Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo

feuchtwanger_toledo Endlich also Feuchtwanger! Feuchtwanger ist eine der ganz großen Lücken meiner Lesegeschichte. Nun hat der Aufbau Verlag anlässlich der 50. Wiederkehr des Todestages drei Kassetten mit Romanen Feuchtwangers auf den Markt gebracht: zum einen fünf historische Romane – darunter eben auch Die Jüdin von Toledo –, zum zweiten die »Wartesaal«-Trilogie und zum dritten die Josephus-Trilogie. Ich habe das zum Anlass genommen, endlich mit der Feuchtwanger-Lektüre zu beginnen.

Die Jüdin von Toledo behandelt die legendenhafte Affäre Alfons VIII. von Kastilien mit einer schönen Jüdin, die seit dem 16. Jahrhundert zahllose Bearbeitungen in Romanzen, Dramen und Erzählungen erfahren hat, selbst aber natürlich alles andere als originell ist, sondern letztendlich auf den Aufenthalt des Odysseus auf der Insel der Kalypso zurückgeht. Was den Roman Feuchtwangers auszeichnet, ist, dass er diese Legende in ein historisch genaues Zeitbild Spaniens im 12. Jahrhundert einpasst, die Geschichte der »Fermosa« mit den historischen Ereignissen verknüpft und ihr auf diese Weise mehr als die übliche tragische Liebesgeschichte abgewinnt.

Feuchtwangers Erzählung beginnt mit der Rückkehr Jehuda Ibn Esras nach Toledo. Er ist eine Art Wirtschaftsminister für Alfons VIII., der gerade in einen achtjährigen Frieden mit den Moslems der iberischen Halbinsel hat einwilligen müssen. Jehuda kehrt mit einer fast erwachsenen Tochter und einem jüngerern Sohn in das toledanische Haus seiner Familie zurück, das zuvor von den Baronen Castro bewohnt war, mit denen Alfons VIII. verfeindet ist. Alfons ist mit seinem neuen Minister nicht sehr zufrieden, da dessen Vorsicht, Umsicht und Bedachtsamkeit seinem ritterlichen Wesen zuwider sind. Alfons erscheint als eine Art gezähmter Raufbold, der sich nur ungern sagen lässt, was gut für sein Land ist.

Als Alfons die Tochter Jehudas, Raquel, kennenlernt, verliebt er sich widerstrebend in sie. Er lässt für sie ein altes Lustschloss in der Umgebung Toledos wieder herrichten und verfügt, dass sie dort zu wohnen habe. Vater und Tochter willigen in dieses Arrangement ein, und Alfons verfällt dort seiner Liebe zu Raquel so sehr, dass er darüber sein Land und seine Frau vergisst. Seine Frau Leonora aber, immerhin Tochter des englischen Königs Heinrich II., verzehrt sich vor Eifersucht und dynastischen Befürchtungen, denn Raquel gebiert Alfons den lang ersehnten Sohn und möglichen Thronfolger. Leonora stiftet also einen Krieg an, der ihren Mann aufs Schlachtfeld zwingen soll, wo er seine kleine Jüdin hoffentlich rasch vergessen soll. Um sicher zu gehen, stiftet sie – während Alfons sich im Krieg befindet – auch noch einen der Barone Castro zur Ermordung Jehudas und seiner Tochter an. Das Kind bleibt verschont, da es Jehuda schon zuvor hat in Sicherheit bringen lassen, um es der christlichen Taufe zu entziehen. Den aus dem Krieg nach Toledo geschlagen zurückkehrende König trifft die Nachricht von der Ermordung Raquels schwer. Er geht als veränderter, tief getroffener Mann aus dieser Kriese hervor.

Feuchtwanger leuchtet den Stoff gründlich aus: Ihn interessieren über die tragische Liebesgeschichte hinaus das Verhältnis von Privatem und Historischem, die wirtschaftlichen Grundlagen von Krieg und Frieden, das Verhältnis der drei abrahamitischen Religionen zueinander sowohl im historischen als auch im aktuellen Sinn. Er setzt der kriegerischen bzw. feindlichen Opposition der Angehörigen der Glaubensgruppen die tolerante Auseinandersetzung freier Geister im Hause Jehudas gegenüber, in dem ein moslemischer Skeptiker, ein christlicher Zweifler und ein junger jüdischer Wahrheitssucher gleichberechtigt miteinander umgehen, ohne dass dazu einer von seiner Religion oder seiner Herkunft Abstand nehmen müsste.

Als etwas mühsam mögen einige jüngere Leser wahrscheinlich die leicht manieristische Sprache des Romans empfinden, die auch hier und da Kobolz schießt. Was mir am meisten gefehlt hat, ist psychologische Dynamik der Figuren: Außer Alfons und Raquel wandelt sich eigentlich keine der Figuren, und selbst bei diesen beiden erscheint die Verwandlung mehr behauptet als durchgeführt. Und Sätze wie die folgenden sind schon das Höchste, wozu sich Feuchtwanger aufschwingt:

Don Alfonso hörte zu, ablehnend, doch mit Teilnahme. Seine Welt war nun einmal die der Ritter. Die Wahrheit eines Königs war eine andere als die eines alten Juden und Bänkers. Seine, Alfonsos, Philosophie waren die Lieder Bertrans. Dabei hat dieser Ephraim vermutlich recht, und wenn er, Alfonso, in zwölf Jahren seinen Krieg erfolgreich führen will, muß er jetzt die Untern verhätscheln.

Die Wahrheit eines Königs ist nicht die eines Bänkers und dennoch hat der Bänker wahrscheinlich recht? Was für eine Sorte von Wahrheit soll denn das bitte sein? Und »Seine Welt war nun einmal die der Ritter« befindet sich psychologisch etwa auf dem Niveau von »La donna è mobile«.

Insgesamt ein gut lesbarer, stoffreicher Roman über die hochmittelalterliche Phase der Reconquista.

Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo. Mit dem Nachwort des Autors von 1955. Aufbau Taschenbuch 5638. Berlin: Aufbau, 112008. 511 Seiten. 9,95 €.

He, Joe, Quadrat I und II, Nacht und Träume, …

beckett_he_joeIn den gedruckten Werken Samuel Becketts gab es bis dato immer eine Werkgruppe, deren Präsentation unbefriedigend blieb. Anders als bei den Dramen Becketts hatte man bei den Texten, die jene späten, in Zusammenarbeit mit dem SDR entstandenen Fernsehstücke repräsentierten, stets den Eindruck, hier würde etwas Wesentliches fehlen. Das lag zum einen an der offensichtlichen Tatsache, dass Beckett bei ihnen auch selbst Regie geführt hatte und also die späten Stücke direkt auf diese spezielle Produktionssituation hingeschrieben hatte. Beckett hatte daher wohl bereits beim Schreiben ein bestimmtes visuelles Konzept für diese Stücke vor Augen, das den reinen Text überstieg. Zum anderen waren die Stücke zum Teil so grundsätzlich visuell – und zum Teil auch akustisch – fundiert, dass Texte prinzipiell unzureichend zur Darstellung bleiben mussten. Diese Lücke schließt nun eine DVD aus der filmedition suhrkamp.

Becketts Fernsehstücke wurden zwischen 1965 und 1985 beim SDR in direkter Zusammenarbeit mit dem Autor produziert und – zumeist zu später Stunde – in den 3. Programmen gesendet. Ich selbst kann mich gut an den umwerfenden Eindruck erinnern, den Quadrat I und II auf mich gemacht haben, als ich es noch zur Schulzeit gänzlich zufällig im Fernsehen gesehen habe. Ich hatte dergleichen nie gesehen und dennoch war mir das Stück unmittelbar einleuchtend. Von Beckett kannte ich zu der Zeit nur Warten auf Godot – dessen Komödien-charakter mir ebenso unvermittelt klar gewesen war – und ein weiteres Theaterstück, wahrscheinlich Glückliche Tage, zu dem ich aber keinen Zugang gefunden hatte. Erst das Erlebnis von Quadrat I und II löste meine erste intensive Auseinandersetzung mit Beckett aus, den ich bis heute für einen der bemerkenswertesten Autoren des vergangenen Jahrhunderts halte.

Die DVD enthält alle vom SDR produzierten Fernsehstücke. Das sind im Einzelnen (mit Jahr der Erstaustrahlung):

  • He, Joe (1966)
  • Schatten (1977)
  • Geister-Trio (1977)
  • … nur noch Gewölk … (1977)
  • Not I (1977)
  • He, Joe (1979)
  • Quadrat I und II (1981)
  • Nacht und Träume (1983)
  • Was Wo (1986)

Ergänzt werden die Filme durch den umfangreichen Essay Erschöpft von Gilles Deleuze (in deutscher Übersetzung durch Erika Tophoven), der schon 1992 eine französische Ausgabe der Fernseharbeiten Becketts begleitet hatte. Qualitativ vermitteln die Filme in etwa den Eindruck, den sie auch bei ihrer Erstausstrahulung gemacht haben dürften; von einer digitalen Überarbeitung hat man offenbar abgesehen.

Samuel Beckett: He, Joe, Quadrat I und II, Nacht und Träume, Geister-Trio … filmedition suhrkamp Nr. 3. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008. 1 DVD (Länge: 156 Min.) und 1 Begleitheft (60 Seiten). 19,90 € (unverbindliche Preisempfehlung).

Joseph Roth: Radetzkymarsch

Auch eines der vielen Bücher, die ich nach langer Zeit noch einmal lese. Es ist bislang das einzige Buch Joseph Roths, das ich gelesen habe, und als ich es vor über 25 Jahren zum ersten Mal las, konnte ich mit seiner statischen und in vielen Teilen voraussehbaren Handlung wenig anfangen. Dafür, dass seine Statik zugleich die Statik des zum Ende kommenden österreichischen Kaiserreichs ist, fehlte mir damals der Sinn.

Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte dreier Generationen der Familie von Trotta. Der erste von Trotta, Sohn einer Bauernfamilie, rettet durch seine Geistesgegenwart dem jungen Kaiser Franz Josef I. in der Schlacht von Solferino das Leben. Er wird geadelt, zum Hauptmann befördert und gründet eine Familie. Aus Verbitterung über eine historisch falsche Darstellung seiner Tat von Solferino in einem Lesebuch seines Sohnes, nimmt er seinen Abschied und verbietet seinem Sohne eine militärische Karriere. Doch sein Enkel wird wieder Offizier, zuerst bei der Kavallerie, dann bei der Infanterie. Dieser Enkel des Helden von Solferino ist ein typischer Spätling: initiativ- und orientierungslos, moralisch naiv und indifferent, sensibel, doch ohne die Möglichkeit, dieser Empfindsamkeit irgendeinen Ausdruck zu geben.

Natürlich kommt es wie es kommen muss: Der Enkel Carl Joseph von Trotta verwickelt sich in Affären, Spiel und Trunksucht, macht Schulden und muss schließlich von seinem Vater aus einer ausweglos erscheinenden Situation gerettet werden, indem der eine kurzfristige Audienz beim Kaiser erzwingt. Doch damit scheint der Kredit der von Trottas verbraucht zu sein. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs markiert deutlich den Untergang des Kaiserreiches und zugleich der von Trottas: Carl Joseph fällt, als er sich für seine Männer nutzlos einer tödlichen Situation aussetzt. Mit ihm endet das Geschlecht des Helden von Solferino.

Wie schon angedeutet, ist die Geschichte derer von Trotta zugleich die des Untergang des Kaiserreichs. Nicht umsonst wird der Sohn des Helden von Solferino im Alter seinem Kaiser immer ähnlicher, so dass, als sie sich schließlich gegenüberstehen, wie ein Bruder des Kaisers zu sein scheint. Roths zugleich distanzierte und empathische Darstellung des alten Kaisers und seiner Isolation von der ihn umgebenden Welt gehört sicherlich mit zum besten, was der Roman zu bieten hat.

Bei Diogenes liegt eine vollständige Lesung des Romans durch Michael Heltau vor. Sein leichter österreichischer Akzent bekommt dem Roman sehr gut, allerdings muss man sagen, dass Heltau den Text an einigen Stellen extrem dehnt. Das ist stimmig und passt zu dem Gesamteindruck der Stagnation, die der Roman vermittelt, stellt den Zuhörer aber trotzdem hier und da auf eine Geduldsprobe. Man sollte sich also ein wenig Einhören und nicht zu rasch aufgeben.

Joseph Roth: Radetzkymarsch. dtv 12477. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1998. 416 Seiten. 9,50 €.

Joseph Roth: Radetzkymarsch. Gelesen von Michael Heltau. Zürich: Diogenes Verlag, 2007. 7 Audio-CDs. 49,90 € (unverbindliche Preisempfehlung).

Zwei amoralische Freunde

Der deutschen Ausgabe von Tim Weiners Geschichte der CIA – CIA. Die ganze Geschichte – wurde ein eigenes Vorwort verpasst. Als Einstieg nutzt der Verfasser die Assoziation zwischen den US-amerikanischen und deutschen militärischen Geheimdiensten im Sommer 1945. Um die Situation zwischen den beiden Geheimdiensten mit einer griffigen Allegorie zu fassen, benutzt er das Ende des Spielfilms Casablanca:

Der damalige Augenblick war das Spionage-Pendant zum letzten Satz des großartigen, 1942 gedrehten Kriegsfilms Casablanca, als der amoralische Rick Blaine, gespielt von Humphrey Bogart, sich zu seinem ebenso amoralischen neuen Verbündeten, dem französischen Polizeichef und Kollaborateur Louis Renault, gespielt von Claude Rains, umdreht und sagt: »Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.« [S. 13 f.]

Wenn es in Casablanca überhaupt Moralisten gibt, dann sind es gerade diese beiden Zynikern des Stücks. Und gerade ihre gemeinsame Moralität bildet wohl die Grundlage jener »wunderbaren Freundschaft«.

Wollen hoffen, dass der Rest des Buches besser geraten ist.

Kleine Geschichte der Zeitrechnung …

holford-streven_zeitrechnun … und des Kalenders. Eine kurze, dichte und informative Einführung in das Gebiet von Leofranc Holford-Strevens, einem der beiden Autoren des hervorragenden Oxford Companion to the Year. Behandelt werden alle wichtigen Details der bedeutenden Kalendersysteme von der Antike (inklusive des präkolumbischen Kalenders Mittelamerikas) bis in die Neuzeit; selbst einige afrikanischen Besonderheiten finden Erwähnung. Das Kapitel zur Historie der Osterberechnung ist das ausführlichste und beste, das ich bislang in einer vergleichbaren Veröffentlichung gelesen habe. Ebenso findet man wohl nirgendwo sonst eine so knappe und zugleich detaillierte chronologische Darstellung der Einführung des Gregorianischen Kalenders in Europa.

Für alle, die sich für verschiedene Kalendersysteme interessieren oder mit ihnen im Sinne einer Hilfswissenschaft umgehen müssen, stellt diese Einführung eine kleine und preiswerte Alternative zum Oxford Companion dar, natürlich ohne diesen ersetzen zu können. Aber auf sehr viele Fragen wird man schon hier eine Antwort finden.

Leofranc Holford-Strevens: Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders. Aus dem Englischen übersetzt von Christian Rochow. RUB 18483. Stuttgart: Reclam, 2008. 192 Seiten. € 5,–.

Harry Sidebottom: Der Krieg in der antiken Welt

sidebottom_krieg Eine interessante kleine Studie, wenn mich auch der Titel zuerst ein wenig in die Irre geleitet hat. Das Buch beschäftigt sich mit dem »Krieg in der antiken Welt« selbst eher unsystematisch; in der Hauptsache handelt es vom ideologischen Konzept der »abendländischen Art der Kriegführung«. Dies soll nicht bedeuten, das Buch sei nicht informativ; das Gegenteil ist der Fall. Nur wird die Darstellung der antiken Sachverhalte nicht in einer vermeintlich objektiven und neutralen Art und Weise versucht, sondern sie werden stets durch eine spezifische Interpretation dieser Sachverhalte vermittelt. Diese Interpretationen können sowohl der Antike selbst als auch der neueren Geschichtsschreibung entstammen. Dabei ist Sidebottom nicht kleinlich, was die Art der »Geschichtsschreibung« angeht: An gleich drei Stellen ist Ridley Scotts Film »Gladiator« Auslöser seiner Ausführungen.

Hat man sich einmal auf den ideologiekritischen Ansatz des Autors eingelassen, so liefert das Buch zahlreiche interessante Aspekte des antiken Kriegswesens. Die Mehrzahl der Beispiele entstammt der griechischen und römischen Antike; Perser, Germanen, Gallier etc. kommen nur insoweit vor, als sie Gegner der Griechen oder Römer waren und damit zugleich auch ihr ideologisches Gegenbild darstellten. Behandelt werden sowohl der Krieg als Aspekt der griechischen und römischen Gesellschaften, als Teil ihres Selbstverständnisses, aber auch der konkrete Aufbau der Armeen, ihre Kampftechniken, Probleme der Logistik und der Ökonomie.

Insgesamt eine lesenswerte und anregende Einführung in das Thema mit einem anspruchsvollen Ansatz, die aber die Erwartungen historischer Laien wohl nur teilweise erfüllen wird.

Harry Sidebottom: Der Krieg in der antiken Welt. Aus dem Englischen übersetzt von Florian Himmler. RUB 18484. Stuttgart: Reclam, 2008. 224 Seiten. € 5,60.

Monologe auf Mallorca + Die Ursache bin ich selbst

bernhard_monologe Thomas Bernhard ist sicherlich einer der bemerkenswertesten deutschsprachigen Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Selbst seine Kritiker müssen ihm einen unbändigen Stilwillen zugestehen, eine Konsequenz und philosophische Grundierung seiner Stücke, Erzählungen und Romane, die unter seinen Kollegen ihresgleichen sucht. Er ist wohl auch derjenige unter seinen Zeitgenossen, der die meisten Nachahmer gefunden hat, ohne dass diese Nachahmer in irgend einem Sinn seine Schüler gewesen wäre. Und noch die Parodien seiner Texte tragen den Stempel seines Stils, den man zwar leicht auszuhöhlen, aber kaum zu desavouieren vermag. Es könnte sich durchaus einmal erweisen, dass Bernhard der einflussreichste deutschsprachige Autor seiner Generation war.

In seinem letzten Lebensjahrzehnt sind zwei große Fernseh-Interviews mit Thomas Bernhard entstanden: Eine Herausforderung: Monologe auf Mallorca (1980) und  Ein Widerspruch: Die Ursache bin ich selbst (1986). Beide wurden auf Bernhards ausdrücklichen Wunsch von Krista Fleischmann geführt und produziert. Obwohl beide »Gespräche« hauptsächlich als Monologe Bernhards angelegt sind, unterscheiden sie sich sehr stark voneinander: Im früheren erscheint Bernhard überraschend gelöst und entspannt. Alle Äußerungen scheinen ironisch grundiert, nur hier und da bestimmen Pessimismus und Misanthropie den Ton. Bernhard erscheint hier beinahe kokett. Das zweite Gespräch, das in der Hauptsache in Madrid entstand, ist im Grundton deutlich ernster, aggressiver und pessimistischer. Den Höhepunkt bildet hier sicherlich der Besuch eines Stierkampfs, bei dem die Kamera zugleich die Tötung des Stiers in der Arena und Bernhards immer hilflosere Reaktionen auf dieses Geschehen verfolgt. Durchsetzt sind die Monologe Bernhards in diesem Fall durch Zitate aus dem kurz zuvor erschienen Buch Auslöschung, gelesen von Bruno Ganz.

Über die Nützlichkeit dieser beiden Dokumentationen für das Verständnis des Bernhardschen Werkes kann sicherlich gestritten werden. Bernhard geht in beiden Fällen ganz bewusst mit dem Medium des Fernsehens um, inszeniert sich und wird zugleich inszeniert. Auf der einen Seite steht die Kalkulation des Autors auf eine bestimmte Wirkung, auf der anderen Seite wird die Kalkulation gekontert von der Einsicht, dass sich die Wirkung genau dieser Kalkulation entzieht. Es ließe sich spekulieren, ob das zweite Gespräch nicht versuche, dem falschen Bild des ersten ausgleichend ein anderes falsches Bild entgegenzusetzen, aber ein solcher Ansatz griffe sicherlich zu kurz, da er die weiteren Veröffentlichungen Bernhards in der Zwischenzeit ignorierte. Es kann in diesem Sinne Raimund Fellinger, der im Begleitheft den Kontext der Interviews umreißt, darin nur zugestimmt werden, dass diese beiden Gespräche Teil des literarischen Werks von Thomas Bernhard sind.

Thomas Bernhard / Krista Fleischmann: Monologe auf Mallorca + Die Ursache bin ich selbst. Die großen Interviews mit Thomas Bernhard. filmedition suhrkamp Nr. 4. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008. 1 DVD (Länge: 94 Min.) und 1 Begleitheft (44 Seiten). 19,90 € (unverbindliche Preisempfehlung).

Bill Bryson: Eine kurze Geschichte von fast allem

bryson_geschichteEine gut lesbare, erstaunlich differenzierte und breit angelegte populärwissenschaftliche Darstellung des momentanen naturwissenschaftlichen Weltbildes. Mir ist klar, dass ich damit nichts originelles über das Buch sage, aber ich muss mich in diesem Fall einfach der allgemeinen Zustimmung anschließen. Das Buch zeichnet sich erst einmal dadurch aus, dass man seine 600 Seiten tatsächlich gern liest: Jedes Thema wird spannend präsentiert, und es gibt nirgends ein Nachlassen der Neugier des Autors, ganz gleich ob es um astronomische, physikalische, biologische oder geologische Themen geht. Vielleicht fühlen sich die Chemiker ein wenig vernachlässigt, denn ihr Gebiet kommt nur in Sinne einer Hilfswissenschaft z. B. bei der Erörterung biologischer Vorgänge innerhalb der Zelle vor.

Was mir das Buch so besonders bemerkenswert gemacht hat, ist aber nicht allein das in ihm aufbereitete Wissen, sondern die Tatsache, dass das Nichtwissen nahezu gleichberechtigt thematisiert wird. Bryson zeigt nicht nur auf, was in den wenigen hundert Jahren naturwissenschaftlicher Arbeit erkannt wurde, sondern er erzählt auch immer von den Schwierigkeiten, auf die neue Einsichten trafen, von der Neigung der Wissenschaftler zum Status quo ihres Fachgebiets, aber auch von dem, was uns an Erkenntnissen alles noch fehlt. Bryson macht klar, dass das heutige wissenschaftliche Weltbild nur einen Augenblick eines im Fluss befindlichen Projektes darstellt, dass sich mit jeder Antwort auf eine alte Frage zumindest eine, oft aber eine ganze Reihe neuer Fragen auftut und dass unser Wissen immer ein Fragment ist und bleiben wird. Ihm gelingt es auch, die ungeheure Aufgabe zu verdeutlichen, vor der die Naturwissenschaften stehen: Wie in der Biologie etwa allein die Menge der noch nicht beschriebenen Arten eine restlose Überforderung des Menschenmöglichen bedeutet, ganz abgesehen von der Tatsache, dass täglich Arten aussterben, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Oder wie Paläontologen aus einer nur als »dünn« zu bezeichnenden Fundlage versuchen, Jahrtausende evolutionärer Entwicklung zu rekonstruieren. Oder dass Geologen bislang nur ein sehr rudimentäres Verständnis der Vorgänge im Erdinneren haben. Und dieses »Nichtwissen in den Wissenschaften« wird von Bryson sehr oft in den Worten der Wissenschaftler selbst formuliert, denen die Lücken und Schwierigkeiten Ihres Fachs natürlich ungleich deutlicher vor Augen stehen als jedem Laien.

In diesem Sinne bietet Bryson sowohl eine lebendige Wiedergabe des aktuellen wissenschaftlichen Weltbildes als auch, in dem er die Entwicklung der einzelnen Fächer darstellt, eine kleine Wissenschaftsgeschichte. Sicherlich wären hier und da einige Kleinigkeiten anzumerken, aber alles in allem ist dies das beste allgemeinbildende Buch, das ich seit Langem in der Hand gehabt habe.

Bill Bryson: Eine kurze Geschichte von fast allem. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel. Goldmann 46071. München: Wilhelm Goldmann, 2005. 664 Seiten. 9,95 €.