Uwe Johnson: Jahrestage 4

Nun fing ich an, wegzugehen.

Johnson-Jahrestage-4Erst 1983, also zehn Jahre nach dem dritten Band, erschien der Abschluss der „Jahrestage“. Wahrscheinlich wäre der Roman aufgrund Lebenskrise Johnsons nicht zu Ende geschrieben worden, hätten den Autor nicht massive finanzielle Probleme zu dem Versuch gezwungen, an den Erfolg der früheren Bände anzuschließen. Das Erscheinen des Bandes wurde denn auch entsprechend aktiv vom Verlag beworben, so dass der Band als eine der wichtigsten Neuerscheinungen der Buchmesse 1983 wahrgenommen wurde.

Inhaltlich schließt auch dieser Band nahtlos an den Vorgänger an. Allerdings ist festzustellen, dass das Thema des Kriegs in Viet Nam (um Johnsons Schreibweise zu übernehmen) in den Hintergrund tritt. Ob dies einer bewussten poetologischen Entscheidung des Autors geschuldet ist oder schlicht der Tatsache, dass dieser Krieg nach 10 Jahren im Bewusstsein des Autors schlicht an Bedeutung verloren hat, kann auf die Schnelle nicht entschieden werden. Die Erzählung der Nachkriegszeit setzt den Schwerpunkt auf die Schulkarriere Gesines unter den politischen und ideologischen Bedingungen der frühen DDR – hier ist ein Glanzstück die Behandlung von Fontanes „Schach von Wuthenow“ im Deutschunterricht der „Elf A Zwei“ (2. August 1968 ff.) –, die alles andere als harmlos verläuft, sondern gleich mehrere politische Prozesse gegen Schüler umfasst. Heinrich Cresspahl, der im Mai 1948 als körperlich gebrochener, kranker Mann aus russischer Gefangenschaft zurückkehrt, bleibt im letzten Teil der Erzählung nur eine Nebenfigur. Die Chronologie des Lebens Gesines in der Nachkriegszeit wird gegen Ende des Buches in einem eher summarischen Verfahren bis an den Beginn der erzählerischen Jetztzeit herangeführt und so das Ende mit dem Anfang des Buches zu einem Zirkel geschlossen.

Die zwei Monate des Jahres 1968, die erzählt werden, sind hauptsächlich bestimmt vom Näherrücken des 21. August, an dem Gesine in Prag ihrer neue Stelle antreten soll. Die Entwicklung hin zur Zerschlagung des Prager Frühlings wird täglich der New York Times entnommen, wobei Gesine bis zum Ende optimistisch bleibt, dass das Prager Experiment eines humanen, demokratischen Sozialismus gelingen könnte.

Allerdings hat auch dieser Band seinen zentralen Todesfall: Gesines Geliebter D.E., den zu heiraten sie sich inzwischen entschlossen hatte, stirbt bei einem Absturz mit einer Cessna, die er selbst flog, in Finnland. Gesine verheimlicht diesen Todesfall ihrer Tochter, da sie befürchtet, Marie würde sich ansonsten weigern, mit nach Europa zu kommen. Sie selbst beherrscht ihre Trauer nach wenigen Tagen; von ihrer Bank wegen des Trauerfalls freigestellt, reist sie mit Marie in einer Art Abschiedstournee durch verschiedene Städte der USA.

Das Buch endet mit einem Treffen zwischen Gesine und Dr. Kliefoth, ihrem ehemaligen Lehrer und Schulrektor, am 20. August 1968 in Kopenhagen. Johnson lässt offen, ob Gesine tatsächlich am nächsten Tag in Prag in die Wirren des beginnenden Endes des Prager Frühlings gerät. Spekulieren darf der Leser aber, dass ihr die Wiederholung auch dieses Musters (man bedenke die Rückkehr ihres Vaters ins nationalsozialistischen Deutschland) nicht erspart bleiben wird.

Auch nach der zweiten Lektüre, die diesmal in wesentlich kürzerer Zeit abgeschlossen wurde als beim ersten Mal (von den Veränderungen des Lesers in 30 Jahren wollen wir schweigen), bleibt dies einer der ganz großen Zeitromane der deutschen Literatur. Johnsons Fähigkeit, nicht nur das Leben der Einzelnen, sondern zugleich seine Verflechtung mit und Bedingtheit durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung zu erzählen, macht die „Jahrestage“ nicht nur zu einem bedeutenden Roman, sondern auch zu einem einmaligen Dokument deutscher Lebenswirklichkeit.

Uwe Johnson: Jahrestage 4. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Juni 1968 – August 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1983. Leinen, Fadenheftung, 502 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 814 KB. 11,99 €.

Uwe Johnson: Jahrestage 3

Als Kinder, noch bei Gewitter in einer Kornhocke, haben wir uns gedacht: uns sieht einer. Wir werden alle gesehen.

Johnson-Jahrestage-3Der dritte Band der „Jahrestage“ ist der schmalste der Tetralogie und markiert die Lebens- und Schreibkrise in Johnsons Leben. Er umfasst nur zwei Monate aus dem Leben der Protagonistin im Jahr 1968 statt der vier der beiden vorangegangenen Bände. In Gesines Leben gibt es keine bedeutenden Änderungen: Sie beobachtet auch weiterhin im Auftrag der Bank, bei der sie angestellt ist, die Entwicklung in der ČSSR zu dem Ende, dass sie als Vertreterin der Bank nach Europa wechseln soll.

Für ihre Tochter Marie sind es Monate der politischen Desillusionierung: Ihr Idol John Vliet Lindsay, der Bürgermeister von New York, fällt bei ihr als Opportunist in Ungnade, und auch ihre Trauer um den am 5. Juni 1968 niedergeschossenen und tags darauf verstorbenen New Yorker Senator und Präsidentschaftskandidaten Robert F. Kennedy wird erheblich getrübt durch ihre Einsicht in die Inszenierung dieses Todes durch Politik und Familie. Marie ist zudem gegen den bevorstehenden Umzug nach Europa und will ihre Mutter zum Bleiben in den USA überreden, indem sie ihr ein Haus und eine geruhsame Zukunft verspricht, sobald sie selbst Geld verdienen wird.

Ganz kurz taucht an einem Urlaubswochenende mit zwei Kolleginnen aus der Bank die Alternative einer Frauen-WG vor den Toren New Yorks auf, die es Marie eventuell ermöglichen würde, in den Staaten zu bleiben, während ihre Mutter in Europa arbeitet, doch zerschlägt sich dieser Plan nach kurzer Zeit, weil eine der Frauen doch wieder zu ihrem Mann zurückkehrt. Und auch die Beziehung zwischen Gesine und dem bislang wohl noch gar nicht erwähnten D. E., bürgerlich Professor Dietrich Erichson, einem für die Rüstungsindustrie tätigen Physiker Mecklenburger Herkunft, der Gesine regelmäßig Heiratsanträge macht, die anzunehmen sie sich fürchtet, da sie ihrer eigenen Befähigung zu einem bürgerlich ruhigen Leben misstraut, macht keine wirklichen Fortschritte.

Im Gegensatz dazu entwickelt sich das Leben Heinrich Cresspahls im Nachkriegsdeutschland dramatisch: Zwar übt er auch unter der russischen Besatzung zunächst weiterhin das Amt des Bürgermeisters von Jerichow aus, doch wird er eines Tages aus für ihn nicht durchschaubaren Gründen verhaftet, wochenlang verhört und schließlich ins Lager Fünfeichen überführt und dort anscheinend vergessen. Die dreizehnjährige Gesine lebt nun im väterlichen (eigentlich eigenem) Haus unter der Aufsicht von Jakob Abs und seiner Mutter, ist in Jakob verliebt, ohne es ihm zu zeigen, besucht wieder die Schule und versucht, ohne ihre wichtigste Vertrauensperson, ihren Vater in den ärmlichen Zeiten zurechtzukommen. Der Band schließt mit der Beschreibung des Wiederaufbaus nicht nur der Infrastruktur der russischen Besatzungszone, sondern auch des politischen Lebens durch von der Besatzungsmacht angeregte Gründungen von bürgerlichen Parteien, die die Entstehung eines deutschen Sozialismus vorbereiten sollen.

Uwe Johnson: Jahrestage 3. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. April 1968 – Juni 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1973. Leinen, Fadenheftung, 357 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 593 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal

Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiß, was er sonst tun soll.

Frisch-Berliner-JournalBeim sogenannten Berliner Journal handelt es sich um ein Tagebuch Max Frischs aus den Jahren 1973 bis 1980. Frisch hatte es zuerst für eine Veröffentlichung vorgesehen und entsprechend ausgearbeitet, es dann aber, hauptsächlich aufgrund der Tatsache, dass in dieser Zeit seine Ehe mit Marianne Oellers scheiterte, mit einer 20-jährigen Sperrfrist belegt. Da er es aber in einigen Interviews erwähnt hatte, handelte es sich bei diesem Tagebuch um das bekannteste Desiderat der Frisch-Forschung.

Die Max-Frisch-Stiftung Zürich hat sich nach Öffnung des Manuskripts im Jahr 2011 nun dazu entschlossen, Auszüge aus den ersten beiden von fünf Heften (es handelt sich tatsächlich um Ringbücher, der Herausgeber verwendet aber Frischs eigene Bezeichnung), also den Jahren 1973 und 1974 zu veröffentlichen. Es wurden nur jene Passagen ausgewählt, die nicht Gefahr laufen, Persönlichkeitsrechte anderer zu verletzen. Aus diesen Gründen ist es sehr wahrscheinlich, dass das komplette Journal niemals direkt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden wird.

Das „Berliner Journal“ beginnt mit dem Umzug von Max und Marianne Frisch nach Berlin im Februar 1973. Die Auszüge konzentrieren sich in der Hauptsache auf Begegnungen mit Schriftstellern in West- und Ostberlin, darunter prominent Uwe Johnson, Günter Grass, Christa Wolf, Jurek Becker, Günter Kunert und Wolf Biermann. Der Kontakt zu den DDR-Schriftstellern kommt zuerst über den Verlag Volk und Welt zustande, der zu dieser Zeit an einer kleinen Frisch-Werkauswahl interessiert ist.

Neben den zahlreichen literarischen Begegnungen zeichnet das Tagebuch ein bedrückendes Bild von Frischs häuslicher Situation: Die Ehe kriselt, und Frisch fehlt jegliche Inspiration zu einem neuen Roman oder Theaterstück, so dass das Schreiben am Tagebuch seine einzige literarische Arbeit in dieser Zeit darstellt. Da Frisch inzwischen ein finanziell sehr erfolgreicher Autor ist, fehlt auch jeder materielle Zwang zur Arbeit. Erst die Begegnung mit Alice Locke-Carey im April 1974 führt Frisch aus dieser Phase heraus. Aber das liegt schon jenseits der Auszüge aus dem Journal.

Für viele Frisch-Leser dürften die nun veröffentlichten Teile daher eher eine Enttäuschung darstellen, da in ihnen gerade das autobiographische Widerlager zu „Montauk“, das das Hauptinteresse am „Berliner Journal“ bildet, fehlt. Gelingt es aber, davon abzusehen, so liefert das Buch einige interessante Autoren-Porträts und einen guten, wenn auch schmalen Einblick in den Literaturbetrieb der DDR. In diesem Sinne ist es den 2010 aus dem Nachlass erschienenen „Entwürfen zu einem dritten Tagebuch“ deutlich vorzuziehen. Allerdings erbt auch diese Nachlassveröffentlichung die Marotte der nur spärlich bedruckten Seiten, als gäbe es keine anderen typographischen Mittel, den Seitenumbruch des Originals wiederzugeben.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Hg. v. Thomas Strässle. Berlin: Suhrkamp, 2014. Pappband, 235 Seiten. 20,– €.

Uwe Johnson: Jahrestage 2

Wahrheit. Wahrheit. Schietkråm.

Johnson-Jahrestage-2Zur Struktur des Romans und den allgemeineren Umständen der Fabel ist bei der Besprechung des ersten Bandes schon das Wichtigste gesagt worden. Der zweite Band schließt nahtlos an: In New York bereitet sich Gesine Cresspahl auch weiterhin darauf vor, Ihre Bank in unbestimmter Zeit bei der Prager Regierung zu vertreten. Sie wird deshalb befördert, bekommt ein Büro in einer höheren Etage und auch der Kontakt zum Vizedirektor der Bank de Rosny intensiviert sich. Parallel dazu erfahren wir aus Gesines Lektüre der New York Times von der politischen Entwicklung in der ČSSR und des Vietnam-Krieges. Das einschneidende Ereignis der zweiten Hälfte des Bandes bildet die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April 1968, dem am 11. April die Schüsse auf Rudi Dutschke in Berlin folgen.

Auf der historischen Ebene umfasst die Erzählung die Zeit von 1936 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einzug der Russen in das zuerst britisch besetzte Jerichow. Das bewegendste Ereignis in der ersten Hälfte ist sicherlich der Selbstmord Lisbeth Cresspahls, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 das Leben nimmt. Lisbeth Cresspahl leidet unter einem immer anwachsenden Schuldgefühl: Sie sieht die Entwicklung, die Deutschland nimmt, sie glaubt den Voraussagen ihres Mannes, dass es bald Krieg geben wird, und macht sich Vorwürfe, weil Mann und Kind auf ihren Wunsch hin in Deutschland leben. Und sie hat den Anspruch an sich, dass sie etwas gegen das Böse in dieser Welt tun müsste, Christin, als die sie sich begreift. Ihr Schuldbewusstsein geht soweit, dass ihre Tochter beinahe durch ihre Untätigkeit ums Leben kommt, als sie auf eine volle Regentonne steigt und hineinfällt:

Sie hätte das Kind sicher gewußt, fern von Schuld und Schuldigwerden. Und sie hätte von allen Opfern das größte gebracht. [19. Januar 1968]

Zur Katastrophe kommt es, als Lisbeth am 9. November 1938 im nahe gelegenen Gneez das Niederbrennen der Synagoge erlebt und dann im heimischen Jerichow dazukommt, wie der nationalsozialistische Bürgermeister bei der Plünderung eines jüdischen Geschäftes die kleine Tochter der Eigentümer, Marie Tannebaum, niederschießt. Lisbeth ohrfeigt den Bürgermeister mehrfach und geht dann heim, wo sie allein ist, da Heinrich mit seiner Tochter zu Besuch bei Schwester und Schwager in Wendisch Burg ist. In der Nacht legt Lisbeth Feuer in der Werkstatt Heinrichs und verbrennt dabei selbst. Cresspahls stumme Trauer und Pastor Wilhelm Brüshavers Erwachen zum Widerstand an diesem Todesfall gehören mit zum Besten der deutschen Literatur.

Wie bereits gesagt, wird die Geschichte Cresspahls in diesem Band bis zum Kriegsende fortgeführt: Cresspahl beginnt – mehr gezwungen als freiwillig – für den britischen Geheimdienst zu arbeitet, hält sich aber sonst so weit es geht aus der Welt heraus, ja macht den Eindruck eines über dem Tod seiner Frau merkwürdig gewordenen Kauzes. Er kümmert sich um das Erwachsenwerden Gesines, schmiedet mit ihr ein Schutz- und Trutzbündnis gegen die Welt und übersteht damit den Krieg. Die zuerst in Jerichow einrückenden Briten machen ihn zum Bürgermeister, räumen dann aber aufgrund des Gebietstausches für die drei Westzonen Berlins Mecklenburg komplett und die Russen übernehmen die Stadt.

Herausgehoben werden sollte vielleicht noch die Passage über Hans Magnus Enzensberger und sein von ihm öffentlich inszeniertes Verlassen der USA, das in einiger Breite und mit schöner Ironie präsentiert wird:

– Mrs. Cresspahl, warum macht dieser Deutsche Klippschule mit uns?
– Er freut sich, daß er so schnell gelernt hat; er will uns lediglich von seinen Fortschritten unterrichten, Mr. Shuldiner.
– Sollten wir nun auch nach Cuba gehen? Hat er in Deutschland nichts zu tun?
– Man soll anderer Leute Post nicht lesen, und böten sie einem die an.
– Aber Ihnen, da Sie eine Deutsche sind, hat er gewiß ein Beispiel setzen wollen.
– Naomi, deswegen mag ich in Westdeutschland nicht leben.
– Weil solche Leute dort Wind machen?
– Ja. Solche guten Leute. [29. Februar 1968]

Uwe Johnson: Jahrestage 2. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Dezember 1967 – April 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1971. Leinen, Fadenheftung, 544 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 807 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Uwe Johnson: Jahrestage (1)

Wenn ich gewußt hätte wie gut die Toten reden haben. Die Toten sollen das Maul halten.

Johnson-Jahrestage-1Zum ersten Mal wahrgenommen habe ich Uwe Johnsons „Jahrestage“ in meinem ersten Semester an der Universität Tübingen. Da kam der Autor zu seiner allerletzten öffentlichen Lesung, denn zur Buchmesse war endlich der vierte und abschließende Band des Romans erschienen, und Johnson las in einem der großen Hörsäle im Tübinger Brechtbau vor einem übervollen Haus aus den Abschnitten, in denen Gesine Cresspahl von ihrem Deutschunterricht und Theodor Fontanes „Schach von Wuthenow“ erzählt. Anschließend wollte oder konnte kein einziger der Zuhörer auch nur eine einzige Frage stellen – mir ist bis heute nicht so ganz genau klar, warum nicht –, so dass sich Johnson selbst was fragte und es beantwortete. Ich vermute fast, es ist ihm im Leben oft so ergangen.

Danach habe ich mir die vier Bände, die es damals noch nur im Leineneinband gab, peu à peu zugelegt und mich hineingelesen in die Welt und die Tage der Gesine Cresspahl und ihrer Tochter Marie, die – darauf bestand ihr Autor bei allen Gelegenheiten – keine Figuren sind, sondern Personen waren und mit denen man demgemäß Umgang zu pflegen hatte. Jetzt, 30 Jahre später, sind die vier Bände nicht nur erneut im Taschenbuch aufgelegt worden, sondern auch als eBook; allerdings auch hier immer noch in vier Teilen anstatt als der eine große Roman, als den Johnson den Text gelesen haben wollte. Wahrscheinlich will man bei Suhrkamp Rücksicht auf die Leser nehmen, sich nicht um den Gewinnst bringen von vier Verkäufen statt einem, und wer bei Suhrkamp mag sich überhaupt noch auskennen mit dem, was ein alter Sturkopf ehemals so alles gewollt haben mag. Ich jedenfalls habe die Dateien zum Geburtstag geschenkt bekommen, und die zweiten Lektüre denke ich mehr oder weniger in einem Zug zu vollenden, falls sich bei über 1.800 Seiten von einem solchen Zug überhaupt sprechen lässt.

Zur Entstehung ist anzumerken, dass es wohl ursprünglich eine Trilogie werden sollte, dreimal vier Monate, dass dann aber das dazwischen gekommen ist, was in den Kurzbiographien des Autors „eine Krise“ heißt und eine Zeit der Depression, der Paranoia und des Alkoholismus war. Und so erschien 1973 ein kurzer dritter Band und erst zehn Jahre später dann der abschließende vierte. Manche Kritiker wollten in dem stilistische Brüche entdeckt haben, als hätten sie zur Kritik des letzten die vorherigen tatsächlich noch einmal gelesen oder könnten sich an sie noch erinnern oder was. Es wird sich zeigen, was davon zu halten ist.

Das Roman hat mindestens vier Erzählebenen: Seine Jetztzeit bilden die 367 Tage vom 20. August 1967 bis zum 20. August 1968. Die hauptsächliche Erzählerin ist Gesine Cresspahl, am 3. März 1933 im fiktiven Jerichow in Mecklenburg geboren als Tochter des Tischlers Heinrich Cresspahl und seiner Frau Lisbeth, einer geborenen Papenbrock. Gesine lebt mit ihrer anfangs neunjährigen Tochter Marie seit sechs Jahren in New York. Sie arbeitet als Auslandskorrespondentin bei einer Bank und steht wohl vor einem Karrieresprung, der im Zusammenhang mit den politischen Reformen der Tschechoslowakei zu stehen scheint. Maries Vater ist jener Jakob, über den der Autor zuvor schon einige Mutmassungen niedergeschrieben hatte; überhaupt ist hervorzuheben, dass die Gesamtheit der sogenannten fiktionalen Texte Uwe Johnsons einen einzigen großen Zusammenhang bildet, den im Gedächtnis zu behalten nicht immer einfach ist. Jedenfalls bilden Gesines Leben und das ihrer Tochter die umfassende Erzählung des Romans.

Die zweite Ebene liefert die Erzählung Gesines von der Geschichte ihrer Eltern, die sie ihrer Tochter Marie erzählt, teils direkt, teils auf Tonband, „für wenn sie tot ist“. Gesines Vater Heinrich, Jahrgang 1888, hatte sich im August 1931, bereits wieder auf dem Weg nach England, wo er als Tischlermeister einen Betrieb leitete, in ein junges Mädchen verguckt: Lisbeth Papenbrock, 18 Jahre jünger als er, der er nach Jerichow folgt und mit der er rasch einig wird, dass sie sich heiraten. Sie gehen dann gemeinsam fort aus Deutschland, in dem der Aufstieg der Nazis schon zu begonnen hat, denen der halbe Sozialdemokrat Cresspahl den Willen nicht nur zur Abschaffung der Republik, sondern auch den zum Krieg schon anmerkt. Doch Lisbeth hat Heimweh, nicht nur nach ihrer Familie, sondern auch nach ihrer Mecklenburgischen Landeskirche, und so nutzt sie die bevorstehende Geburt ihres ersten (und letztlich einzigen) Kindes zur Flucht zurück nach Deutschland. Und Cresspahl folgt ihr, widerwillig, aber er folgt ihr und bleibt dort, wo er nur um ihretwillen lebt. Doch auch damit wird Lisbeth nicht glücklich.

Die dritte Ebene bildet die tägliche Zeitungslektüre Gesines: Jeden Tag erwirbt sie die New York Times, aus der heraus die jeweils aktuelle politische und gesellschaftliche Wirklichkeit in den Roman gelangen: der Rassenkonflikt, politische Umtriebe und Skandale, der Krieg in Viet Nam und die Proteste gegen ihn, die Mafia und die alltägliche Kriminalität schlechthin etc. pp. Diese Ebene bietet zum einen Anlass zur Auseinandersetzung zwischen Gesine und Marie, wobei Marie – die erstaunlich klug und redegewandt für ihr Alter ist – im Vergleich zu ihrer Mutter nicht nur einen amerikanischeren Standpunkt einnimmt, sondern aufgrund ihres Alters natürlich auch eine opportunistischere Grundhaltung zeigt.

Die vierte Ebene besteht aus zumeist kurzen Gedankendialogen Gesines mit Lebenden und Toten, in denen sich Gesine oft selbst in ein kritisches Licht setzt. Hier werden die Kompromisse deutlich, die sie eingeht, oft um ihrer Tochter willen, aber sie kritisiert auch ihre eigene Bequemlichkeit, ihre Furcht, als Ausländerin in den USA negativ aufzufallen, ihre Bindungsängste und vieles mehr.

Sowohl das New York des Jahres 1967 als auch das Mecklenburg der 30er Jahre zeichnen sich durch einen großen Reichtum an handelnden Personen aus, wobei es Johnson oft gelingt, eine Person auf wenigen Seiten markant zu charakterisieren. Wer sich einen kurzen Eindruck von Johnsons Erzählkunst verschaffen will, lese zum Beispiel die Charakterisierung des Jerichower Rechtsanwaltes Dr. Avenarius Kollmorgen auf den Seiten 305 ff. (17. November 1967).

Johnson reduziert das Erzählte zumeist auf das Notwendigste, liefert auch häufig zum Verständnis wesentliche Details erst später in anderen Zusammenhängen nach, so dass vom Leser ein gehöriges Maß an Aufmerksamkeit gefordert wird, um den komplexen Beziehungen der Figuren untereinander zu folgen. Dies wird ein wenig dadurch gemildert, dass ab und zu kurze Zusammenfassungen eingeschoben werden, die die Orientierung erleichtern. Auch sprachlich setzt der Text dem Leser einigen Widerstand entgegen: Neben vereinzelten Dialogen im Mecklenburger Platt, fallen heute besonders jene Stellen auf, an denen Johnson englische Wendungen ins Deutsche übersetzt, die heute als Amerikanismen geläufig sind; interessanterweise merkt man gerade an diesen Stellen dem Text am deutlichsten sein Alter an. Und auch sonst ist Johnsons Deutsch eher kantig als eingängig, was wohl als Abbildung eines Deutsch gelesen werden muss, das nicht nur mecklenburgische Wurzeln hat, sondern auch durch den jahrelangen Gebrauch des Englischen verändert wurde.

Der Roman liefert ein außergewöhnlich reiches und differenziertes Bild sowohl des Lebens im Deutschland der ersten Hälfte der 30er Jahre als auch im New York der 60er Jahre. Johnsons prinzipielles Misstrauen gegen Ideologien und eindimensionale Erklärungen sowie seine klare Haltung gegen Rassismus, Diktaturen und Unfreiheit bilden das Fundament der Erzählung, ohne dass der Autor seine Figuren, pardon, Personen mit dieser Grundhaltung überfrachtet. Johnson erzählt, soweit das überhaupt möglich ist, das Leben selbst. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im vierten Band Theodor Fontane als Schirmherr dieses Romans herbeizitiert wird.

Was die derzeit verkaufte Kindle-Edition des Romans angeht, so sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, dass Suhrkamp das Erstellen der betreffenden Dateien noch ein wenig üben muss: Bei Verwendung der sogenannten Verleger-Schriftart zeigt mein Kindle Paperwhite nur graphischen Müll an; bei Wahl einer anderen Schriftart wird auf dem Paperwhite nur Flattersatz angezeigt, während bei Anzeige über die App auf dem iPad die kursive Textauszeichnung komplett verloren geht. Zudem werden die meisten Gedankenstriche nur als Bindestriche dargestellt. Da Suhrkamp derzeit für eBooks nur 1 Cent weniger verlangt als für das entsprechende Taschenbuch, darf man als Käufer wohl ein wenig mehr Sorgfalt bei Herstellung und der Prüfung der Dateien erwarten.

Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. August 1967 – Dezember 1967. Frankfurt: Suhrkamp, 1970. Leinen, Fadenheftung, 478 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 732 KB. 11,99 €.

Wird fortgesetzt …

Judith Schalansky: Blau steht dir nicht

Das Leben ist was für andere.

978-3-518-46284-3Wahrscheinlich weitgehend autobiographisch unterfütterte Erzählung in alternierenden Kapiteln, die zum einen auf der Insel Usedom spielen, wo die Ich-Erzählerin Jenny die Ferien bei ihren Großeltern verbringt, während ihre Eltern an ihrer Trennung arbeiten, zum anderen in New York, Riga und dem heimatlichen Greifswald. Als roter Faden zieht sich die Faszination der Protagonistin für Seeleute durch alle Kapitel, auf die sich auch der Titel bezieht: »Blau steht dir nicht« ist der Kommentar der Großmutter zu Jennys Wunsch, Matrösin zu werden.

Erzählt wird recht locker; besonders die geradzahligen Kapitel, die nicht oder nicht nur auf Usedom spielen, sind durchsetzt mit Essayistischem: Mit Anekdoten zu Sergei Eisenstein und seinem Monumentalfilm über den Matrosenaufstand in Odessa sowie seinen Vater Michail, dem bedeutendsten Architekten des Rigaer Jugendstils. Oder über den letzten Zarewitsch Aljoscha, dem jüngsten Kind des letzten Zaren Nikolaus II., der nach der gängigen bürgerlichen Mode als ein kleiner Matrose ausstaffiert wurde. Oder einer kurzen biographischen Skizze Wolfgang Koeppens, der ebenso wie Judith Schalansky in Greifswald geboren wurde, oder einer Geschichte von den Luftschiffern des Grafen Zeppelin, auch sie Matrosen eines ganz anderen Meeres usw. usf. Der Text ist zudem durchsetzt mit zahlreichen Fotografien, die zum Teil das Erzählte illustrieren, zum Teil aber auch eine zusätzliche erzählerische Ebene bilden.

Kaum etwas an diesem sehr leichten Buch weist darauf hin, dass die Autorin nur drei Jahre später mit »Der Hals der Giraffe« einen motivisch und sprachlich hoch konzentrierten Roman folgen lassen wird. Eine solche erzählerische Spannbreite unterstreicht einmal mehr das außergewöhnliche Talent Schalanskys, von der wohl noch einige Überraschungen erwartet werden können.

Judith Schalansky: Blau steht dir nicht. Matrosenroman. st 4284. Berlin: Suhrkamp, 2011. Broschur, 141 Seiten. 7,95 €.

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

Unerträglich, aber schön.

978-3-518-42177-2Eine der beeindruckendsten, intensivsten Lektüren der letzten Jahre! Schalanskys Roman ist motivisch höchst kompakt und die meisten ihrer Sätze von meisterhafter Ambiguität. Oft will man nicht einen Satz oder Absatz, sondern gleich die ganze Seite mit einem Ausrufezeichen versehen!

Erzählt wird etwa ein halbes Jahr aus dem Leben von Inge Lohmark (der Name erinnert nicht zufällig an Jean-Baptiste de Lamarck), einer 55-jährigen Lehrerin für Biologie und Sport an einem Gymnasium in einer kleinen, vorpommerschen Kreisstadt. Dem Charles-Darwin-Gymnasium steht die Schließung bevor, da keine ausreichende Anzahl von Schülern mehr vorhanden ist. Die von Inge Lohmark in Biologie unterrichtete 9. Klasse ist die letzte, die an dieser Schule Abitur machen wird. Inge Lohmark ist in der DDR aufgewachsen und ausgebildet worden und betrachtet die Gegend als ihre Heimat, die sie nicht verlassen will. Sie ist in zweiter Ehe verheiratet mit Wolfgang, einem ehemaligen Veterinär-Techniker, der sich erfolgreich mit einer Straußenzucht selbstständig gemacht hat. Sie hat eine Tochter, Claudia, 35 Jahre alt, die in den USA studiert hat und seitdem dort lebt. Claudia heiratet im Verlauf der Erzählung einen ihrer Mutter unbekannten Mann, wovon sie ihr nachträglich per E-Mail Nachricht gibt. Die Ehe der Lohmarks besteht nur noch pro forma; die Eheleute sehen sich kaum, reden noch weniger miteinander, und Inge Lohmark würde sich wohl von ihrem Mann trennen, wenn sie bereit wäre, darüber länger als zehn Sekunden nachzudenken. Inge Lohmark hatte vor unbestimmter Zeit eine Affäre, aus der eine Schwangerschaft resultierte; sie hat das Kind abgetrieben. Aber auch damit kann sie sich weder intellektuell noch emotional angemessen auseinandersetzen.

Inge Lohmarks Leben ist der Unterricht. Sie ist eine strenge und kaltherzige Lehrerin, die ihre Schüler mit wenigen Ausnahmen für Versager, Idioten und Faulpelze hält; und auch die wenigen Ausnahmen gehen ihr auf die Nerven. Lohmarks Denken und Handeln scheint gänzlich bestimmt von ihrer evolutionstheoretischen Ideologie: Das Leben ist ein Kampf, in dem man sich durchzusetzen hat oder zu Recht untergeht. Sie betrachtet Schüler als »natürliche Feinde«, glaubt nicht an Liebe (»ein scheinbar wasserdichtes Alibi für kranke Symbiosen«; »Mutterliebe, das war ein Hormon. Ein Mythos«), stattdessen an Dominanz und die Nützlichkeit von Überforderung. Sie ist eine Rassistin und hält AIDS für eine geniale Strategie der Natur, um mit den Homosexuellen aufzuräumen. Sie hält »die Wahrheit« für zumutbar. Ihre Welt ist aufgeteilt zwischen Gewinnern und Verlierern:

Ihr hatte er [Schulrektor Kattner] verbieten wollen, im Sport die Verlierer an die Tafel zu schreiben. Aber wer sonst sollte nach dem Unterricht die Matten und Geräte wegräumen?

Doch in diesem Panzer aus Ideologie und emotionaler Kälte gibt es Lücken: Lohmark ist an einer ihrer Schülerinnen, Erika, auffällig interessiert. Über Erika macht sie sich Gedanken, findet sie »schön«, überlegt, warum das stille Mädchen wohl so ist, wie es ist, betrachtet es beinahe als Individuum. Dieses Interesse gipfelt in einer der merkwürdigsten Passagen des Buches: Als der Schulbus auf der Stecke, die auch Lohmark morgens mit dem Auto zurücklegt, liegen bleibt, holt sie Erika an ihrer Haltestelle ab und nimmt sie mit zur Schule. Auf dem Weg hat Lohmark plötzlich eine Phantasie von Kindesentführung und sexuell getönter Gewalt, die für einen kurzen Moment wie in einem Schlaglicht ihre sonst unter Kontrolle gehaltene Emotionalität sichtbar werden lässt. Auch Lohmarks Kindheitserinnerungen und ihre Klage über die Abwesenheit ihrer Tochter machen deutlich, dass diese Figur bei weitem nicht so eindimensional unmenschlich ist, wie sie sich selbst gerne sehen möchte. Sie ist im Gegenteil eine tief verletzte Persönlichkeit, die zudem befürchtet, an ihren eigenen ideologischen Standards gemessen eine der Verliererinnen zu sein.

Ein stehendes Gewässer. Kein Zugang zum Meer. Brackwasser stinkt.

Die Handlung gipfelt schließlich darin, dass der Rektor der Schule Lohmark dafür verantwortlich macht, dass sie sich nicht um eine von ihren Mitschülern gemobbte Schülerin gekümmert hat. Der Rektor hat die Schülerin in der Toilette eingesperrt gefunden; Lohmark hatte ihr Fehlen nicht einmal bemerkt. Es ist wahrscheinlich, dass der Rektor diesen Vorfall dazu nutzen wird, Lohmark vorzeitig aus dem Lehrerkollegium zu entfernen.

»Das Klima in deiner Klasse ist total vergiftet. Ich hätte wissen müssen, dass du nicht die Richtige dafür bist. Stand ja alles in dem Bericht. Kreidelastiger Unterricht. Mangelhafte Sozialkompetenz. Verknöcherte Persönlichkeit. Aber ich hab gedacht, altes Eisen ist nun mal hart, hab mich sogar dafür eingesetzt, dass du doch noch bis zum Schluss hierbleiben kannst. Aber jetzt hört der Spaß auf. Das wird Konsequenzen haben.«

Die personal erzählte Geschichte wird auf weiten Strecken vom Gedankenstrom Inge Lohmarks getragen. Es ist kein kleines Kunststück, eine solch unsympathische und jegliche Identifikation des Lesers abweisende Figur dominierend ins Zentrum eines Romans zu stellen, ohne sie zur Karikatur oder Parodie verkommen zu lassen. Inge Lohmark wird bei den meisten Lesern Widerwillen und Verachtung hervorrufen, hoffentlich aber auch ein wenig Mitleid mit ihr, denn sie hat es nicht verdient, so behandelt zu werden, wie sich sich selbst und ihre Mitmenschen behandelt. Niemand hat das verdient. »Der Hals der Giraffe« ist ein sehr präzises und zugleich erzählerisch schlankes Porträt eines ungeliebten, verbitterten Menschen. Mich hat es in jedem einzelnen Satz überzeugt, was ich von wenigen Büchern zu sagen vermag. In ihrer Intensität und Konsequenz kann ich Schalanskys Prosa auf Anhieb nur der von Thomas Bernhard vergleichen. Und das ist eines der größten Komplimente für einen Schriftsteller, das ich machen kann.

Bleibt zu ergänzen, dass das Buch auch in Typographie und Ausstattung aus der gewöhnlichen Ware heraussticht: ein sorgfältiger und ausgewogener Schriftsatz (von der Autorin selbst erstellt), lebende Kolumnentitel, zahlreiche, wundervolle Illustrationen, Fadenheftung und ein bedruckter Leineneinband. Da kann ich nur einmal mehr Lichtenberg zitieren :

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Berlin: Suhrkamp, 2011. Bedrucktes Leinen, Fadenheftung, 222 Seiten. 21,90 €.

Hermann Schreiber: Kanzlersturz

97763068_28ade66b71Für mich die Einstiegslektüre in das Thema. Schreiber zitiert im Verlauf seiner Darstellung die wichtigsten bisherigen Publikationen in Auszügen und nimmt auch eine Bewertung dieser Quellen vor. Schreiber war als Journalist Zeitzeuge eines Teils der Ereignisse und sein Buch zeichnet sich durch eine dezidierte, sachliche und klare Darstellung aus. Schreiber spekuliert an den Leerstellen der vorliegenden Quellen nicht, sondern bietet vernünftige Interpretationen dieser Leerstellen an. Er gibt neben der Darstellung der eigentlichen Krisenzeit eine Kurzbiographie Günter Guillaumes und eine solide Charakterisierung Willy Brandts und seiner persönlichen Lebensumstände. Schreiber präsentiert eine kritische Sicht aller Beteiligten und entwickelt den Rücktritt Brandts als eine Folge von Fehleinschätzungen diverser Entscheidungsträger, die letztlich in einer vermeidbaren Zuspitzung der Sachlage und einer nicht angemessenen Entscheidung Brandts kulminiert. In Schreibers Darstellung erscheint dieser Rücktritt, der für die Geschichte der SPD und der Bundesrepublik sicherlich ein bedeutender Wendepunkt war, alles andere als notwendig. Das Buch scheint mir für einen ersten Überblick ausgezeichnet geeignet zu sein.

Schreiber, Hermann: Kanzlersturz. Warum Willy Brandt zurücktrat
Ullstein Taschenbuch, 2005. ISBN 3-548-36726-7
Paperback – 272 Seiten – 8,95 Eur[D]