Einiges über Heinrich von Kleist

Im Jahr 2007 sind zwei umfangreiche Kleist-Biografien erschienen: Zum einen von dem renommierten Germanisten Gerhard Schulz bei C. H. Beck, zum anderen vom Journalisten und Kulturwissenschaftler Jens Bisky bei Rowohlt Berlin. Diesen beiden Bänden tritt ein deutlich schmaleres Bändchen von Peter Staengle, Mitherausgeber der Brandenburger Kleist-Ausgabe, an die Seite, das 2006 beim Kleist-Archiv Sembdner in Heilbronn erschienen ist.

schulz_kleistAls gänzlich missraten muss leider Gerhard Schulzens Kleist-Biografie angesehen werden. Das Buch neigt zur Stilblüte, ist allgemein geschwätzig in dem Sinne, dass dem Autor zu irgend einem Detail im Lebens Kleists immer auch noch etwas anderes einfällt, was mit der Sache aber wenig bis nichts zu tun hat, bleibt im Einzelnen oberflächlich, weist zahlreiche offenbare Widersprüche auf, die unvermittelt nebeneinander stehen und was der Mängel mehr sind. Für all dies können hier nur Pars pro Toto einige Beispiel geliefert werden. Sätze wie etwa der folgende, finden sich durchgängig:

Kleist hatte allerdings schon früh in seiner Potsdamer Zeit die Klarinette gewählt und sich darin unterrichten lassen, jenes [sic!] Instrument, von dem man sagte, [sic!] daß es der menschlichen Stimme am nächsten komme, obwohl [sic!] es damals anders klang als heute.

Welche logische Beziehung mag hier durch das Wort »obwohl« ausgedrückt sein? Und was mag das nächste Zitat sagen wollen?

Und so war es damals auch eher förderlich für Kleist, daß sein eigener Aufsatz zunächst in der großen Verborgenheit des Ungedruckten blieb.

An anderer Stelle wird Kleists Abschied vom Militär mit Schillers Desertion in Beziehung gesetzt, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass beide zuvor im Militär waren und nachher nicht mehr. Da findet sich eine gute Seite Text zu Prinz Louis Ferdinand, auf der auch Theodor Fontanes bekanntes Gedicht zitiert wird, um nachher altklug anzumerken, es stimme »nur bedingt«, und in folgender Passage zu gipfeln:

Ob Kleist und Louis Ferdinand einander je begegnet sind, ist nicht überliefert. Sehr früh hat Kleist jedoch in Potsdam einen der «Genossen» des Prinzen kennengelernt: Peter von Gualtieri, der sich Pierre nannte, wie er es überhaupt vorzog, französisch zu sprechen und zu schreiben, selbst an Goethe.

Man denke: Auf Französisch selbst an Goethe! Das waren wilde Zeiten!

Was die kulturellen und intellektuellen Zeitumstände angeht, herrscht bei Schulz im besten Fall Verwirrtheit vor:

Im gleichen Jahre 1777, in dem Heinrich von Kleist geboren wurde, verfaßte sein Landesherr, der Preußenkönig Friedrich II., einen Essay über Regierungsformen und Herrscherpflichten. Darin betrachtete er «die große Wahrheit, daß wir gegen die anderen so handeln sollen, wie wir von ihnen behandelt zu werden wünschen», als «Grundlage der Gesetze» – elf Jahre später erhob Kant diese Wahrheit zum kategorischen Imperativ und «Grundgesetz» der «praktischen Vernunft», also der Sittlichkeit schlechthin.

Auch wenn es ein beliebter Irrtum ist, wird die Gleichsetzung von Goldener Regel und kategorischem Imperativ auch durch Wiederholung nicht richtiger.

An der Schwelle zum technisch-industriellen Zeitalter waren die Naturwissenschaften erst allmählich im Begriff, eigenständig zu werden und sich zu differenzieren – Physik schloß oft noch die Chemie mit ein. Demzufolge bildete Mathematik auch nicht die Zuträgerin von Anwendbarem, sondern war reine Wissenschaft aus der Denkschule vor allem von Leibniz.

Newtons die neue Physik begründendes Buch von 1687 trägt den Titel Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Und Daniel Bernoulli und Leonhard Euler dürften sich für die »Denkschule vor allem von Leibniz« auch herzlich bedankt haben.

Aber auch was Kleist selbst angeht, kann sich Schulz zu keiner auch nur einigermaßen stimmigen Meinung entschließen:

Kleist war seinem Wesen nach ein geselliger, der Freundschaft fähiger wie ihrer bedürftiger Mensch.

[…] der eher Menschenscheue […]

[…] so gesellig er war, so einsam konnte und wollte er zuweilen sein […]

Immer so, wie’s gerade passt, nicht wahr Gevatter?

Das alles sind wohlgemerkt nur wenige von zahlreichen Funden, die sich bereits auf den ersten 100 Seiten dieses Buches machen lassen. Auch dieses Werk wäre wohl besser »in der großen Verborgenheit des Ungedruckten« geblieben!

bisky_kleistIm Gegensatz dazu macht Jens Biskys Biografie einen soliden Eindruck. Auch Bisky liebt zwar die Abschweifung und die ausführliche Darstellung von Informationen zur Zeit Kleists, die man auch andernorts leicht finden könnte, doch insgesamt ist sein Buch ein Zeugnis beeindruckenden Fleißes. Das geht soweit, dass dem Leser an einigen Stellen gänzlich unnötig die absonderlichsten Theorien zu Kleist referiert werden, nur um anschließend zu betonen, all dies sei Spekulation oder Irrtum. Dies macht die Lektüre in manchen Passagen mühsam. Besonders der Fachmann hat Mühe, das Wesentliche unter dem Beiläufigen und Selbstverständlichen herauszufiltern, während der Laie die Lektüre angesichts der schieren Masse von Material wohl gern einstellen würde. An einigen Stellen neigt Bisky auch zur Überinterpretation, so etwa, wenn er versucht, Einheit und Sinn in Kleists frühe Briefe zu bringen, wo etwa Staengle sehr bodenständig und richtig urteilt:

Kleists Briefe in dieser Zeit beschwören ein Bild verzweifelter Orientierungslosigkeit.

Schwächen finden sich auch in der Darstellung der spezifisch deutschen Aufklärung – Lessings Position fehlt komplett; Kants Projekt wird weder von Kleist noch von Bisky richtig verstanden – und der zeitgenössischen Philosophie. Beides ist aber in Bezug auf Kleist zu verschmerzen.

Über einzelne sprachliche Eigenheiten (»Hier wird mit der Zauberrute der Analogie gedacht« oder »Hier liegt der Knüppel beim Hund«) mag man hinwegsehen wollen. Was schmerzlich fehlt ist ein Werkregister, das einen gezielten Zugriff auf die Analyse einzelner Texte Kleists erlauben würde. Die Interpretationen selbst sind nach meinem Geschmack zu oberflächlich und bleiben zu sehr dem offensichtlichen verhaftet, sind aber für jemanden, der sich über Kleist Orientierung verschaffen will, wahrscheinlich nützlich und eine eigene erste Lektüre stützend. Die Erzählungen kommen leider (einmal mehr) deutlich zu kurz.

staengle_kleist Peter Staengles Darstellung konzentriert sich in der Hauptsache auf das Leben Kleists und gibt zu den Werken und ihrer Interpretation eher verhalten Auskunft. Das, was wir über Kleists Leben wissen, wird knapp, präzise und korrekt referiert. Dort, wo Staengle Hinweise zur Interpretation der Werke gibt, sind sie ebenso kurz, wie in die richtige Richtung weisend. Man wünscht sich bald, Staengle und nicht Bisky hätte die umfangreichere Darstellung verfasst. Das Buch ist in dem, was es leisten will und leistet, nahezu als tadellos zu bezeichnen, allerdings liefert es oft eben nur die äußere Schale für das, weswegen Kleist für uns von Interesse ist: das Werk. Wie oben bereits gesagt, sind Staengles Zugriffe normalerweise bodenständig und sehr konkret; er benennt das, was wir wissen, ebenso direkt und ungekünstelt wie das, was wir nicht wissen. Insgesamt sicherlich die angenehmste Lektüre unter den drei Neuerscheinungen.

loch_kleist Es bleibt am Ende nur noch auf die bereits 2003 bei Wallstein erschienene Biografie Kleists von Rudolf Loch hinzuweisen: Sie ist unter den umfassenden Biografien immer noch die lesbarste und ausgewogenste, die den Anspruch einer Einführung in Leben und Werk zurzeit aufs Beste einlöst. Loch ist ein ausgewiesener Kenner Kleists, was besonders seinen Werkdeutungen zugute kommt. Sicherlich bleibt auch hier vieles ungesagt und die Interpretation zeigt alles in allem eine Neigung zur Glättung der Texte, aber eine radikale Problematisierung, wie sie für das Verständnis Kleists letztendlich nötig ist, kann von einer Gesamtdarstellung mit Fug nicht erwartet werden. Auch vom Inhalt abgesehen ist dies sicherlich das schönste Buch unter den hier vorgestellten: Nicht nur hat es einen sehr angenehmen Satzspiegel, es verfügt auch über lebende Kolumnentitel und ist fadengeheftet!

Wem also im Wesentlichen eine Lebensbeschreibung mit kurzen Abrissen zu den Werken genügt, greife zum Buch von Staengle, wer eine umfassendere Darstellung sucht, lasse die Finger von den beiden neueren Publikationen, sondern greife zum Buch von Loch.

Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 2007. Leinen, Lesebändchen, 608 Seiten. 26,90 €.

Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin: Rowohlt Berlin, 2007. Pappband, Lesebändchen, 528 Seiten. 22,90 €.

Peter Staengle: Kleist. Sein Leben. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner, 2006. Broschur, 241 Seiten. 8,– €.

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen: Wallstein, 2003. Pappband, fadengeheftet, 542 Seiten. 37,– €.

Kleist → Kehlmann → Goldt → Kraus

Der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Prof. Dr. Günter Blamberger (Köln), teilt in einem Rundschreiben »u. a.« mit:

Die Kleist-Jury hat Daniel Kehlmann als Vertrauensperson für den Kleist-Preis 2008 bestimmt und dieser hat als Preisträger Max Goldt ausgewählt, einen Prosakünstler, den Sie vor allem als Kolumnist der ‚Titanic‘ kennen, als einen, der in den letzten 20 Jahren den deutschen Alltag zur Kenntlichkeit entstellt hat – in Witz, Scharfsinn, ästhetischem Urteilsvermögen dem großen Sprachkritiker Karl Kraus vergleichbar.

Nun ist ja manches vergleichbar, aber Goldt und Kraus?

Vor solchem Helden hat es mir gegraut,
da wagt’ ich höchstens diese wenigen Verse:
Er gleicht dem Siegfried durch die dicke Haut
und dem Achilles durch die Ferse.

Aus dem Verein sollte ich wohl auch besser wieder austreten.

Volker Hage: Philip Roth

hage_rothSeit 25 Jahren begleitet Volker Hage schreibend das Werk von Philip Roth. Ergänzend zur Veröffentlichung von Exit Ghost vereinigt Hanser nun die fünf Interviews (1983, 1991, 1998, 2000 und 2006) mit und sieben Rezensionen zu Roth, die in diesem Zeitraum entstanden sind, in diesem Bändchen. Nahezu alle Beiträge erscheinen hier in umfangreicherer Fassung als bei der Erstveröffentlichung. Bei der Rezension von Exit Ghost handelt es sich um einen Originalbeitrag.

Hage zeigt sich einmal mehr als aufmerksamer Leser und intelligenter Gesprächspartner eines der bedeutendsten Autoren der Gegenwart. So liefert das Buch eine exzellente und derzeit auch konkurrenzlose Einführung ins Werk von Philip Roth. Komplettiert wird das Bändchen durch eine tabellarische Chronik zu Leben und Werk.

Volker Hage: Philip Roth. Bücher und Begegnungen. München: Hanser, 2008. Broschur, 156 Seiten. 15,90 €.

Philip Roth: Exit Ghost

roth_exitDas neunte und – wie der Titel und das Ende des Buches andeuten – letzte Buch, in dem der Schriftsteller Nathan Zuckerman als Protagonist fungiert. Zuletzt hatte Zuckerman in Der menschliche Makel die Geschichte Coleman Silks erzählt, eines vorgeblich jüdischen, in Wahrheit aber schwarzen Professor der Altphilologie, der wegen einer unbedachten Äußerung, die als rassistisch ausgelegt wird, aus seiner Fakultät gemobbt wird. Zu dieser Zeit lebte Zuckerman zurückgezogen in Massachusetts.

Zu Anfang von Exit Ghost finden wir Nathan Zuckerman Ende Oktober 2004 in New York. Er hofft auf einen medizinischen Eingriff, der seine Inkontinenz beheben soll, die sich nach einer Prostata-Operation eingestellt hat. Neben der Inkontinenz, die ihm hauptsächlich lästig und peinlich ist, ist Impotenz eine weitere Folge der Operation, die Zuckerman Selbstbewusstsein und -bild arg zusetzt. Zuckerman ist nun 71 Jahre alt und war mit 60 in die Provinz geflohen, nachdem er eine Reihe von Morddrohungen erhalten hatte. Er hat sich in den elf Jahren weitgehend des gesellschaftlichen Umgangs entwöhnt und findet sich und New York nach dieser Zeit sehr verändert wieder. Trotz einigem inneren Widerstand, entschließt er sich, für eine Weile in New York zu bleiben, um den Erfolg der Behandlung abzuwarten und dies eventuell wiederholen zu lassen. Es wird schließlich nicht mehr als eine Woche werden.

Binnen kurzem ist Zuckerman in alte und neue Geschichten verstrickt: Er begegnet zufällig Amy Bellette wieder, trifft das junge Ehepaar Jamie und Billy, mit denen er für die Zeit, die er in New York verbringen will, die Wohnung zu tauschen plant, und schließlich nimmt ein Freund Jamies, Richard Kliman, Kontakt zu ihm auf, der eine Biografie über E. I. Lonoff schreiben will. Lonoff stand zusammen mit Amy Bellette im Zentrum des ersten Zuckerman-Romans Der Ghostwriter, in dem Zuckerman als junger Autor den von ihm verehrten Erzähler Lonoff besucht.

Zuckerman verliebt sich auf den ersten Blick in die attraktive Jamie, nicht ohne sich schmerzlich seines Alters und seines körperlichen Unvermögens bewusst zu sein. Während er sich mit dieser Verliebtheit herumquält, wehrt er sich zugleich gegen die Vereinnahmung durch Kliman, der ein ehemaliger Kommilitone und Ex-Freund Jamies ist und den Zuckerman verdächtigt, ein Verhältnis mit Jamie zu haben. Kliman ist in jeglicher Hinsicht Zuckermans Konkurrent: Er ist ein junger und agiler sexueller Rivale, er ist ein aufstrebender junger Autor, er hat seine Karriere und sein Leben noch vor sich und erinnert Zuckerman mit all seiner Energie und seinem Enthusiasmus zu sehr an sich selbst in jungen Jahren, als dass er ihm nicht zugleich ständig die Mängel seiner Altersexistenz vor Augen führen würde.

Kliman will Zuckerman als Quelle und Autorität für seine Lonoff- Biografie einspannen. Klimans These ist, dass der einzige und unvollendet gebliebene Roman Lonoffs auf einer autobiografischen Konstellation beruht und Lonoff eine inzestuöse Beziehung zu seiner Halbschwester gehabt habe. Während Kliman durch die Veröffentli- chung ein Revival des vergessenen Lonoffs herbeizuführen hofft, befürchtet Zuckerman, dass eine solche Biografie Lonoff und sein Werk auf den vorgeblichen Skandal dieses Inzests reduzieren und damit für immer beschädigen würde. Zuckerman selbst entwickelt spontan eine alternative, literarische Deutung des Inzest-Motivs, indem er die These aufstellt, Lonoff habe sich durch biografische Spekulationen über Hawthorne zu diesem Thema anregen lassen.

Aus dieser relativ einfachen Struktur gewinnt Roth überraschend reiches Material: Da das Flirten tête-à-tête mit Jamie nicht gelingen will, entwickelt Zuckerman in seinem Hotelzimmer imaginäre Dialoge, die schließlich auf das Ermöglichen des Unmöglichen hinauslaufen: Die fiktive Jamie erklärt sich bereit, sich mit dem fiktiven Zuckerman in seinem Hotelzimmer zu treffen, der daraufhin fluchtartig das Hotel, New York und wahrscheinlich auch gleich die Welt verlässt:

Er löst sich auf. Sie ist unterwegs, und er verschwindet. Er ist für immer fort.

Gespiegelt wird diese imaginäre Beziehung in Zuckermans Gesprächen mit Amy Bellette, die in Der Ghostwriter als Studentin eine Beziehung mit alternden E. I. Lonoff begonnen hatte und Zuckerman nun von Lonoffs letzten Jahren, seinem unvollendeten Roman und seinem Sterben erzählt. In diesen und den Gesprächen zwischen Zuckerman und Kliman entwickelt Roth das zweite große Thema des Romans: Den Umgang der Öffentlichkeit mit Schriftstellern. Zuckerman wehrt sich gegen die Biografie Klimans auch deshalb so sehr, weil er befürchtet, dass auch sein Leben und Werk postum auf eine Reihe von Skandalen reduziert werden wird. Er setzt die Integrität des Werks, das für einen »unbefangenen Leser« geschrieben sei, der Integrität der Informanten eines Literaturbetriebs gegenüber, der Schriftsteller nicht anhand ihrer künstlerischen Leistungen, sondern ihrer moralischen Verfehlungen gewichtet.

Exit Ghost zeigt wie schon zuvor Der menschliche Makel einen erzählerisch deutlich entspannteren Philip Roth, als man ihn aus vielen früheren Romanen kennt. Motivisch rundet der Roman die Zuckerman- Reihe mit der Wiederaufnahme der Figuren Lonoffs und Amy Bellettes schön ab, und auch die Figur Zuckermans selbst findet mit diesem letzten Liebesabenteuer einen gelungenen Abschluss. Er zieht sich nun endgültig in die Provinz zurück und überlässt die Welt den Jungen. Mag sein, wir werden später einmal von seinem Tod und seiner Beerdigung lesen, mag auch sein, er ist für immer aus unserem Blickfeld verschwunden. Roth zumindest wird Zuckerman wohl auch nach diesem Buch nicht vollständig aus den Augen verlieren.

Philip Roth: Exit Ghost. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. München: Hanser, 2008. Pappband, 297 Seiten. 19,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (17)

Es gab einmal eine Zeit, da intelligente Menschen die Literatur zum Denken nutzten. Diese Zeit geht nun zu Ende. […] Der vorherrschende Gebrauch, den die Feuilletons der Intelligenzblätter und die Universitätsinstitute von der Literatur machen, steht in so destruktivem Gegensatz sowohl zu den Zielen der erzählenden Literatur als auch zu dem Gewinn, den ein unbefangener Leser aus ihr ziehen kann, dass es besser wäre, wenn die Öffentlichkeit aufhörte, irgendeinen Gebrauch von der Literatur zu machen.

Philip Roth
Exit Ghost

Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel

eco_pendel Nach beinahe 30 Jahren aus Neugier die Lektüre eines zweiten Romans von Eco (seine Essays und wissenschaftlichen Publikationen stehen auf einem gänzlich anderen Blatt), da er mir in der letzten Zeit immer mal wieder untergekommen ist und mich interessiert hat, ob sich der Eindruck der Lektüre von Der Name der Rose wieder einstellen würde. Und er hat sich wieder eingestellt; diesmal habe ich die Lektüre allerdings nach 250 Seiten abgebrochen. Auch Das Foucaultsche Pendel ist ein langweiliger Krimi, aufgefüllt mit Material, das Beweis für einen beeindruckenden Fleiß des Autors ist, ansonsten aber nichts anderes als eine in Dialoge umgesetzte, wirre Ansammlung von Referaten anderer Literatur, die ich im Original nicht würde lesen wollen, um so viel weniger in Ecos Inhaltsangaben.

Der Roman dreht sich im Wesentlichen um zahlreiche Lieblingsthemen der europäischen Mystiker und Verschwörungstheoretiker: Im Zentrum stehen die Templer, aber auch Rosenkreuzer und zahlreiche andere ähnliche Gruppen werden nach Belieben ins Treffen geführt. Verbunden ist das alles durch ein dünnes Fähnchen von Handlung, in der sich die handelnden Personen ständig gegenseitig den Inhalt irgendwelcher Bücher erzählen. Da dem Autor selbst klar war, dass eine solche Lektüre für einen nicht dem Wahn verpflichteten Leser insgesamt ungefähr so spannend ist wie die eines Kursbuchs, strickt er eine Rahmenhandlung, in der ein Ich-Erzähler unmittelbar vor der großen Entdeckung steht, auf die hin sich der Leser durch 700 Seiten Stoff quälen soll.

Mir liegt die 18. Auflage der deutschen Taschenbuchausgabe vom De- zember 2006 vor, und ich frage mich, wie einem solch durch und durch wirren und langatmigen Buch solche Best- und Longseller-Qualität zuwachsen kann. Ich muss allerdings gestehen, dass ich schon die Faszination des Rosen-Buches nicht wirklich habe nachvollziehen können. Nur die wenigsten seiner weltweit in die Millionen gehenden Leser kann sich ernsthaft für die Probleme der Bettelorden oder Ecos Anspielungen auf die positivistische Philosophie interessiert haben, die auch dadurch nicht wirklich spannender wurden, dass Eco sich herabgelassen hat, sie denen, die sie nicht von selbst verstanden, ausführlich nachzuweisen und zu erläutern. Nun hatte Der Name der Rose wenigstens einen starken und schillernden Protagonisten wie William von Baskerville, dem in Das Foucaultsche Pendel jegliches Pendant fehlt.

Ich werde Eco hiermit endgültig unter die mir unlesbaren Roman-Autoren ablegen.

Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. dtv 11581. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 182006. 841 Seiten. 13,– €.

Gisbert Haefs: Caesar

haefs_caesar Nach Hannibal und Alexander hat Haefs nun auch das dritte militärische Genie der Antike zum Roman verarbeitet. Von den drei Romanen ist dieser wohl am weitesten von seiner thematischen Hauptfigur entfernt, so als sei Caesar wegen der reicheren Quellenlage für Haefs am uninteressantesten. Protagonist ist nicht Caesar, sondern Aurelius, ein alternder, entlassener Centurio, der von Cicero als Spion auf den in Gallien befindlichen Caesar angesetzt wird, was sich aber nur als eine etwas umständliche Einführung erweist, da dieser Handlungsfaden nie zum Tragen kommt.

Aurelius wird von Caesar reaktiviert, macht Karriere bis zum Legaten und ist an Caesars Feldzügen in Gallien und während des Bürgerkriegs mehr oder weniger direkt beteiligt. Er verliebt sich gleich zu Beginn des Romans in die Edelkurtisane und ägyptische Spionin Kalypso, besteht im wesentlichen unversehrt die üblichen albernen Abenteuer, bekommt vom Autor einen gallischen Erzfreund verpasst und verschwindet zum Schluss in der Privatheit, aus der er zu Anfang herausgerissen worden ist. Der Kreis der Erzählung ist ausgeschritten.

Jedes zweite Kapitel liefert eine Paraphrase einer der Biographien aus den Vitae parallelae des Plutarch, wobei mir unklar geblieben ist, wer der Erzähler dieser Kapitel sein soll. Wahrscheinlich handelt es sich um eine historisch identifizierbare Figur, aber mir schien es die Mühe des Rätselratens nicht zu lohnen. In diesen Kapiteln wird die römische Geschichte von den Gracchen bis zur Ermordung Caesars in lockerer Folge nacherzählt. Diese Chronik liefert die informativsten und unterhaltendsten Teile des Buchs.

Leider bleibt die Titelfigur des Romans blass. Zwar sind alle handelnden Figuren aufs Tiefste beeindruckt von Caesar, und er erweist sich bei jeder Gelegenheit als in jeder Hinsicht überlegener, vorausschauender, die Situation beherrschender, politischer und militärischer Stratege. Zum Glück gibt es aufgrund der personalen Anbindung an Aurelius nicht allzu viele Gelegenheiten, an denen uns Haefs mit diesem genialischen Pappkameraden langweilen kann. Ganz zum Schluss wird Caesar dann auch noch ein grundstürzend alberner Plan zur Reformation des römischen Reiches untergeschoben, das er mittels Inflation ruinieren und so von seiner Unersättlichkeit heilen will, ein ebenso hanebüchenes wie naives Projekt, das weder zum zuvor gezeichneten Charakter der Romanfigur noch zum historischen Caesar so recht passen will.

Insgesamt wohl der schwächste der drei Heldenromane, den ich mehr aus alter Sympathie für den Autor als mit Vergnügen zu Ende gelesen habe.

Gisbert Haefs: Caesar. Heyne Taschenbuch 47086. München: Heyne, 2008. 512 Seiten. 8,95 €.

Gudrun Schury: Ich wollt, ich wär ein Eskimo

schury-busch Der Aufbau-Verlag legt zum Busch-Jahr eine umfangreiche neue Biografie des Malers, Dichters und Zeichners vor. Alles in allem ist das Buch recht gelungen, allerdings liefert das Buch für Leser früherer Biografien (z. B. der von Gert Ueding) keine wirklichen Überraschungen oder neue Einsichten. Im Gegenteil werden die dort gewonnenen Erkenntnisse oft in einem plaudernden Ton verwässert und popularisiert, so dass das Gesamtbild eher an Schärfe verliert. Dies wird aber wahrscheinlich nur die Germanisten unter den Lesern stören.

Das Buch ist durch eine abwechselnde Kapitelfolge strukturiert: Auf ein chronologisches Kapitel, das dem Lebensweg Buschs folgt, folgt immer ein eher thematisch gewichtetes Kapitel usw. Dieser grundsätzlich zu begrüßende Einfall wird zudem nicht pedantisch gehandhabt, so dass ein lockerer, gut lesbarer Text entstanden ist. Schurys Darstellung zeichnet sich dabei durch ihre unübersehbare Begeisterung für Busch aus, wenn sie auch nicht geneigt ist, Buschs grundlegend pessimistischer Weltsicht beizutreten. Einerseits ist diese Begeisterung sicherlich erfrischend, andererseits tendiert die Darstellung ein wenig zur Breite; eine Kürzung hätte vielen Kapiteln und dem Buch insgesamt sicherlich gut getan.

Hervorzuheben sind fraglos die Kapitel zur Arbeitsweise Buschs bei der Erstellung der Bildergeschichten und diejenigen zum »alten« Busch, der zuerst das Zeichnen, dann das Malen und schließlich auch das Dichten gänzlich einstellt. Man wünschte man sich aber, etwas mehr über den noch vorhandenen Bestand an Gemälden Buschs zu erfahren, nachdem man gelesen hat, dass Busch wohl mit einiger Regelmäßigkeit unter seinen späten Bildern Autodafés abgehalten hat.

Busch wird von Schury nicht nur, aber auch gemäß seinem Selbst­ver­ständ­nis dargestellt, nach dem er ein gescheiterter Künstler war: Seine Ambitionen, sich als Maler zu etablieren, kamen über die Anerkennung im Kollegenkreis nie wesentlich hinaus, und auch der Versuch, als ernsthafter Dichter aufzutreten, muss als aus guten Gründen gescheitert angesehen werden. Busch hat dieses Missverhältnis seines Ruhms lange geschmerzt, dass er für Werke berühmt und geliebt war, die er selbst nicht für voll nehmen konnte und wollte, die ihm höchstens als Nebenarbeiten galten. So hat sein Interesse an weiteren  Bil­der­ge­schich­ten schon früh nachgelassen, und nach Maler Klecksel (1884) sind sie nicht über erste Notizen und Entwürfe hinausgekommen. Schury betont zu Recht, dass es nicht jedem geben sei, Wiederholung und Selbstkopie zu vermeiden. Überhaupt gewinnt man mehr und mehr Respekt vor Buschs Fähigkeit, sich von Ruhm und finanziellem Erfolg nicht blenden zu lassen. Er hat von seiner Zeit und seinen Zeitgenossen alles in allem wenig gehalten, und seinen Erfolg bei ihnen sah er viel eher als eine Bestätigung denn als eine Widerlegung dieser Sichtweise an. Auch in diesem Sinne gehört Busch in die Reihe der großen Pessimisten des 19. Jahrhunderts.

Gudrun Schury: Ich wollt, ich wär ein Eskimo. Das Leben des Wilhelm Busch. Berlin: Aufbau, 2007. Pappband, bedruckter Vorsatz, 16 Farbtafeln u. zahlreiche Abbildungen, Lesebändchen, 412 Seiten. 24,95 €.

Weiland zu Radebeul …

Wir Deutschen sind merkwürdige Leute. Nicht etwa, daß wir uns ruhig gestehen: auch wir wollen uns einmal ausruhen und leichte Bücher lesen, auch wohl ruhig einmal einen richtigen Quark – das ist kein Mann, der nicht aus vollen Kräften banal sein kann – nein, wenn wirs schon tun, dann lügen wir uns irgend ein Brimborium darum herummer. Es gibt Leute, denen dieser Karl May – mir ist der Bursche immer als Ausbund der Fadheit vorgekommen – lieb und teuer ist. Aber sie sagens nicht. Sie malen ihm eine Glorie an: ihr meint, das sei einfach ein Unterhaltungsschriftsteller für die reifere Jugend gewesen? Gott bewahre, ein Philosoph war das, ein Mann mit den allegorischsten Hintergedanken, ein schwerer, vollbärtiger, sächsischer Denker, weiland zu Radebeul, jetzt in der Unsterblichkeit.

Kurt Tucholsky
Nette Bücher