und da das Kind einen Namen braucht, damit es aus dem Krankenhaus entlassen werden kann, entschließen sich Ashima und Ashoke ihr Kind vorläufig Gogol zu nennen. Da Bengalen sowieso gewöhnlich zwei Namen haben, einen familiären Kosenamen und einen »ordentlichen«, machen sich die Eltern vorerst keine weiteren Gedanken.

Auf Gogol ist Vater Ashoke verfallen, da er selbst ein großer Verehrer Nikolai Gogols ist. An einer Stelle zitiert er den berühmten Ausspruch Dostojewskis: »We all came out of Gogol’s overcoat«, was für The Namesake auf ganz witzige Weise zutrifft, denn auch Der Mantel beginnt bekanntlich mit den Schwierigkeiten, einen Namen für den gerade geborenen Protagonisten zu finden.

Doch ansonsten ist Nikolai Gogol ein Nebenthema. In der Hauptsache dreht sich das Buch um das Nebeneinanderbestehen zweier Kulturen: Während Gogols Eltern versuchen, soweit wie möglich an ihrer bengalischen Kultur festzuhalten, wächst Gogol mehr und mehr in die US-amerikanische hinein. Seine Eltern, deren Freunde, die regelmäßig stattfindenden Reisen nach Kalkutta, das Essen, die Feste – von all dem entfremdet sich Gogol mehr und mehr. Aber der unverhoffte Tod des Vaters wird zu einem wichtigen Wendepunkt in Gogols Lebens.

The Namesake ist ein Entwicklungsroman, dessen Reiz nicht nur aus dem zugrundeliegenden Konflikt zweier Kulturen erwächst, sondern auch aus Lahiris ruhiger und distanzierter Erzählhaltung. Für einen Erstling ist der Roman erstaunlich abgeklärt und ausgewogen. Einzig Gogols Schwester Sonia bleibt als Figur ein wenig blass. Ansonsten eine rundum angenehme und intelligent unterhaltende Lektüre.

Jhumpa Lahiri: The Namesake. Boston, New York: Houghton Mifflin, 2004. Paperback, 291 Seiten. Ca. 10,– €.

Max Frisch: Homo faber

978-3-518-36854-1 Wie schon erwähnt, ist bei mir gerade aus didaktischen Gründen Max Frisch »dran«. Ich hatte eigentlich vor Jahren innerlich mit der Frisch-Lektüre abgeschlossen. Frisch war bei mir einer der ganz frühen, wichtigen Autoren in der Lesegeschichte, aber eines Tages war es dann soweit, dass ich alles Belletristische von ihm wenigstens einmal gelesen hatte – von den architektonischen Texten fehlt mir das meiste, aber das hat mich nie sonderlich interessiert, und auch viele der politischen Traktate und Reden habe ich übersprungen –, die wichtigen Romane und Erzählungen auch mehrfach, so dass ich beruhigt denken durfte, es sei nun genug und es gäbe auch noch soviel anderes zu lesen. Nun habe ich aber vor einiger Zeit angefangen, Literatur zu unterrichten, und so kommt man zu den alten Texten doch noch einmal zurück. Im nächsten Semester steht dann auch Dürrenmatt wieder einmal auf dem Plan.

Homo faber ist bei der nun fünften oder vielleicht auch sechsten Lektüre wieder einmal ein Buch vor dem ich mit Staunen und Schrecken stehe. Schrecken über die streckenweise hölzerne, ungelenke Sprache, bei der ich mir auch heute noch nicht sicher bin, wie viel von ihr der Rollenprosa Walter Fabers geschuldet ist und wie viel schlicht dem Unvermögen des Autors. Da geht Faber ein »Ristorante […] durch den Kopf«, das Wort »komisch« wird ständig für »seltsam« oder »merkwürdig« eingesetzt, auch dort, wo sich daraus kein Doppelsinn ergibt, Vorzeitigkeit zum erzählerischen Präteritum wird mit dem Perfekt gebildet, ein Nominativ ersetzt einen Akkusativ, hier und da fehlt eine Negation im Satz, um ihn logisch konsistent zu machen, da gibt es »jüdische Pässe« und was der Flausen mehr sind. Wie gesagt: Einiges davon mag man auf das Konto des Erzähler Fabers buchen wollen, aber auch in anderen Texten Frischs geht es zuweilen sprachlich recht locker zu. Ich erinnere mich an eine Stelle aus Montauk:

BLUE RIBBON, die Lichtschrift rot wie Limonade in der Dämmerung.

Staunend allerdings stehe ich auch diesmal – und diesmal wohl mehr als je zuvor – vor dem motivischen Reichtum des Textes, vor der sorgfältigen Gestaltung der Erzählerfigur, vor dem Verzicht darauf, seinen Erzähler wenigstens bis zur der Einsicht gelangen zu lassen, die der Autor ihm voraushaben muss, weil der Autor weiß, dass ihm auch dieses Bildnis von sich und der Welt nichts helfen würde. Faber ist nicht mehr zu helfen, aus seiner Verblendung gibt es keinen anderen Weg als den Tod – und so stirbt er, als er endlich mit seinem Schreiben in seiner Gegenwart angekommen ist. Da Faber eine Figur ohne Zukunft ist, gibt es weiter nichts zu schreiben.

08.05 Uhr
Sie kommen.

Mit manchen Dingen schließt man vielleicht doch nie ab …

Max Frisch: Homo faber. Suhrkamp Tacshenbuch 354. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977. 208 Seiten. 8,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (25)

Das Publikum? Was sind das denn für Menschen? Was wissen sie schon? Die Vorstellung, die sich das Publikum von der Geburt eines literarischen Werks macht, entspricht haargenau, haargenau jener, die sich kleine Kinder von der Geburt eines Babys machen. Die meisten glauben, Bücher bringe der Storch.

Gilbert Adair
Blindband

Bernhard Schlink: Das Wochenende

978-3-257-06633-3 Eine merkwürdig gekünstelte Auseinandersetzung mit den Spätfolgen des deutschen Terrorismus. Erzählt wird vom ersten Wochenende des ehemaligen Terroristen Jörg, der nach über zwanzig Jahren Haft begnadigt wurde. Seine Schwester hat ein Wochenende auf dem Land geplant und dazu einige alte Freunde Jörgs zusammen mit ihren Familien und seinen Anwalt eingeladen; uneingeladen stoßen dann noch ein politischer Agitator, der Jörg als Leitfigur eines neuen Terrorismus instrumentalisieren will, und Jörgs Sohn hinzu, der nach dem Selbstmord seiner Mutter bei den Großeltern aufgewachsen ist und während der Zeit der Haft keinen Kontakt zu seinem Vater gehabt hat.

Man denkt sich leicht, dass aus einem solchen Reagenzglasexperiment kaum etwas Originelles hervorgehen kann. Und genauso kommt es auch: Das Buch ist angefüllt mit phrasenhaften Dialogen, Wendungen und Beschreibungen. Selbst die potenziell spannendste Figur, der Terrorist, schwafelt nur dumm daher wie alle anderen. Zwischendurch sollen dann auch noch die Anschläge vom 11. September mittels einer Binnenerzählung eingebunden werden. Als dann zuletzt auch noch hochsymbolisch der im Unwetter vollgelaufene Keller gemeinsam ausgeschöpft wird, erreicht der Roman zugleich den Höhepunkt seiner erzählerischen Hilflosigkeit. Weder weiß der Autor, was er eigentlich erzählen will, noch gelingt es ihm, aus der von ihm angelegten Konstellation irgend etwas Interessantes oder Spannendes zu entwickeln. Nichts, was der Autor einfach wirken lassen kann, kein noch so kleines Geheimnis, das er nicht sofort und auf direktestem Wege ausplaudern würde.

Ein – angesichts der durchaus ansprechenden Bücher Schlinks zuvor – durch und durch enttäuschendes Buch.

Bernhard Schlink: Das Wochenende. Zürich: Diogenes, 2008. Leinen, Lesebändchen, 225 Seiten. 18,90 €.

Urs Bircher: Max Frisch

3-85791-286-3 Die bislang einzige umfangreiche biografische Darstellung des Lebens von Max Frisch, die inzwischen auch nicht mehr lieferbar ist. Wer sich derzeit über Frischs Leben informieren möchte, ist – wenn er nicht antiquarisch suchen will – auf die inzwischen ebenfalls mehr als zehn Jahre alte, dünne Rowohlt-Monographie von Volker Hage angewiesen. Das ist kein gutes Zeichen für einen Autor.

3-85791-297-9 Die beiden Bände von Urs Bircher behandeln sowohl die eigentliche Biografie als auch das Werk umfassend und – soweit ich das beurteilen kann – sorgfältig. Die Darstellung der Werke hat zumeist einführenden Charakter, was dem Rahmen des Buches aber ganz angemessen ist. Hier und da merkt man, dass das Buch von einem Fan geschrieben wurde, da kritische Stimmen zwar in Auswahl zitiert werden, die Zustimmung von Rezensenten und Kollegen zum Werk aber nahezu immer im Vordergrund steht. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Schwächen des Autors Frisch sollte man nicht erwarten. Auch eine Auseinandersetzung mit der Nachwirkung zumindest für das knappe Jahrzehnt nach Frischs Tod fehlt. Die zahlreichen Überschriften und ein Namen- und Werkregister in beiden Bänden erlauben den gezielten Zugriff auf bestimmte Themen oder Werke. Etwas lästig ist für den Leser allein die Marotte, die Legenden zu allen Bilder am Ende des jeweiligen Bandes zu versammeln.

Urs Bircher: Max Frisch 1911–1955. Vom langsamen Wachsen eines Zorns. Zürich: Limmat Verlag, 1997. Bedruckter Pappband, 287 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Ders.: Max Frisch 1956–1991. Mit Ausnahme der Freundschaft. Zürich: Limmat Verlag, 2000. Bedruckter Pappband, 276 Seiten. Derzeit nicht lieferbar.

Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel

978-3-257-06174-1 Ein mit 36 Briefen dünner Briefwechsel dieser beiden prominentesten Schweizer Autoren des vergangenen Jahrhunderts, den ich aus didaktischem Anlass wieder einmal aus dem Schrank geholt habe. Natürlich erklärt sich der geringe Umfang hauptsächlich daraus, dass Frisch und Dürrenmatt sehr vieles mündlich verhandelt haben bzw. sich später nur noch wenig zu sagen hatten. Man merkt beiden am Ende die gute Absicht an, mit der der jeweils andere nichts mehr anzufangen weiß. Dennoch waren sie wohl bis zum Schluss mit dem Gegenüber innerlich mehr beschäftigt, als es die äußerlich bleibenden Briefe ahnen lassen.

Daher ist das beinahe Wichtigste an dem Buch der umfangreiche Essay Fast eine Freundschaft des Herausgebers Peter Rüedi, der die Bekanntschaft der beiden Autoren sorgfältig aufarbeitet und darstellt. Rüedi hat zudem die einzelnen Briefe sorgfältig kommentiert, so dass das Bändchen eine Fülle von biografischen Materialien zu beiden Autoren liefert. Die Texte sind ergänzt um einige Brief-Faksimiles und Bilder sowie eine parallele Chronik zu beiden Autoren. Ein Personen- und Werkregister erschließt das Buch.

Max Frisch / Friedrich Dürrenmatt: Briefwechsel. Hg. v. Peter Rüedi. Zürich: Diogenes, 1998. Leinen, Lesebändchen, 240 Seiten. 19,90 €.