J. M. G. Le Clézio: Der Afrikaner

978-3-446-20948-0 Als Jean-Marie Gustave Le Clézio im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er zumindest in Deutschland wohl einer der unbekanntesten Autoren der Weltliteratur. Einige Feuilletonisten machten sich über die Wahl Le Clézios ein wenig lustig, indem sie andere, ob ihrer Belesenheit berühmtere Feuilletonisten befragten, die ihre Unkenntnis wenn nicht des Autors so doch seines Werks so offen zugaben, als handele es sich dabei um ein Verdienst. Überrascht mussten dann alle zusammen aber feststellen, dass Le Clézios Schriften in einem so bedeutenden Umfang auf Deutsch vorlagen, dass es zu seiner Unbekanntheit in einem nahezu erschütternden Verhältnis stand.

Mir ist nun eher zufällig als erstes ein kleines autobiographisches Bändchen in die Hand geraten: Der Afrikaner ist ein Erinnerungsbuch an Le Clézios Vater, der den Hauptteil seines Lebens als Arzt in Afrika zugebracht hat. Er war durch den Zweiten Werltkrieg von seiner Frau und seinen beiden jungen Söhnen getrennt, die, als sie den Vater im Jahr 1948 endlich kennenlernten, in ihm einen strengen, autoritären Patriarchen fanden, den sie nicht zu lieben vermochten. Le Clézios Buch ist ein Dokument des späten Verständnisses, das der Autor für seinen Vater entwickelt hat. Es schildert das einsame und verzehrende Leben des Vaters in Afrika, geboren aus einer Ablehnung der englischen Gesellschaft und ihres Kolonialismus. Und auch nach seiner Rückkehr nach Europa bleibt der Vater ein isolierter Mann, da ihm seine afrikanischen Erfahrungen eine Eingliederung in die europäische Gesellschaft verstellt.

Ein lesenswertes kleines Buch eines Sohnes, der aus seinem Zorn und seiner Enttäuschung dem Vater gegenüber herausfindet und sein schwieriges Verhältnis zu ihm überwinden kann. Sicher wäre auch manch anderen eine solche Annäherung an den eigenen Vater zu wünschen.

Als Obskurität ist anzumerken, dass sich die Vornamen des Autors nur auf dem Waschzettel, nicht aber im Buch finden lassen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. München: Hanser, 22008. Pappband, 136 Seiten. 14,90 €.

Joseph Conrad: Jugend / Herz der Finsternis / …

conrad_jugend … Das Ende vom Lied. Drei Erzählungen Joseph Conrads, die in dieser Zusammenstellung zum ersten Mal 1902 erschienen sind. In dem mitgelieferten Vorwort Conrads aus dem Jahr 1917 weist der Autor jegliche Idee einer zyklischen Anlage der Sammlung zurück und betont, dass die Texte nur aufgrund ihrer in etwa zeitgleichen Entstehung zusammengehören. Karriere gemacht hat bekanntlich Herz der Finsternis, das spätestens durch die freie Variation in Apocalypse Now in der westlichen Kultur Kultstatus bekommen hat.

Allerdings lag bislang keine wirklich gute Übersetzung vor. Ich selbst hatte mir nach der ersten Lektüre der englischen Originale Conrads eigentlich vorgenommen, keine weiteren Übersetzungen seiner Bücher ins Deutsche zu lesen. Doch als mir letztens von meinem Buchhändler der hier vorgestellte Band in die Hand gedrückt wurde, war ich erstaunt, wie genau der Ton der ersten Seite von Herz der Finsternis meiner Erinnerung an das Original entsprach. Dieser erste Eindruck hat sich gehalten: Die Übersetzungen haben durchgängig ein hohes Niveau und ein genaues Gespür für die von Conrad tonal erzeugten Stimmungen. Das lässt sich natürlich nicht in allen Fällen nachbilden, ist aber hier besser gelungen, als ich es bislang in irgend einer der älteren Übersetzungen gefunden habe.

Die beiden ersten Erzählungen haben eine Rahmenerzählung, in der Conrads Erzählerfigur Marlow in einem Kreis Londoner Bekannter eigene Erlebnisse berichtet: Jugend von seiner ersten Fahrt als Zweiter Offizier auf einem heruntergekommenen Frachter, der schließlich auf hoher See Opfer eines Schwelbrandes in der Ladung wird, Herz der Finsternis von seiner Zeit als Kapitän auf dem Kongo und seiner Begegnung mit dem Handelsagenten Kurtz, der – halb wahnsinnig, halb hybrider Philosoph – im Kern die Faszination und begriffliche Hilflosigkeit der Weißen angesichts der Konfrontation mit dem schwarzen Kontinent widerspiegelt.

Die wohl insgesamt weniger bekannte Erzählung Das Ende von Lied (deren Originaltitel The End of the Tether den sprichwörtlichen Geduldsfaden mit ins assoziative Spiel bringt), ist die Geschichte des alternden Kapitän Whalley, der sich, um seine verheiratete Tochter finanziell unterstützen zu können, noch einmal für drei Jahren als Kapitän verpflichtet. Dies erweist sich für ihn als ein Wettlauf mit der Zeit und der eigenen Gesundheit. Diese Erzählung kann als ein Musterstück retardierenden Erzählens gelesen werden, denn die Fabel bleibt wesentlich anekdotisch und ließe sich ohne großen Verlust auf zwei Seiten zusammenfassen. Doch die ausführliche Beschreibung zahlreicher Nebenfiguren, ihrer Motive und Geschichte sowie die beinah quälende Verzögerung der Auflösung des Rätsels um Kapitän Whalley machen diesen Text mit beinahe 130 Seiten zum längsten des Bandes.

Wer mit der Lektüre Conrads beginnen möchte, dem sei dieser Band ans Herz gelegt; die anderen, die Conrad nicht im Original lesen, mögen hier nachschauen, was einem sorgfältigen Übersetzer im Deutschen möglich ist.

Joseph Conrad: Jugend / Herz der Finsternis / Das Ende vom Lied. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. Pappband, Lesebändchen, 379 Seiten. 19,90 €.