Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil

Noch bin ich, wiewohl nur teilweise, Borges.

Es gibt wohl keinen ernsthaften Leser, der nicht irgendwann in seinem Leben auf Die Bibliothek von Babel stößt oder gestoßen wird. Allein daraus könnte man die These ableiten, dass Jorge Luis Borges einer der bekanntesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts sein muss, wenigstens unter denen, auf die es ankommt.

Die Bibliothek von Babel beschreibt ein anscheinend unbegrenztes sphärisches Universum, das im Wesentlichen nur aus sechseckigen Räumen, Verbindungsgängen und Treppen besteht. In jedem der Räume bestehen vier der Wände aus jeweils fünf Bücherregalen mit immer 32 Büchern, von denen jedes 410 Seiten hat; „jede Seite hat vierzig Zeilen; jede Zeile etwas achtzig Zeichen von schwarzer Farbe“. Die Bücher sind außen beschriftet, aber es kann in der Regel vom Titel des Bandes, so er überhaupt einen Sinn hat, nicht auf den Inhalt des Buches geschlossen werden. Diese Bibliothek wird von Bibliothekaren bewohnt, deren Hauptaufgabe darin besteht, den ihnen erreichbaren Teil der Bibliothek nach sinnvollen Zeichenkombinationen in den Büchern zu durchsuchen, denn ihr Inhalt besteht aus zufälligen Aneinanderreihungen von 25 alphabetischen Symbolen (22 Buchstaben, Punkt und Komma sowie das Leerzeichen). Wovon diese Bibliothekare leben, wie sie sich ernähren, bleibt unerwähnt.

Es haben sich mit der Zeit unter den Bibliothekaren einige Annahmen über die Bibliothek durchgesetzt; dazu gehört die These, dass die Bibliothek alle möglichen Kombinationen der 25 Symbole enthält; allerdings hat es in früheren Zeiten Versuche gegeben, sich gegen die Hoffnungslosigkeit, die die Bibliothek in den Bibliothekaren erzeugt, dadurch zu erwehren, dass man systematisch Bücher vernichtet hat; doch hat dies kaum Auswirkungen auf den Bestand der Bibliothek, denn zu jedem vernichteten Buch gibt es zahllose Kopien, die von dem vernichteten nur um ein oder zwei Symbole abweichen. Naturgemäß enthalten die meisten Bände unlesbare Zeichenfolgen, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Zeichenketten in einer vergangenen oder zukünftigen Sprache sinnvolle Texte ergeben. Doch kaum ein Bibliothekar hat in seinem Leben mehr als eine Handvoll lesbarer Einzelstellen zu sehen bekommen.

Eines [der Bücher], das mein Vater in einem Sechseck des Umgangs 1594 erblickte, bestand aus den Buchstaben M C V, in perverser Wiederholung von der ersten bis zur letzten Zeile. Ein anderes (das in dieser Zone oft konsultiert wird) ist ein reines Buchstabenlabyrinth, aber auf der vorletzten Seite steht: O Zeit deine Pyramiden. Man ersieht hieraus: Auf eine vernünftige Zeile oder korrekte Notiz entfallen Meilen sinnloser Kakophonien, sprachlichen Plunders, zusammenhanglosen Zeugs.

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Eine andere Sicht auf die Bibliothek versteht aber, dass irgendwo in ihr auch alle Meisterwerke der Literatur aller Zeiten verborgen sein müssen und das wiederum unzählige Male. Irgendwo gibt es den unwiderlegbaren Beweis, dass Shakespeare mit Queen Elizabeth identisch war, in einem anderen, dass es sich bei seinen Werke um eine geschickte Fälschung Goethes handelt. Ebenso findet man die schlüssigen Beweise für jede bekannte und unbekannte Verschwörungstheorie ebenso wie deren Widerlegung, ja es muss Bücher geben, in denen Beweise und Gegenbeweise sich in den Sätzen Wort für Wort abwechseln. Und es gibt ein Buch, in dem die Wirklichkeit der Welt enthüllt wird, also einen Katalog der Kataloge der Bibliothek, durch den jedes Buch direkt erreichbar wird. Leider gibt es auch endlos viele Fälschungen dieses Katalogs. Und gleichgültig wie viele Fälschungen es gibt, niemand wird sie je in dem Ozean des Unlesbaren finden.

Je länger man über dieses im Grunde recht einfach entworfene Labyrinth nachdenkt, desto tiefer und desaströser wird es: Wenn man beginnt zu begreifen, dass unsere wirklichen Bücher nur eine verschwindende Teilmenge der Bibliothek von Babel sind und nichts sie davor schützt, gänzlich unerheblich zu sein, weil sich in ihr nicht nur viel größere Meisterwerke mit Notwendigkeit finden, sondern weil es auch ein Buch dort gibt, dass unsere gesamte Kultur unrettbar der Banalität übergibt. Manche Gedankenspiele sind geeignet, einen zur Verzweiflung zu bringen.

Nun ist Die Bibliothek von Babel nur eine von zahlreichen Erzählungen in diesem Buch. Es enthält drei Erzählbände von Borges: Universalgeschichte der Niedertracht (1934), Fiktionen (1944) und Das Aleph (1949). Während die Universalgeschichte der Niedertracht hauptsächlich Biographien von Betrügern, Seeräubern, Mördern und anderen Verbrechern enthält (Borges hat auch später noch eine große Neigung dazu gehabt, obskure Biographien, Fakten und Fiktionen zu sammeln), finden sich auch Paraphrasen von Erzählungen aus anderen Quellen. Fiktionen bringt zahlreiche phantastische Erzählungen, die zumeist einen einzigen zentralen Gedanken oder ein einziges zentrale Motiv in die Konsequenzen ausspinnen; darunter findet sich auch die oben vorgestellte Bibliothek von Babel. Das Aleph kann als eine Fortsetzung und Mischung der Tendenzen der beiden Vorgängerbände angesehen werden.

Borges, der immer nur in kleinen Formen (Erzählung, Anekdote, Lemma, Gedicht) exzelliert hat, muss als einer der ganz großen Meister der Literatur des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die Fülle seines oft entlegenen Wissens, seiner originellen Einfälle und seiner ausgesuchten Sprache machen jedes seiner Bücher zu einem gänzlich eigenen Lese-Abenteuer. Jeder und jedem, der ihn noch nicht gelesen hat, sei geraten, es mit zumindest einem der beiden Erzählbände aus der Hanser-Werkausgabe (insgesamt 12 Bände) zu versuchen; alle Bände der Ausgabe sind zu Taschenbuch-Preisen als eBooks verfügbar.

Jorge Luis Borges: Der Erzählungen erster Teil. Aus dem Spanischen übersetzt von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs. Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Band 5. München: Hanser, 42019. Kindle Edition. 459 Seiten. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Blogparade: So verstau’ ich meine Bücher

bibliothek01 Read it! hat eine Blogparade angestoßen, in der man seine Büchersammlung vorstellen soll. Links ist das Hauptgewicht meiner privaten Sammlung zu sehen: die Belletristik. Die Aufstellung ist inzwischen wieder nach Autoren-Alphabet, nachdem ich während des Studiums – da hat man mehr Zeit zum Suchen – eine ganze Zeit lang eine Aufstellung nach Geburtsdatum des Autors vorgezogen hatte. Den umfangreichsten Anteil bildet deutsche Belletristik, gefolgt von englischen und bibliothek02amerikanischen Autoren (viele im Original; Englisch ist die einzige Fremdsprache, die ich flüssig lese). Unter den Franzosen sticht eindeutig Flaubert hervor, bei den Russen ist die Auswahl sehr konventionell. Italiener und Spanier sind nur vereinzelt vertreten.

Inmitten der »Bibliothek« steht ein Lesesessel. Im Hintergrund sind hier Nachschlagewerke zu sehen, direkt hinter dem Sessel und rechts davon ist die Goethe-Sammlung; ganz rechts sind noch Kleist und Fontane zu erraten.

bibliothek03Außer dieser Hauptmasse finden sich auch sonst in allen Räumen außer der Küche und dem Bad Bücherregale. Hier dürften die gut 12 Meter Philosophie den wichtigsten Teil bilden, die im Arbeitszimmer direkt hinter mir stehen. Dabei liegen die Schwerpunkte auf der Antike, dem deutschen Idealismus und seinen Folgen und dem 20. Jahrhundert (allerdings mit Ausnahme Sartres ohne die Franzosen). Auch hier ist die Aufstellung aus praktischen Gründen nach Alphabet. bibliothek04Neben diesen Hauptgruppen gibt es einzelne Regale für Geschichte, Kulturwissenschaften und Religion, Germanistik (wenig für einen, der das Fach studiert hat) und Rhetorik, Naturwissenschaften und was man sonst noch so braucht. Da kommen auch noch einige Meter zusammen. Insgesamt herrscht drängender Platzmangel, was die zahlreichen Bücherstapel in allen sich anbietenden Ecken beweisen.

Besonders alte oder wertvolle Ausgaben finden sich bei mir kaum; ich  arbeite mit den Büchern, da sind solche Eigenschaften eher hinderlich beim praktischen Umgang. Auch habe ich nie besonderen Wert auf Erstausgaben gelegt, wenn sich auch hier und da Ausnahmen finden.

Horst Günther: Das Bücherlesebuch

buecherlesebuchDer Titel Bücherlesebuch ist etwas unspezifisch; im Mittelpunkt dieses Buchs steht der Gedanke, wie eine private Bibliothek aufzubauen wäre. Zwar werden auch öffentliche und wissenschaftliche Bibliotheken behandelt, auch dem Bibliographienwesen wird ein wenig Raum gewidmet, aber der Hauptteil des Buches besteht aus Empfehlungen zur europäischen Literatur, ergänzt um einige kurze Abschnitte zu Fachbereichen wie Philosophie, Geschichte, Jura, Naturwissenschaften, Kunst und einigen anderen. Sogar für ein Musikarchiv als Ergänzung der Bibliothek wird plädiert.

Die Stärke des Buches liegt in Günthers ganz subjektivem Ansatz, der um seine eigene Perspektive weiß, weder das deutliche Urteil scheut, noch glaubt, damit sei die Sache erledigt: »Man lege seiner Neugier keine Zügel an …« [S. 131], ist wahrscheinlich der Satz, der den Geist des Buches am besten zusammenfasst. Erfrischend ist es, etwa solche Einschätzungen zu lesen:

Was Thomas Mann betrifft, so nehme man einmal eine Seite aus dem Tod in Venedig und lege sie neben eine aus Goethes Wahlverwandtschaften und prüfe, wer schreiben kann. Er hat ja seine Verdienste, aber man lasse sich doch nicht einreden, daß ein Dokument des deutschen Zusammenbruchs wie der Doktor Faustus ein Meisterwerk sei. Er hat auf das Trauma mit einer opportunistischen Geschichtsdeutung reagiert, die dem gebildeten Philister ein Verhängnis mundgerecht vorlegt. [S. 102]

Das ist unfraglich ungerecht, aber eben von einer subjektiven Ungerechtigkeit, die aus einem Überblick heraus gewonnen ist und die Dinge in Relation zu setzen versteht. Solch klärende Subjektivität ist im Gespräch von Leser zu Leser – wohlgemerkt nicht unter Literaturwissenschaftlern, denn die sind einer höheren Objektivität verpflichtet, ohne sie in den meisten Fällen zu erreichen – meist nützlicher als abwägende Versuche, allem gerecht zu werden.

Kernstück ist eine sehr knapp gehaltene Geschichte der europäischen Literaturtradition beginnend beim Gilgamesch-Epos und endend im 20. Jahrhundert. Günthers Empfehlungen sind nicht überraschend und können sicher in ähnlicher Zusammenstellung an zahlreichen Stellen gefunden werden. Auch hier ist es der persönliche Zugriff Günthers, seine eigene Lesegeschichte, die das Buch aus der Masse heraushebt. Hier spricht – ich habe es schon gesagt – ein Leser zu Lesern, ohne Dünkel und auf gleicher Augenhöhe.

Günther behandelt sein breites Thema in kurzen, prägnanten Abschnitten, die es auch erlauben, im Buch zu blättern, kursorisch zu lesen, sich das eine anzueignen und das andere zu ignorieren. Eine kurzweilige und anregende Lektüre für alle leidenschaftlichen Leser und solche, die es erst noch werden wollen.

Horst Günther: Das Bücherlesebuch. Vom Lesen, Leihen, Sammeln: von Büchern, die man schon hat, und solchen, die man endlich haben will. Wagenbach Taschenbuch 200. Berlin: Klaus Wagenbach, 1992. 166 Seiten. 8,50 €.