Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen

Nabokov-Bastardzeichen„Das Bastardzeichen“ erschien nach einer längeren Pause im Schreiben Vladimir Nabokovs erst 1947 in den USA. Nach „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ (1941) hatte Nabokov nur als Auftragsarbeit seine Kurzeinführung zu „Nikolaj Gogol“ geschrieben, ansonsten war er damit beschäftigt gewesen, als Entomologe, Lehrer für Russisch und Dozent für zeitgenössische Literatur seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Mit „Bend Sinister“, wie der Text im Original heißt, kehrt er ab dem Herbst 1942 zur fiktionalen Prosa zurück.

Der Roman schließt in einem gewissen Sinne an „Einladung zur Enthauptung“ (1936) an: Auch hier bildet den Hintergrund der Fabel ein fiktives totalitäres System, das Züge sowohl des Sowjetstaates als auch des Dritten Reiches trägt. Protagonist ist der international berühmte Philosophieprofessor Adam Krug, der zu Beginn des Romans den überraschenden Tod seiner erkrankten Ehefrau erleben muss. Krug bleibt mit seinem kleinen Sohn zurück, dem er den Verlust der Mutter so lange wie möglich zu verheimlichen sucht. Zugleich versucht er nach Kräften, den politischen Umsturz in seinem Land zu ignorieren: Ein Schulkamerad Krugs, Paduk, genannt „Die Kröte“, hat mit seiner Partei des durchschnittlichen Menschen die Macht an sich gerissen und lässt umfangreich Verhaftungen vornehmen, die zuerst nur den Bekanntenkreis Krugs betreffen. Solange es noch problemlos möglich wäre, aus dem Land zu fliehen, weigert sich Krug dies zu tun, weil dies hieße, die Realität und Relevanz der politischen Welt anzuerkennen. Auch weigert er sich, für die Universität beim neuen Diktator vorstellig zu werden, ja, als er diesem schließlich mit sanftem Nachdruck vorgeführt wird, weigert er sich ebenso strikt, die Stelle des Rektors einer neuen Staatsuniversität zu übernehmen. Und als er schließlich wenigstens in seinen Träumen bereit ist, eine Flucht zu unternehmen, ist es zu spät: Krug wird verhaftet und in einer sich immer weiter zuspitzenden, alptraumhaften Sequenz der staatlichen Willkür zugeführt.

Das wesentliche erzählerische Mittel des Romans ist die Abfolge von Real- und Traumsequenzen, die, wie auch bereits in „Einladung zur Enthauptung“, nahtlos ineinander übergehen; nur von Zeit zu Zeit wird das Ende einer zu realistisch geratenen Traumsequenzen durch das Erwachen des Träumers markiert. Pointe dieser Technik ist hier allerdings, dass die letzte Sequenz des Buches, die die reale Vernichtung Krugs und seines Sohnes vorführt, alle Träume und Alpträume zuvor an Wahn übersteigt. Die totalitäre Wirklichkeit der Durchschnittsmenschen kann mit keiner Phantasie des Philosophen Schritt halten.

Die Leidenschaft, die der Autor offensichtlich in die Verdammung eines fiktiven Totalitarismus investiert, erklärt sich natürlich problemlos aus der Biographie Nabokovs, der aus Deutschland gleich zum zweiten Mal vor einer unmenschlichen Diktatur in eine Fremde und eine andere Sprache zu fliehen gezwungen war. Doch dem heutigen Leser mag es nicht unbedingt leicht fallen, sich auf diese Leidenschaft einzulassen, denn nicht nur sind Nabokovs Bilder der Gewalt gealtert, auch das Metaphernpaar Realität/Traum wirkt etwas zu abgegriffen und flach, um dem Grauen der Gewalt im 20. Jahrhundet gerecht zu werden. Das Schlimmste war es eben nicht, dass ein berühmter Philosoph und ein kleines Kind umgekommen sind, sondern das wahre Grauen lag ganz woanders; aber das konnte Nabokov kaum erahnen, als er das Buch schrieb.

Darüber hinweg trösten kann man sich vielleicht mit jenem Kapitel, indem sich Nabokov über einige Shakespeare-Deuter des 19. Jahrhunderts lustig macht, oder auch mit jener Passage, in der er eine Reihe unzusammenhängender Fakten als Notizen Krugs für einen Essay ausgibt, deren Zusammenhang allerdings nicht einmal mehr Krug noch zu durchschauen weiß.

Es mag auch sinnvoll sein, wenigstens einen Hinweis zu dem etwas kryptischen Titel zu geben: „Bend Sinister“ ist ein Fachbegriff aus der Heraldik, der auf Deutsch Bastardbalken oder Bastardfaden heißt und in Wappen dazu dient, den unehelichen Zweig eine Familie kenntlich zu machen. Wer allerdings in diesem Roman aus welchen Gründen der Bastard ist, wird jeder Leser mit sich selbst ausmachen müssen.

Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke VII. Reinbek: Rowohlt, 1990. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 347 Seiten. 23,– €.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Einmal mehr zeigt sich hier die Tendenz, die in der Argumentation so vieler Akteure in der Krise zu beobachten ist: nämlich sich selbst als jemanden wahrzunehmen, der unter unwiderstehlichen externen Zwängen handelt, während die Verantwortung für die Entscheidung über Krieg und Frieden eindeutig dem Gegner aufgebürdet wird.

Clark-SchlafwandlerChristopher Clark, der als Historiker in Deutschland wegen seiner konzisen Biographie Wilhelms II. bekannt sein sollte, es aber wohl eher wegen der verschnarchten „Deutschland-Saga“ des ZDF ist, hat zeitig zu den 100-Jahr-Gedenktagen zum Beginn des Ersten Weltkrieges eine umfangreiche Studie zu den Vorbedingungen vorgelegt, die den Ausbruch des Krieges ermöglicht und befördert haben. Das Buch ist in den Feuilletons ausgiebig besprochen worden, in der Hauptsache deshalb, weil sich Clark der traditionellen Schuldfrage konsequent entzieht und an ihre Stelle eine Darstellung und Analyse der Akteure und Umstände in allen kriegsbeteiligten Nationen setzt.

Clarks Darstellung ist in drei Teile gegliedert: Der erste stellt ausführlich die politische Situation in Serbien nach dem gewaltsamen Umsturz im Jahr 1903 bis ins Jahr 1914 dar: Der alte König Aleksandar Obrenović wird zusammen mit seiner Frau ermordet und durch eine deutlich schwächere Figur – Petar I. Karađorđević – ersetzt, Teile des Militärs, die sich zudem noch in Geheimbünden organisieren, übernehmen hinter den Kulissen die Macht und das nationale politische Programm kreist im Wesentlichen um den Gedanken eines Großserbiens, für dessen Verwirklichung Österreich-Ungarn eines der Haupthindernisse darstellt. Der zweite Teil beschreibt für denselben Zeitraum die internationale und besonders die Lage der europäischen Teilnehmer am späteren Großen Krieg: den wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg Russlands, der von allen anderen europäischen Großmächten zudem noch deutlich überschätzt wird, den scheiternden Versuch Deutschlands, Frankreich international zu isolieren, die erfolgreiche Bündnispolitik der Franzosen, die sich Russland als natürlichen Verbündeten gegen Deutschland verpflichten können und Serbien als Gegner Österreich-Ungarns auf dem Balkan fördern, die schwankende und sich nach allen Richtungen absichern wollende Politik der Engländer, das mit seinen internen strukturellen Problemen kämpfende Österreich-Ungarn usw. usf. In diesem Teil wird auch die Entwicklung des 1. und 2. Balkankrieges und deren Folgen beschrieben, die Verwerfungen der Staaten auf dem Balkan untereinander und als Folge der schwindenden Macht des Osmanischen Reiches. Der dritte Teil schließlich widmet sich detailliert dem Attentat von Sarajevo und der daraus folgenden Juli-Krise.

Das erste, was man wohl hervorheben muss, ist Clarks unglaublicher Fleiß und seine umfassende Kenntnis der historischen Lage und Akteure. Trotz der äußerst komplexen Sachverhalte, die Clark vermitteln muss, ist seine Darstellung immer klar strukturiert; die aufgrund der Aufteilung des Buches unvermeidlichen Redundanzen sind auf ein Mindestmaß beschränkt; alle zentralen Akteure werden auch an jenen Stellen verständlich, an denen sie sich auf den ersten Blick inkonsequent und selbstwidersprüchlich zu verhalten scheinen. Clark erzeugt im Leser die Illusion, er könne die Vernünftigkeit des Weltgeistes, die konsequent in das erste ungeheuerliche Gemetzel des 20. Jahrhunderts geführt hat, wenigstens für einen Augenblick begreifen. Dass dies notwendig eine Illusion ist, weiß Clark natürlich selbst:

Selbst wenn wir annehmen, dass kompakte Exekutiven mit einer einheitlichen und kohärenten Zielsetzung die Außenpolitik der europäischen Mächte vor dem Krieg formulierten und steuerten, wäre die Rekonstruktion der Beziehungen unter ihnen dennoch eine beängstigende Aufgabe, wenn man bedenkt, dass man die Beziehung zwischen zwei Mächten nie ganz verstehen kann, ohne auf die Beziehungen zu den anderen zu verweisen. Doch im Europa der Jahre 1903 bis 1914 war die Wirklichkeit sogar noch komplexer, als das »internationale« Modell vermuten lässt. [S. 315]

Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Aber sie war darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne, und eben deshalb geht die Diskussion über den Ursprung des Ersten Weltkrieges weiter, selbst ein Jahrhundert nach den tödlichen Schüssen Gavrilo Princips an der Franz-Josephs-Straße. [S. 717]

Das Buch ist für das Verständnis des Prozesses, der zum Ersten Weltkrieg geführt hat, unverzichtbar; nach seiner Lektüre lässt sich weder die Frage nach der Kriegsschuld, noch die nach der Unvermeidlichkeit des Krieges noch sinnvoll stellen: Selbst ein so zögerlicher und eigentlich unwilliger Kriegsteilnehmer wie Großbritannien, das noch die besten Bedingungen dafür auswies, dem Großen Krieg auszuweichen, sieht sich schließlich dazu genötigt, dem allgemeinen Gang der Dinge nachzugeben und sich auf ein Unternehmen einzulassen, das am Ende aller politischen und militärischen Vernunft Hohn sprechen sollte. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich ernsthaft mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, selbst für jene, die seiner grundsätzlichen These von der überbordenen Komplexität des Prozesses prinzipiell skeptisch gegenüberstehen.

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. München: DVA, 2013. Pappband, 895 Seiten. 39,99 €. (Es liegt inzwischen auch schon eine broschierte Ausgabe vor.)

P. S.: Die gleichnamige Romantrilogie Hermann Brochs, von der ich vermutete, sie habe zur Wahl des Titels geführt, scheint Clark gar nicht zu kennen; jedenfalls wird sie weder zitiert, noch im Literaturverzeichnis aufgeführt.

Philip Roth: Der menschliche Makel

Und so hatte all dies begonnen: Ich stand in der Abenddämmerung allein auf einem Friedhof und ließ mich auf einen beruflichen Wettkampf mit dem Tod ein.

Roth-Makel„Der menschliche Makel“ (2000) ist der dritte Roman der sogenannten Amerika-Trilogie von Philip Roth, der zweiten Trilogie von Romanen, in denen der fiktive Schriftsteller Nathan Zuckerman als Erzähler auftritt. Die Jetzt-Zeit des Romans ist das Jahr 1998, und Zuckerman beginnt seine Erzählung mit einer emotionalen Suada über die bigotten Reaktionen weiter Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit auf die Lewinsky-Affäre. Damit ist mit einem wahrscheinlich allen Lesern Roth’ bekannten Beispiel das Hauptthema des Buches bezeichnet, das Zuckerman an späterer Stelle als „Tyrannei der Schicklichkeit“ (S. 175) benennen wird.

Im Zentrum der Erzählung steht das Leben des emeritierten Professors für klassische Literatur Coleman Brutus Silk. Silk hat eine erfolgreiche akademische Karriere hinter sich, wurde bereits als relativ junger Professor Dekan seiner Fakultät am Athena-College und war federführend dafür verantwortlich, diese Fakultät zu modernisieren und die Professuren mit jungen, motivierten Lehrkräften neu zu besetzen. Er entschließt sich im Jahr 1993, seine Stelle als Dekan aufzugeben und sich in seinen letzten Semestern noch einmal der Lehre zu widmen. Jedoch bereits im ersten Semester, das er wieder unterrichtet, kommt es zu einem Vorfall, der Silk in der Konsequenz dazu bringt, seine Stelle aufzugeben und einen privaten Kleinkrieg gegen seine alte Fakultät zu beginnen: Silk bezeichnet zwei seiner Studenten, die er nie gesehen hat, weil sie an keiner seiner Veranstaltungen teilgenommen haben, obwohl sie auf der Teilnehmerliste stehen, scherzhaft als „spooks“, also in etwa als „Gespenster“ (der Übersetzer Dirk van Gunsteren übersetzt „spooks“ hilfsweise mit „dunkle Gestalten“). Es erweist sich im Nachhinein, dass es sich bei den beiden Studenten um Schwarze handelt, und eine der beiden beschwert sich bei der neuen Dekanin über den von Silk verwendeten Ausdruck, den sie – historisch durchaus begründet – als rassistisch empfindet. Diese Kleinigkeit, die sich von Silk mit ein wenig Demut und einer entschuldigenden Erklärung wahrscheinlich hätte ausräumen lassen, eskaliert, da Silk darauf beharrt, er könne diesen Ausdruck nicht rassistisch verwendet haben, da er die fraglichen Studenten nie gesehen und daher auch nicht gewusst habe, dass es sich um Schwarze handelt.

Wie bereits gesagt führt die Zuspitzung dieser Konfrontation dazu, dass Silk vom College emeritiert; als zudem überraschend auch noch seine Frau stirbt – Silk versteigt sich zu der Auffassung, die ihn verleumdenden bzw. nicht unterstützt habenden Kollegen hätten den Tod seiner Frau zu verantworten–, verbeißt sich Silk in ein Buchprojekt, in dem er seine Unschuld und die ungerechte Behandlung durch sein College entlarven will. In dieser Zeit entfremdet sich Silk von seinen Kindern und lebt allein und gesellschaftlich isoliert. Einzig zu Nathan Zuckerman scheint er sporadischen, freundschaftlichen Kontakt zu pflegen. Nach weiteren zwei Jahren – und damit ist die Jetztzeit der Erzählung erreicht – scheint er seine Krise endlich überwunden zu haben: Er hat sein Buch abgeschlossen und anschließend als gescheitert verworfen. Er hat eine Affäre mit Faunia Farley begonnen, einer Frau, die nur halb so alt ist wie er und unter anderem an seinem alten College als Putzfrau arbeitet. So sehr sich die beiden auch bemühen, ihre sexuelle Beziehung geheim zu halten, sie werden bald entdeckt: Zum einen von Faunia Ex-Ehemann Lester, einem Vietnam-Veteranen, der seine Aggressionen und seine Wut der Welt und besonders seiner Ex-Frau gegenüber, der er die Verantwortung für den Tod zweier gemeinsamer Kinder zuschreibt, nur unvollkommen unter Kontrolle hat; zum anderen von der Dekanin Delphine Roux, die Colemans Beziehung zu der angeblich analphabetischen Putzfrau nur als einen Akt der abscheulichsten sexuellen Ausbeutung begreifen kann.

Coleman und Faunia kommen schließlich in einem ungeklärten Autounfall ums Leben – Nathan Zuckerman hegt die nicht zu beweisende Theorie, dass dieser Unfall von Lester verursacht wurde –, und Zuckerman trifft auf Colemans Beerdigung dessen Schwester, die ihm den eigentlichen Skandal von Coleman Silks Leben offenbart: Bei Silk handelt es sich nämlich nicht, wie seine Familie, alle Kollegen am College und auch Zuckerman angenommen hatten, um einen Juden, sondern tatsächlich um einen Schwarzen, der sich bei seinem Eintritt in die Marine nicht nur ein falsches Geburtsdatum, sondern auch eine falsche Rassenzugehörigkeit zulegt hatte.

Coleman Silk ist allerdings nicht die einzige Figur, die versucht ihrer Herkunft und den sich aus ihr ergebenden Folgen zu entfliehen: Auch Delphine Roux ist aus Frankreich nach Amerika gegangen, um sich dem Einfluss einer übermächtigen Mutter zu entziehen und sich neu zu erfinden, und auch für Faunia Farley gilt, dass sie zumindest ihr Analphabetentum nur vortäuscht, um in der Gesellschaft eine Nische einnehmen zu können, die sie von ihrer eigenen Vergangenheit isoliert. Diese Scheinexistenzen, die sich gegenseitig auf merkwürdige Weise spiegeln und zugleich verhindern, dass diese drei Personen wirklich verstehen, wer der jeweils andere ist, bilden das Widerlager zu der Welt des Klatsches und der Gerüchte, die das Leben der Figuren beherrscht. Selbst für Lester gilt das, den der Erzähler Zuckerman zu einem Mörder macht, ausschließlich weil er gegen ihn ein Vorurteil hegt. Selbst die auf den letzten Seiten geschilderte, einzige persönliche Begegnung zwischen Nathan und Lester führt nicht dazu, dass Zuckerman sein Vorurteil aufgibt; am Ende ist auch er in denselben Strukturen gefangen, die er mit dem Erzählen der Geschichte Coleman Silks anklagt.

„Der menschliche Makel“ ist eine hoch komplexe Erzählung, der es auf eine außergewöhnliche Art und Weise gelingt, die Beziehungen einer Handvoll von Menschen zueinander zu thematisieren. Dabei gelingt es Roth seinen Erzähler als „Mensch mit Menschen“ erscheinen zu lassen, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, Nathan Zuckerman verfüge über eine erhabene Moral oder sonst einen seinen Figuren überlegenen Standpunkt. Alles, womit er ihn ausstattet, ist ein moralischer Affekt, dem man zwar nur zu gerne zustimmt, ohne dabei aber über das hinauszukommen, was das Buch kritisiert: ein unbegründetes Ressentiment, das sich überlegen glaubt.

Philip Roth: Der menschliche Makel. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. rororo 23165. Reinbek: Rowohlt 252012. Broschur, 400 Seiten. 9,99 €.

Herfried Münkler: Der Große Krieg

Die Zeit der einseitigen Schwarzweißzeichnungen in der Ursachenforschung zum Ersten Weltkrieg ist vorbei, und die von Hegel in seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie apostrophierte «Eule der Minerva» inspiziert eine Landschaft, in der die mit den Ursachen und dem Verlauf des Ersten Weltkriegs befasste Forschung inzwischen ihr Grau in Grau malt. Eindeutige Antworten sind dadurch ebenso unmöglich geworden wie eindeutige Schuldzuweisungen.

Muenkler_KriegHerfried Münklers Geschichte des Ersten Weltkrieges ist die erste von mindestens drei großen Darstellungen des Ersten Weltkriegs, die ich in diesem Jahr zu lesen vorhabe (Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ und Jörn Leonhards „Die Büchse der Pandora“ sollen folgen). Münkler ist zwar Politologe, hat sich aber schon in zahlreichen anderen Veröffentlichungen mit spezifisch historischen Themen beschäftigt, so dass dieses Buch keine wirkliche Überraschung darstellt.

Das Schwergewicht von Münklers Darstellung liegt auf dem Kriegsverlauf im militärischen Sinne (ohne dass sein Buch zu einer Militärhistorie im engeren Sinne wird), also der Entwicklung der Operationen, den Motiven der jeweiligen militärischen Führungen, den Bedingungen, unter denen an den diversen Fronten gekämpft wurde, den Auswirkungen von Siegen und Niederlagen für die den Krieg betreibenden Nationen. Außerdem kreist Münklers Erzählung des Kriegsverlaufes in der Hauptsache um das Geschehen im Deutschen Reich bzw. Einflussbereich, so dass der Untertitel „Die Welt 1914–1918“ vielleicht ein wenig in die Irre führen könnte.

In diesen von Münkler selbst gewählten Grenzen ist sein Buch, soweit ich das beurteilen kann, tadellos. Sicherlich kann man sich über Einzelheiten streiten, etwa über die genaue Rolle, die die politische Führung des Reiches in der Juli-Krise gespielt hat, also ob es tatsächlich so war, dass der Wille zum Krieg im Wesentlichen von den Militärs gegen die Regierung durchgesetzt wurde, aber insgesamt informiert Münkler exzellent über das Geschehen und liefert eine überzeugende Deutung, wie aus dem Anlass von Sarajevo ein nicht mehr zu begrenzender europäischer Krieg geworden ist.

Der Frage nach der Kriegsschuld weicht Münkler zu Recht aus, oder anders gesagt: Er zeigt auf, dass diese Frage falsch gestellt ist. Münkler macht deutlich, dass im Denken der Führung des deutschen Militärs und zumindest auch eines bedeutenden Teils der Politiker ein Krieg als eine unausweichliche Folge der geopolitischen Lage verstanden wurde, den es je eher, je besser auszukämpfen galt. Hinzukommt bei allen späteren Kriegsteilnehmern das Phänomen, dass man einen politischen „Gesichtsverlust“ und damit eine Einbuße von Einfluss auf das internationale politische Geschehen befürchtete, wenn man in der Juli-Krise keine Stärke bewies. Hinzukommen konkrete machtpolitische Konflikte auf dem Balkan, auf dem die k.u.k. Monarchie ihren Führungsanspruch und damit indirekt auch ihren Anspruch, als eine europäische Großmacht begriffen zu werden, massiv in Frage gestellt sah. Am Ende lassen sich alle Teilnehmer mehr oder weniger darauf ein, dass dies eben eine  günstige Gelegenheit ist, die anliegenden politischen Konflikte mit dem bewährten Mittel eines Krieges zu klären, um wenigstens zu einem neuen politischen Gleichgewicht zu gelangen. Dazu trägt sicherlich auch bei, dass die meisten der Entscheider in Militär und Politik tatsächlich der Überzeugung waren, dass der Krieg innerhalb von fünf Monaten wieder beendet sein würde.

Zuzustimmen ist Münkler jedenfalls in der Einschätzung, dass der Regierung Bethmann Hollwegs spätestens mit Ausbruch des Krieges die eigentliche politische Führung des Deutschen Reiches von einer Allianz aus Kaiser und Militär aus der Hand genommen wurde und später allein in die Hände der Obersten Heeresleitung geraten ist. Erst mit dem Eingeständnis der Unmöglichkeit, den Krieg noch weiterzuführen, wird die politische Macht wieder den zivilen politischen Akteuren übergeben, die damit vor die Aufgabe gestellt werden, die innen- und außenpolitischen Folgen des ersten Versuchs eines „absoluten Krieges“ wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. So ist für Münkler weniger die Kriegsschuldfrage wichtig als vielmehr die, warum es nicht  gelingen konnte, den Krieg zu einem deutlich früheren Zeitpunkt zu beenden. Ihm ist wohl zuzustimmen, dass dies wesentlich auch an der strukturellen Machtlosigkeit der deutschen Politik vor der Allianz von Kaiser und Militärs liegt.

Was man in Münklers Darstellung vermissen kann, ist die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Folgen dieses Krieges. Zwar werden alle wichtigen Phänomene kurz angerissen, auch ist Münkler in seiner These zuzustimmen, dass der Erste Weltkrieg das Ende der bürgerlichen Kultur im engeren Sinne bedeutet, aber alle daraus resultierenden Folgen bleiben bei Münkler ausgeblendet. Auch die gesellschaftlichen Unruhen in Deutschland gegen Kriegsende kommen eher am Rande vor, soweit es sich nicht um militärische Ereignisse (Kampfstreiks, Meutereien etc.) handelt. Hier hätte zumindest ich mir eine etwas andere Gewichtung gewünscht; aber man darf nicht alles, von einem einzigen Buch erwarten.

Hinzuzufügen ist, dass Münklers Buch auffallend angenehm zu lesen ist. Seine Erzählung ist in allen Teilen klar strukturiert, und ihm gelingt es, auch komplexe Vorgänge systematisch aufzuarbeiten und in den Zusammenhängen deutlich zu machen. Das Buch schöpft aus einer beeindruckenden Quellenkenntnis, die weit über den Rahmen dieses konkreten Buches hinausgeht. Alles in allem eine beeindruckende Geschichte des Ersten Weltkrieges vom Attentat in Sarajevo bis zum Waffenstillstand vom 11. November 1918, wenn ihre Lektüre allein auch nicht ausreicht, die komplexen Umbrüche in der europäischen Kultur, die er hervorbringt, auch nur annähernd zu begreifen. Sie bietet aber ein solides Rückgrat für jede weiterführende Lektüre.

Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918. Berlin: Rowohlt Berlin, 2013. Pappband, Lesebändchen, 924 Seiten. 29,95 €.

Vladimir Nabokov: Die Gabe

Er war blind wie Milton, taub wie Beethoven und obendrein dumm wie Beton.

Nabokov-Gabe„Die Gabe“, entstanden in den Jahren 1933 bis 1938 in Berlin und an der Côte d’Azur, ist der letzte Roman, den Nabokov auf Russisch schrieb. Er ist auch so etwas wie ein erster Abschluss seiner Aus­ein­an­der­set­zung mit der russischen Immigranten-Szene Berlins, in der Nabokov von 1922 bis 1937 gelebt hatte. Zudem ist es der bis dahin literarischste Roman Nabokovs, da sein Protagonist ein junger russischer Schriftsteller ist und die russische Literatur seit dem 19. Jahrhundert eine der thematischen Ebenen des Romans bildet.

Erzählt wird die Geschichte des jungen Grafen Fjodor Godunow-Tscherdynzew, der zu Anfang des Romans gerade seinen ersten Gedichtband veröffentlicht hat. Er lebt in der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts als russischer Exilant in Berlin; seine Mutter und Schwester sind in Paris, sein Vater, ein berühmter For­schungs­rei­sen­der, ist auf seiner letzten Expedition verschollen und muss für tot gehalten werden. Seine sozialen Kontakte sind auf einen kleinen Kreis von Immigranten beschränkt, darunter auch einige Schriftsteller, die wie er selbst mit der kärglichen Bedingungen des Exils zurechtkommen müssen. Handlung hat das Buch nur wenig: Nach einer Zeit der Untätigkeit beginnt Godunow-Tscherdynzew die Biographie seines Vaters zu verfassen, gibt dieses Projekt aber nach einigen Monaten wieder auf, um stattdessen die Biographie Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewskis (1828–1889) zu schreiben. Nabokov lässt es sich nicht nehmen, diese Biographie im 4. Kapitel des Romans auf knapp 150 Seiten vollständig wiederzugeben. Das Buch wird ent­ge­gen der Intention ihres Verfassers weithin als Parodie oder sogar als Satire auf das Leben des frühen russischen Revolutionärs verstanden, weshalb Godunow-Tscherdynzew zuerst einige Schwierigkeiten hat, einen Verlag für das Buch zu finden; als es dann doch erscheint, wird es rasch zum Zentrum eines Sturms im Wasserglas der russischen Exil-Literatur.

Unterdessen hat sich der Protagonist verliebt: Sina, die Stieftochter seines neuen Vermieters, trifft sich täglich mit ihm zu Spaziergängen durch das abendliche Berlin. Sie unterstützt ihn bei der Arbeit an der Biographie, wahrscheinlich aber auch finanziell – sie arbeitet als Schreib­kraft bei einem Rechtsanwalt und gibt Fjodor zumindest ein­mal eine hohe Summe, damit er die ausstehende Miete bei ihren Eltern bezahlen kann. Dass das Paar füreinander bestimmt ist, macht Nabokov im letzten Kapitel klar, als er die Eltern Sinas nach Kopenhagen ziehen lässt; auf den letzten Seiten gehen die beiden Liebenden zur nun leeren Wohnung zurück, um ihre erste Liebesnacht miteinander zu ver­brin­gen. Nabokov wäre allerdings nicht Nabokov, wenn er für die beiden nicht noch eine kleine, böse Überraschung vorbereitet hätte, die am Ende aber unerzählt bleibt.

Das Buch ist sicherlich für Kenner der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vergnüglicher zu lesen als für den gewöhnlichen deutschen Leser. Besonders die frühen Passagen der Tscher­ny­schew­ski-Bio­gra­phie in Kapitel 4 sind etwas zäh; dagegen ist die von Na­bo­kov detailliert vorgeführte Rezeption des Buches eine hübsche Parodie auf Gepflogenheiten des Literaturbetriebs, die sich bis heute nicht groß geändert haben. Erwähnt werden sollte wohl noch, dass Nabokov auch in diesem Buch mit den Grenzen zwischen Phantasie und Realität spielt: An zahlreichen Stellen des Buches geht die Wahrnehmung des Helden nahtlos in eine seiner Phantasien über; auch Träume spielen wieder eine bedeutende Rolle im Text.

Alles in allem ein routinierter Künstlerroman, der viel von der li­te­ra­ri­schen Kultur der russischen Exilanten in Berlin widerspiegelt; zugleich handelt es sich um eine satirische Auseinandersetzung mit der rus­si­schen Literaturszene, sowohl der des 19. Jahrhunderts als auch der Opposition zwischen den revolutionär orientierten und den kon­ser­va­ti­ven Kräften des Exils. Die deutsche Übersetzung beeindruckt be­son­ders durch die Übersetzungen der Gedichte des Protagonisten, bei denen der Übersetzerin das nicht kleine Kunststück gelingt, einen halb originellen, halb eklektizistischen Tonfall zu erzeugen.

Vladimir Nabokov: Die Gabe. Deutsch von Annelore Engel-Braunschmidt. Gesammelte Werke V. Reinbek: Rowohlt, 42001. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 795 Seiten. 30,– €.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung

Ich brauche wenigstens die theoretische Möglichkeit, daß ich einen Leser habe, sonst könnte ich das eben­so­gut alles zerreißen.

Nabokov_Enthauptung

„Einladung zur Enthauptung“ ist ein kurzer Roman, den Nabokov 1934 in Berlin sozusagen zwischendurch geschrieben hat: Seine Niederschrift unterbrach die des deutlich umfangreicheren Romans „Die Gabe“. Erzählt werden die letzten Tage des Gefangenen Cin­cin­na­tus, der zu Anfang des Buches als soeben zum Tode Verurteilter in seine Zelle zurückkehrt. Cin­cin­na­tus ist offenbar Opfer eines totalitären Regimes, das ihn wegen eines Persönlichkeitsverbrechens verurteilt hat: Im Gegensatz zu seinen Mitbürgern erscheint Cincinnatus als eine opake Person, die sich an den unter seinen Mitmenschen verbreiteten Aktivitäten und Ver­gnü­gun­gen nur ungern beteiligt.

Die erzählte Zeit umfasst etwas mehr als vierzehn Tage, in denen Cincinnatus auf seinen Hinrichtung wartet. Der Roman enthält ein selbst für die Grundkonstellation sehr reduziertes Personal: Ein Wächter, der Gefängnisdirektor, dessen Tochter Emmi, ein Rechts­an­walt, ein vorgeblicher Mitgefangener, der sich aber bald als der Henker herausstellt, eine Spinne sowie Cincinnatus vorgebliche Mutter und seine Ehefrau bilden im Wesentlichen das Personal. Der Text ufert hier und da ins Phantastische aus und lässt die Grenze zwischen einer ohnehin nur pseudorealistischen und einer Traumwelt immer wieder verschwimmen.

Es ist verführerisch einfach, den Roman als eine Kritik an der Ideologie und am Menschenbild der jungen Sowjetunion zu lesen, die, wie wohl alle totalitären Staaten, grundsätzlich ein stärkeres Interesse an gut funktionierenden Bürgern hatte, die sich ohne Rest in die Ansprüche und Bedürfnisse des Staatswesens eingliedern lassen, als an in­di­vi­du­el­len Charakteren. Dass Nabokov einen Einzelgänger und Eigenbrötler imaginiert, der allein aufgrund seines Charakters gleich zum Tode verurteilt wird, ist eine verständliche Zuspitzung dieses staatlichen Anspruches. Es mag auch sein, dass er vergleichbare Züge auch im Deutschland des Jahres 1934 erkannt hat, doch fehlen im Text jegliche Hinweise auf nichtrussische Verhältnisse.

Ein solche Deutung wäre nicht falsch, würde die Reichhaltigkeit des Textes aber klar un­ter­lau­fen. Wie immer interessieren Nabokov weit mehr Formen der Ge­fan­gen­schaft als diese eine: Die Gefangenschaft in Ehe und Familie, im Körper, in der Zeit und die der Sexualität spielen eine zumindest ebenso große Rolle wie die durch Staat und Gesellschaft.

Insgesamt ist der Roman etwas abstrakt geraten und erinnert – auch wenn sich Nabokov im Vorwort der späteren englischen Ausgabe dagegen verwehrt – unweigerlich an Kafkas Welten. Die be­schrie­be­ne Wirklichkeit bleibt eher undeutlich und kann allein von daher sehr vielfältig ausgedeutet werden. Das Ende wiederum, das die ab­schlie­ßen­de Hinrichtung eher auflöst als durchführt, erinnert stark an „Die Mutprobe“, so dass dieser kleine Roman am Ende als eine Variation bereits bekannter Themen Nabokovs erscheint: der gefangene Autor und sein Entkommen ins Reich der Phantastik.

Vladimir Nabokov: Einladung zur Enthauptung. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke IV. Reinbek: Rowohlt, 22003. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 267 Seiten. 22,– €.

Bill Bryson: Sommer 1927

Charles Lindberghs Tournee war immer noch nicht beendet.

Bryson-1927Nachdem nun schon eine Zeitlang Jahreszahlen-Bücher beliebt zu sein scheinen, legt der erfolgreiche Sachbuchautor Bill Bryson mit „Sommer 1927“ ein erstes Jahreszeiten-Buch vor, wenn er auch dabei etwas mogelt und seinen Sommer auf fünf Monate streckt. Ich erwarte nun binnen Jahresfrist einen Tausendseiter von Peter Ackroyd, etwa über den 23. April 1616, also circa 500 Seiten für jeden der beiden Tage.

Nach den beiden materialreichen Bänden zur Wissenschafts- bzw. zur Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts – „Eine kurze Geschichte von fast allem“ und „At Home“ –  liefert Bryson mit „Sommer 1927“ eine US-amerikanische Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Der Sommer 1927 bildet dabei in der Hauptsache aus zwei Gründen den Schwerpunkt: zum einen dem Lindbergh-Flug über den Atlantik, zum anderen dem bis heute bestehenden Rekord des Baseball-Spielers Babe Ruth.

Ich muss gestehen, dass ich an diesem sehr auf ein US-Publikum zugeschnittenen Buch nur mäßig interessiert war, was aber gut an mir und nicht am Buch liegen kann. Weder interessiert mich eine aus­führ­li­che Darstellung der Geschichte des Baseballs, noch habe ich mein kind­li­ches Interesse an der Fliegerei über mehr als dreißig Jahre hinweg konservieren können. Auch der Boxsport, die Vita Al Capones oder Henry Fords konnten mich nicht gefangennehmen. Hinzukommt, dass die Übersetzung des Buches offenbar unter großem Zeitdruck ent­stan­den und stilistisch nicht immer rund geraten ist. Auch das un­durch­schau­ba­re Nebeneinander von metrischen und nichtmetrischen Längenangaben, die häufig nicht oder nur schlecht erklärten Be­grif­fe aus der Welt des Baseballs und nicht zuletzt die, auch was den Zeitrahmen angeht, umfangreichen Abschweifungen haben meine Unzufriedenheit wohl noch erhöht.

Alles in allem kein wirklich schlechtes Buch, aber verglichen mit seinen beiden Vorgängern für mich eine Enttäuschung.

Bill Bryson: Sommer 1927. Übersetzt von Thomas Bauer. München: Goldmann, 2014. Pappband, Lesebändchen, 639 Seiten. 24,99 €.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg

Das menschliche Leben ist, melde gehorsamst, Herr Oberleutnatnt, so kompliziert, dass das Leben des einzelnen Menschen dagegen ein Witz ist.

Hasek-SvejkEinhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs und neunzig Jahre nach der bis dahin ersten und einzigen Übersetzung von Hašeks weltberühmten Roman legt Reclam eine lange überfällige Neu­über­set­zung des „Švejk“ vor. Die frühe Übersetzung durch Grete Reiner, die bis dato die deutsche Rezeption des Romans geprägt hat, war bereits von Kurt Tucholsky unter den Verdacht gestellt worden, das Original zu verfälschen.

Die neue Übersetzung durch Antonín Brousek räumt den deutschen Text jedenfalls umfassend auf: Das Böhmakeln Švejks wird komplett beseitigt (mit dem berechtigten Hinweis, dass sich im Original nichts findet, was diesem Dialekt entsprechend würde), Austriazismen und veraltete Wendungen werden ersetzt, die deutsche Umschrift tsche­chi­scher Eigennamen rückgängig gemacht, einige antideutsche Passagen wieder hergestellt und der Text insgesamt für den heutigen Leser zugänglicher gemacht. Eine tatsächliche Beurteilung der Übersetzung muss ich aber jenen überlassen, die sie mit dem Original vergleichen können.

Unabhängig von der Frage nach der Übersetzung wurde mir die er­neu­te Lektüre des „Švejk“ aber an einigen Stellen lang. Es wird doch sehr deutlich, dass Hašek eigentliches Talent bei den kurzen literarischen Formen lag, und er einen Roman im Wesentlichen dadurch erzeugte, dass er anekdotische Stücke schlicht aneinanderklebte. Zwar gibt es den großen Plan, das Buch mit der Ermordung des Erzherzogs Franz-Ferdinand beginnen und „nach dem Krieg um sechs Uhr abends“ enden zu lassen, aber bis auf diesen großen Rahmen (der tausende von Seiten hätte füllen müssen, hätte Hašek ihn jemals ausführen können) sind nur Rudimente einer erzählerischen Struktur erkennbar. Mehr als verzeihlich ist dies nur wegen des die formlose Geschwätzigkeit des Textes widerspiegelnden Protagonisten, der dem Leser in einer nicht anders als genial zu nennenden Weise zugleich auf die Nerven geht und ihn in seinen Bann schlägt. Švejk ist eine einzige, sich per­pe­tu­ie­ren­de Variation des Unfug sprechenden Menschen. Der spezifische Unfug Švejks ist eine unendliche Folge von Anekdoten, die alle mit dem Ereignis, das sie auslöst, nichts, aber auch rein gar nichts zu tun haben. Ich habe mich am Ende gewundert, dass ich es tat­säch­lich geschafft habe, die knapp 900 Seiten des Romans zu lesen, ja, dass es gegen Ende sogar wieder mit zunehmendem Vergnügen war.

Abgesehen von diesem beherrschenden Mangel an Struktur enthält der Roman eine scharfe Kritik sowohl der k.u.k. Monarchie als auch ihres Militärs und des Krieges. Der überall vorherrschende Grundtypus ist der des Idioten, wobei das Bild durch einige wenige halbwegs der Vernunft gehorchende Figuren abgemildert wird: der Oberleutnant Lukaš, der Einjährigfreiwillige Marek, vielleicht gerade noch der Hauptmann Ságner – alle anderen Figuren scheinen mehr oder weniger vom wilden Affen gebissen zu sein. Insofern sind „Die Abenteuer des guten Sol­da­­ten Švejk im Weltkrieg“ eines der großen pessimistischen und mis­­an­thro­pi­schen Bücher des 20. Jahrhunderts.

Ergänzt wird der Text in der Reclam-Ausgabe um ein sehr informatives Nachwort des Übersetzers und einen lesenswerten Essay von Jaroslav Rudiš. Ich kann daher nur jedem die Anschaffung und Lektüre dieses Buches empfehlen: Es ist hier ein bedeutender literarischer Klassiker des letzten Jahrhunderts zu entdecken und wieder zu entdecken.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Aus dem Tschechichen übersetzt von Antonín Brousek. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1008 Seiten. 29,95 €.

Dominik Riedo: Wolf von Niebelschütz

Riedo-NiebelschützWolf von Niebelschütz ist, wie bereits an anderer Stelle gesagt, einer der bemerkenswerten Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur: Ei­ner­seits von einer kleinen, aber stetig wachsenden Guppe von Lesern geschätzt, andererseits beinahe nie aus dem Schatten eines Geheimtipp-Daseins herausgetreten, dennoch mit seinen beiden Ro­ma­nen beinahe ununterbrochen lieferbar (sein Biograph Dominik Riedo schätzt die Gesamtauflage der beiden Bücher auf immerhin je 100.000 Exemplare) führt er eine jener langlebigen Randexistenzen der Li­te­ra­tur, die zeigen, dass der Literaturbetrieb doch noch nicht gänzlich auf das Geschäft der Controller heruntergekommen ist. Oder, um es mit einem anderen, wenn auch inzwischen deutlich bekannteren Au­ßen­sei­ter der deutschsprachigen Literatur zu sagen:

Und die eigentlichen ›Pfade‹ in der Literatur sind die Sackgassen, (auch die der Büchersucher und =finder)

Dominik Riedo hat nun im vergangenen Jahr die erste umfassende Biographie über Wolf von Niebelschütz herausgebracht. Das Buch zeugt mit seinen über 900 großformatigen Seiten nicht nur vom Fleiß des Autors, sondern vermittelt ein tatsächlich so vollständiges Bild von Leben und Werk, wie es sich derzeit erstellen lässt. Niebelschütz war zwar adeliger Herkunft, wuchs aber in bürgerlichen Verhältnissen auf, besuchte Schulpforta, begann anschließend in Wien Geschichte zu stu­die­ren, brach das Studium aber schon bald ab und wurde Journalist in Magdeburg bei jener Zeitung, für die auch sein Vater arbeitet. Neben der journalistischen Arbeit schrieb er Gedichte. Vom aufkommenden Nationalsozialismus hält er sich fern, wenn es auch wohl übertrieben wäre, ihn einen Gegner zu nennen (Riedo verschweigt dabei durchaus nicht die antisemitischen Tendenzen, denen Niebelschütz in dieser Zeit anhängt). Dann wird er zur Wehrmacht eingezogen, wobei er dazu neigt, das Soldatentum einerseits in Gedichten heldisch zu überhöhen, andererseits aber persönlich ziemlich unerträglich zu finden.

Noch während des Krieges beginnt Niebelschütz, angeregt durch die Lektüre eines Hofmannthal-Fragments, mit der Arbeit an seinem ersten großen Roman – zwei Romanversuche zuvor sind nicht zur Druckreife gelangt –, einem im 18. Jahrhundert im fiktiven Mit­tel­meer­in­sel­reich Myrrha spielenden Haupt- und Staatsroman, der nicht nur das Zeitalter des Barock mit seinen Umgangsformen und seinem Lebensgefühl feiert, sondern sich zugleich auch über genau diese Fas­zi­na­tion lustig zu machen versteht. „Der blaue Kammerherr“ erschien 1949 im jungen Suhrkamp Verlag, und es sah zuerst nach dem von Autor und Verleger erhofften Erfolg aus. Doch nach anfangs guten Verkäufen ließ das Interesse rasch und deutlich nach, so dass sich Niebelschütz in den Folgejahren als Vortragsredner und Auftragsautor für die deutsche Industrie verdingen musste. So erschien erst zehn Jahre nach seinem Debüt sein zweiter Roman „Die Kinder der Finsternis“, dem beim Publikum ein nahezu identisches Schicksal beschieden war. Dennoch sind beide Romane nie vollständig vom Buchmarkt verschwunden, und mit den Jahren ist Niebelschütz langsam zu dem Status eines wohlbekannten Geheimtipps gekommen, ein Schicksal, dass er zum Beispiel mit Albert Vigoleis Thelen teilt, was zeigen mag, dass es sich um kein so ganz einmaliges Phänomen in der deutschen Nachkriegsliteratur handelt.

Dominik Riedos Biographie ist eine wissenschaftlich orientierte Gesamtdarstellung, die nicht nur Leben und Werk, sondern auch die Rezeption besonders der beiden Romane umfassend würdigt, sowohl was das Feuilleton als auch was die germanistische Forschung angeht. Da das Buch übersichtlich und der Sache nach klar gegliedert ist, erlaubt es aber auch eine eher biographisch als li­te­ra­tur­wis­sen­­schaft­lich gewichtete Lektüre. Überhaupt muss man Riedo einen sprachlich stets klaren und nahezu immer beispielhaft objektiven Zugriff auf die dargestellte Sache bescheinigen; nur einige wenige im Ton schwär­me­ri­sche Stellen lassen hier und da den Fan durchschimmern.

Zu wünschen wäre eine von diesem Buch ausgehende, kürzere und preiswertere, an ein breiteres Publikum gerichtete Biographie Wolf von Niebelschütz’, die vielleicht eine Chance böte, diesen sprachlich ori­gi­nel­len und inhaltlich spannenden Autor, der sich dem Strom der zeit­ge­nös­si­schen Literatur nur wenig angepasst hat, einer noch größeren Leserschaft bekannt zu machen. Man darf jedenfalls gespannt sein, ob und wie sich die Wahrnehmung von Autor und Werk durch Riedos Biographie verändern wird.

Dominik Riedo: Wolf von Niebelschütz. Leben und Werk. Eine Biographie. Bern u.a.: Peter Lang, 2013. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 919 Seiten. 133,80 €.

Isaak Babel: Mein Taubenschlag

Und  das ungeheuerliche Russland, unwahrscheinlich wie eine Herde bekleideter Läuse, stapfte in Bast­schu­hen zu beiden Seiten des Waggons.

Babel-Taubenschlag

Zum schönsten in einem langen und kon­ti­nu­ier­li­chen Leseleben gehören jene Momente, in denen man unvorbereitet auf einen Autor stößt, der einem ganz neu und ursprünglich ein Vergnügen bereitet, mit dem man schon lange nicht mehr gerechnet hatte. Meine Lektüre von Isaak Babels Erzählungen ist ein solcher Glücksfall. Natürlich kannte ich Babel dem Namen nach, wusste auch, dass er in der DDR viel gelesen wurde, aber ich war nie zufällig so an einem seiner Bücher vorbeigekommen, dass es mich im Augenblick gereizt hätte, ihn kennenzulernen. Erst die jetzt erschienene Neuausgabe seiner sämtlichen Erzählungen bei Hanser hat mich verführt.

Im Zentrum des Bandes steht Babels Erzählzyklus „Die Reiterarmee“ in der Übersetzung Peter Urbans, die – mit wenigen Änderungen – aus der Ausgabe der Friedenauer Presse von 1994 übernommen wurde. „Die Reiterarmee“ enthält Babels Erzählungen aus dem Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1920, an dem er als Kriegsjournalist teilnahm, nachdem er zuvor schon im Ersten Weltkrieg und dem nachfolgenden russischen Bürgerkrieg als Soldat und Reporter gedient hatte. Babels Erzählweise ist zumeist denkbar knapp und unemotional, dann aber immer wieder durchsetzt mit kurzen, nahezu lyrischen Na­tur­be­schrei­bun­gen, ohne dass die Texte dadurch ihre Stimmigkeit verlieren würden. Babel versucht an keiner Stelle ein historisches oder auch nur geschlossenes Bild des Krieges zu liefern; er konzentriert sich im Gegenteil auf Anekdoten, von denen durchaus nicht jedesmal klar wird, wo sie in der Chronologie der Ereignisse zu verorten sind. Kriegselend, Euphorie der Attacke und Streitereien unter den Soldaten, hohe Kriegsziele und Orien­tie­rungs­lo­sig­keit, Geistliche, Künstler, Bettler und Generale, Juden und Christen, Polen und Russen treffen unvermittelt auf­ein­an­der, Verständnis, Missverständnis und Tod wechseln sich un­vor­her­seh­bar ab und der Erzähler Ljutov – Babels eigener Nom de guerre – scheint kaum hinterherzukommen mit seinen Notizen.

Um diesen Kern herum finden sich in vier Teilen alle anderen Erzählungen Babels in der Übersetzung von Bettina Kaibach. Man muss ihr das Kompliment machen, dass es ihr tatsächlich gelungen ist, einen Ton für ihre Übersetzung zu finden, der kaum eine Diskrepanz zu dem Urbans erkennen lässt. Natürlich sind Babels Erzählungen aus Odessa stofflich oft leichter und in weiten Teilen humoristischer als die der „Reiterarmee“, aber Kaibach trifft wie Urban die lakonisch-lyrische Spannung der Texte vortrefflich. Der „Reiterarmee“ voran gehen die beiden Sammlungen „Die Geschichte meines Tau­ben­schlags“ und die „Geschichten aus Odessa“, wobei dieser Zyklus und die Sammlung „Die Reiterarmee“ um einige zugehörige Texte ergänzt werden. Nachgestellt sind zwei Gruppen von Erzählungen, die Babel nicht selbst gesammelt hat und die der Chronologie der Entstehung nach geordnet wurden. Besonders die frühen, noch recht konventionellen Erzählungen machen deutlich, wie Babel schließlich zu seinem eigenen, knappen und lakonischen Ton gefunden hat.

Wie bereits oben gesagt, hat mich seit Langem kein Erzähler mehr so auf Anhieb überrascht und überzeugt. Babels Erzählungen prä­sen­tie­ren eine ganz und gar eigenständige und originelle Sicht auf die Welt, sie zeigen eine Wirklichkeit, die sich in dieser Präzision wohl schwer­lich anderswo wird finden lassen, wenn sie sich überhaupt finden lässt. Eines jener wenigen Bücher, die tatsächlich ein Stück Welt bewahren!

Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. München: Hanser, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 863 Seiten. 39,90 €.