Lion Feuchtwanger: Der Tag wird kommen

feuchtwanger_josephus_III Der dritte Band der Josephus-Trilogie. Das Buch ist zuerst 1942 in einer englischen Übersetzung erschienen, dann 1945 das deutsche Original. Der Roman verschärft die Tendenzen, die sich schon im zweiten Teil Die Söhne beobachten ließen: Der Autor kann mit seinem ursprünglichen Protagonisten Josephus Flavius nun noch weniger anfangen als bislang schon. So gerät das Buch zu einem historischen Roman über den Kaiser Domitian, in dem Josephus nurmehr eine Nebenfigur abgibt. Josephus ist zwar weiterhin mit dem Kaiserhaus schicksalhaft verbandelt, aber weder der Umfang der Anteile am Text, die ihm gewidmet sind, noch die darin geschilderten Ereignisse heben ihn wesentlich über andere Nebenfiguren in diesem Roman heraus. So erfahren wir etwa ausführlich vom Schicksal der Vestalin Cornelia, die im berauschten Zustand vom Privatsekretär des Kaisers beschlafen und deshalb einem jämmerlichen Tod zugeführt wird. Oder von Clemens und Domitilla, deren Söhne Domitian zu seinen Nachfolgern bestimmt hat, und die deshalb als störende Elemente in der Erziehung der Knaben beseitigt werden müssen. Oder von der Kaiserin Lucia, ihrem Einfluss, ihrer Macht und ihren Sym- und Antipathien dem Kaiser gegenüber. Usw. usf.

Feuchtwanger war diese Schwäche des Romans natürlich bewusst. Er hat versucht sie dadurch zu verschleiern, dass er die Josefs-Figur an Anfang und Ende des Romans prominent präsentiert – so wird seinem Tod das Schlusskapitel gewidmet, das deshalb auch wie angeklebt wirkt – und außerdem den Roman in zwei Teile gliedert, deren ersten er »Domitian« und deren zweiten er »Josephus« überschreibt. Erzählt wird über Joseph in etwa das folgende: Er sitzt daheim mit seiner neuen Familie, die er mit Mara gegründet hat und schreibt an seiner »Geschichte des jüdischen Volkes«. Er tritt nur selten in der Öffentlichkeit auf und lebt ein bescheidenes und zurückgezogenes Leben für einen Mann seines Ruhms. Aufgrund seiner prominenten Position unter dem Kaiser Vespasian ist er am Hofe aber nicht vergessen. Er nimmt am Besuch einer Delegation jüdischer Gelehrter aus Jabne beim Kaiser teil, bei der unter anderem erörtert wird, dass der Messias dem Geschlecht  Davids entstammen soll, was auch für Josephus zutrifft. Der Kaiser will nun alle Nachfahren Davids töten lassen, um sicher zu gehen, dass es keinen Messias wird geben können, fürchtet sich aber vor dem unsichtbaren Gott der Juden so sehr, dass er doch lieber darauf verzichtet. Stattdessen sucht er lieber eine Gelegenheit, Josephus zu verletzen, die er auch findet, als dessen Sohn Matthias ins Gefolge der Kaiserin Lucia eintritt und in die Affäre um die oben schon erwähnte Domitilla verwickelt wird. Dies liefert Domitian den Vorwand, Matthias ermorden zu lassen. Josephus überführt die Leiche des Matthias zur Beisetzung nach Judäa und verbringt den Rest seines Lebens dort. Mit über 70 lässt er sich noch einmal von nationalistischen Gefühlen hinreißen und wird von einer Gruppe römischer Soldaten beiläufig zu Tode geschleift.

Auch in diesem Buch zeigt sich wieder Feuchtwangers Desinteresse an Entwicklung oder Veränderung seiner Figuren. Domitian gleicht als Kaiser in seinen Befürchtungen und Motivationen weitgehend seinem Bruder und Vorgänger im Amt Titus, er reagiert nur bösartiger auf sie. Josephus ändert sich in den mehr als 50 Jahren, die die Trilogie umfasst, nicht – wie Feuchtwanger im Roman explizit schreibt –, sondern bleibt im Grunde derselbe eitle, von sich und seiner Sendung überzeugte Dummkopf, der er von Anfang an ist. Das eigentliche Problem mit dieser Hauptfigur ist aber, dass sie die knapp 1.500 Seiten der Trilogie einfach nicht trägt. So wiederholt sich vieles und die soziale Dynamik der Figuren hat sich lange erschöpft, bevor der Leser den dritten Band erreicht. Was bleibt, ist ein Erzählen historischer Ereignisse, von denen sich einige ereignet haben mögen, die meisten aber sicherlich nicht. Insoweit bleibt die Trilogie am Ende eine Enttäuschung, gut zum Zeitvertreib, mehr aber nicht. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, für den genügt es, den ersten Band Der jüdische Krieg zu lesen und den ersten Teil dieses dritten Bandes.

Lion Feuchtwanger: Der Tag wird kommen. Aufbau Taschenbuch 5604. Berlin: Aufbau, 32006. 439 Seiten. 10,00 €.

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P.S.: Was den Aufbau Verlag wohl dazu getrieben haben mag, ausgerechnet Catilina als Abbildung aufs Cover zu setzen?

Lion Feuchtwanger: Die Söhne

feuchtwanger_josephus_II Zweiter Teil der Josephus-Trilogie. Wie bei der Besprechung von Der jüdische Krieg bereits festgestellt, war das Werk ursprünglich nur auf zwei Bände angelegt. Ein Nachwort Feuchtwangers zu Die Söhne teilt dem Leser mit, dass der zweite Band bei Erscheinen des ersten bereits vollständig konzipiert und zu einem großen Teil auch geschrieben war. Diese Fassung und die zugehörigen  Materialien wurde bei der Plünderung von Feuchtwangers Haus im März 1933 – Feuchtwanger befand sich seit November 1932 im Ausland – durch die Nationalsozialisten vernichtet. Feuchtwanger schreibt weiter:

Den verlorenen Teil in der ursprünglichen Form wiederherzustellen erwies sich als unmöglich. Ich hatte zu dem Thema des »Josephus«: Nationalismus und Weltbürgertum, manches zugelernt, der Stoff sprengte den früheren Rahmen, und ich war gezwungen, ihn in drei Bände aufzuteilen.

Ob das dem Roman gut getan hat, ist natürlich eine kaum zu entscheidende Frage. Allerdings ist das Buch recht handlungsarm und langatmig geraten. Es beginnt mit dem Tod Kaiser Vespasians (79) und erstreckt sich bis über den Tod Titus’ (81) hinaus in die erste Regierungszeit von dessen Bruder Domitian. Wie der Titel schon vorgibt, steht im Zentrum eines Großteils der Handlung der Kampf des Josephus Flavius um seine beiden Söhne: Simon, sein »jüdisches Kind«, das er zusammen mit seiner ersten Frau Mara gezeugt hat, und Paulus, dessen Mutter die Ägypterin Dorion ist, die den Knaben im Sinne der griechischen Kultur erziehen lässt und dem Joseph aus einem Rachebedürfnis heraus entfremdet. Joseph kämpft um seinen Sohn Paulus, in dem er sein Ideal des jüdisch-griechischen Weltbürgers zu verwirklichen sucht, indem er ein Adoptionsverfahren anstrengt. Als er die Gunst des Kaisers Titus für sich erlangen kann, gewinnt er den Prozess, gibt den nun rechtlich unter seiner Obhut stehenden Jungen aber seiner Mutter zurück, als er begreift, wie unglücklich er ihn durch die Trennung von Mutter und Lehrer gemacht hat. Unterdessen ist der etwas von Joseph vernachlässigte Simon bei einem jugendlichen Kampfspiel verunglückt und ums Leben gekommen.

Dann kehrt Joseph nach Judäa zurück. Hier trifft er seine erste Frau Mara wieder, und es gibt eine ganze Menge Gerede um die jüdische Sekte der Christen und den Fortbestand des Judentums überhaupt. Josephus wird für eine Weile in die lokalen religiös-politischen Streitigkeiten verwickelt, entschließt sich dann aber überraschend, Mara wieder zu heiraten und nach Rom zurückzukehren, um endlich mit seiner großen Geschichte des jüdischen Volkes zu beginnen. Das Buch endet mit einer durch Domitian inszenierten öffentlichen Demütigung Josephs, die ihn für immer von seinem Sohn Paulus zu trennen scheint.

Der offensichtlichste Mangel des Buches ist wohl, dass Feuchtwanger ein ausreichend gewichtiger Handlungsfaden fehlt: Während in Der jüdische Krieg der Krieg, seine Vorgeschichte und seine Folgen das Unterfutter für eine Art von Entwicklungsroman Josephs lieferte, fehlt eine solche grundierende Fabel diesmal. Das Buch erschöpft sich daher über weite Strecken darin, zwischen einzelnen Figuren und Schauplätzen hin und her zu springen, ohne dass der Leser einen Eindruck davon bekäme, wo das ganze hinaus will. Der Charakter des Josephus bleibt weitgehend statisch; der Entwicklungsroman wird nicht fortgesetzt, man hat den Eindruck, dass der Autor selbst nicht so recht weiß, was er mit seinem Protagonisten anfangen soll. Dafür treten ideologische Aspekte stark in den Vordergrund: Es wird an einer breiten Zahl von Fällen erörtert, wie Isolationismus der Juden und Vorurteile der Nichtjuden einander bedingen und verstärken, so dass auch der Gutwilligste unfähig bleibt, die Schranken zu überwinden. Allerdings ist derlei höchstens ausreichend für eine Kurzgeschichte und trägt keinen Roman.

Insgesamt ein Buch, das sich nicht recht entscheiden kann, was es nun eigentlich erzählen will, deshalb viele Versuche und nur wenig wirklich Gerundetes enthält.

Lion Feuchtwanger: Die Söhne. Aufbau Taschenbuch 5603. Berlin: Aufbau, 32006. 527 Seiten. 10,00 €.

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, …

genazino_frau … ein Roman. Erzählung einer Jugend: Der 17-jährige Ich-Erzähler, der wegen schlechter Leistungen aus dem Gymnasium geflogen ist, beginnt eine Doppelkarriere als kaufmännischer Lehrling und freier Mitarbeiter einer lokalen Tageszeitung. In beiden Branchen bewährt er sich gut und steigt rasch auf; er hat ein sexuelles Abenteuer, trennt sich von seiner langjährigen Freundin Gudrun, der er ausgiebige literarhistorische Vorträge zu halten pflegt, verliebt sich ein wenig in die Journalistin Linda, die aber leider Selbstmord begeht, bevor es zu irgendwelchen Geständnissen kommen kann, erkennt, dass er anders ist als andere Menschen, zieht daheim aus und in ein Appartement ein, entschließt sich, vorerst nicht hauptberuflich Journalist zu werden, und wird derweil ein wenig erwachsen.

Ein erzählerisch recht schlichtes Büchlein, das aufgrund seiner zwar einfachen, aber treffsicheren Sprache durchaus angenehm zu lesen ist. Viele der verarbeiten Motive bleiben zufällig, ebenso wie die ganze Geschichte einen eher beliebigen Eindruck macht. Alles in allem ist mir der Protagonist fremd geblieben, sowohl in seiner intellektuellen als auch in seiner emotionalen Verfasstheit. Aber derlei ist am Ende natürlich eine Frage des Geschmacks.

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. dtv 13311. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2005. 160 Seiten. 8,90 €.

Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg

feuchtwanger_josephus_I Der erste Roman einer Trilogie, in deren Zentrum der jüdisch-stämmige Historiker Josephus Flavius steht. Der erste Band umfasst in etwa fünf Jahre vom ersten Besuch Josefs in Rom noch unter der Herrschaft Neros bis zu seiner Rückkehr dorthin unter dem Kaiser Vespasian. In der Zwischenzeit hat er eine erstaunliche Karriere hinter sich gebracht: Vom jüdischen Rebellenführer im Kampf gegen die römische Besatzungsmacht Judäas über die Gefangenschaft bis zum offiziellen Kriegsberichterstatter des jüdischen Krieges und persönlichen Berater des Kaisersohns Titus. Am Ende des Romans ist aus dem jungen jüdischen Juristen ein kompletter Außenseiter geworden: Die jüdischen Gemeinden Jerusalems und Roms feinden ihn an und das römische Bürgerrecht, das er sich für einen hohen Preis vom Kaiser hatte erwerben müssen, um seine Geliebte heiraten zu können, erscheint als eine Äußerlichkeit, der keine soziale Gemeinschaft entspricht.

Der Roman konzentriert sich auf einige wenige »große Figuren« der Zeit, wobei deren Motivationen nicht immer ganz zu überzeugen wissen. Auch die konkreten politischen Vorgänge – so etwa die Ausrufung Vespasians zum Kaiser – bleiben eher schemenhaft. Auch der Alltag der »kleinen Leute« in Rom und dem Nahe Osten bleibt bis auf einzelne Schilderung der Unterschiede zwischen jüdischen und römischen Haushalten eher blass. Sehr überzeugend sind dagegen die Belagerung und Zerstörung Jerusalems, deren Beschreibung sicherlich den Höhepunkt des Buches bilden.

Die Entwicklung des Protagonisten hebt sich recht positiv von der Darstellung der anderen Figuren ab: Josef Ben Matthias beginnt seine Karriere als ein hoch begabter, aber auch etwas selbstverliebter junger Mann, der erst langsam lernt, dass seine Handlungen neben den erwünschten auch unerwünschte und von ihm unvorhergesehene Konsequenzen zeitigen, dass sein Konzept des »Vernünftigen« durchaus nicht von allen seinen Zeitgenossen geteilt wird und dass er schließlich weit öfter Getriebener als Treiber ist.

Das Ende des Buches macht deutlich, dass es nicht für sich steht, sondern eine Fortsetzung konkret geplant geplant war; allerdings hatte Feuchtwanger wohl vorerst an einen, nicht zwei weitere Bände gedacht. Es hat sich dann so ergeben, dass die drei Bände der Josephus- zwischen 1931 und 1941 alternierend mit denen der Wartesaal-Trilogie entstanden sind. Die beiden Folgebände werden ebenfalls hier vorgestellt werden.

Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg. Aufbau Taschenbuch 5602. Berlin: Aufbau, 32006. 463 Seiten. 10,00 €.

Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo

feuchtwanger_toledo Endlich also Feuchtwanger! Feuchtwanger ist eine der ganz großen Lücken meiner Lesegeschichte. Nun hat der Aufbau Verlag anlässlich der 50. Wiederkehr des Todestages drei Kassetten mit Romanen Feuchtwangers auf den Markt gebracht: zum einen fünf historische Romane – darunter eben auch Die Jüdin von Toledo –, zum zweiten die »Wartesaal«-Trilogie und zum dritten die Josephus-Trilogie. Ich habe das zum Anlass genommen, endlich mit der Feuchtwanger-Lektüre zu beginnen.

Die Jüdin von Toledo behandelt die legendenhafte Affäre Alfons VIII. von Kastilien mit einer schönen Jüdin, die seit dem 16. Jahrhundert zahllose Bearbeitungen in Romanzen, Dramen und Erzählungen erfahren hat, selbst aber natürlich alles andere als originell ist, sondern letztendlich auf den Aufenthalt des Odysseus auf der Insel der Kalypso zurückgeht. Was den Roman Feuchtwangers auszeichnet, ist, dass er diese Legende in ein historisch genaues Zeitbild Spaniens im 12. Jahrhundert einpasst, die Geschichte der »Fermosa« mit den historischen Ereignissen verknüpft und ihr auf diese Weise mehr als die übliche tragische Liebesgeschichte abgewinnt.

Feuchtwangers Erzählung beginnt mit der Rückkehr Jehuda Ibn Esras nach Toledo. Er ist eine Art Wirtschaftsminister für Alfons VIII., der gerade in einen achtjährigen Frieden mit den Moslems der iberischen Halbinsel hat einwilligen müssen. Jehuda kehrt mit einer fast erwachsenen Tochter und einem jüngerern Sohn in das toledanische Haus seiner Familie zurück, das zuvor von den Baronen Castro bewohnt war, mit denen Alfons VIII. verfeindet ist. Alfons ist mit seinem neuen Minister nicht sehr zufrieden, da dessen Vorsicht, Umsicht und Bedachtsamkeit seinem ritterlichen Wesen zuwider sind. Alfons erscheint als eine Art gezähmter Raufbold, der sich nur ungern sagen lässt, was gut für sein Land ist.

Als Alfons die Tochter Jehudas, Raquel, kennenlernt, verliebt er sich widerstrebend in sie. Er lässt für sie ein altes Lustschloss in der Umgebung Toledos wieder herrichten und verfügt, dass sie dort zu wohnen habe. Vater und Tochter willigen in dieses Arrangement ein, und Alfons verfällt dort seiner Liebe zu Raquel so sehr, dass er darüber sein Land und seine Frau vergisst. Seine Frau Leonora aber, immerhin Tochter des englischen Königs Heinrich II., verzehrt sich vor Eifersucht und dynastischen Befürchtungen, denn Raquel gebiert Alfons den lang ersehnten Sohn und möglichen Thronfolger. Leonora stiftet also einen Krieg an, der ihren Mann aufs Schlachtfeld zwingen soll, wo er seine kleine Jüdin hoffentlich rasch vergessen soll. Um sicher zu gehen, stiftet sie – während Alfons sich im Krieg befindet – auch noch einen der Barone Castro zur Ermordung Jehudas und seiner Tochter an. Das Kind bleibt verschont, da es Jehuda schon zuvor hat in Sicherheit bringen lassen, um es der christlichen Taufe zu entziehen. Den aus dem Krieg nach Toledo geschlagen zurückkehrende König trifft die Nachricht von der Ermordung Raquels schwer. Er geht als veränderter, tief getroffener Mann aus dieser Kriese hervor.

Feuchtwanger leuchtet den Stoff gründlich aus: Ihn interessieren über die tragische Liebesgeschichte hinaus das Verhältnis von Privatem und Historischem, die wirtschaftlichen Grundlagen von Krieg und Frieden, das Verhältnis der drei abrahamitischen Religionen zueinander sowohl im historischen als auch im aktuellen Sinn. Er setzt der kriegerischen bzw. feindlichen Opposition der Angehörigen der Glaubensgruppen die tolerante Auseinandersetzung freier Geister im Hause Jehudas gegenüber, in dem ein moslemischer Skeptiker, ein christlicher Zweifler und ein junger jüdischer Wahrheitssucher gleichberechtigt miteinander umgehen, ohne dass dazu einer von seiner Religion oder seiner Herkunft Abstand nehmen müsste.

Als etwas mühsam mögen einige jüngere Leser wahrscheinlich die leicht manieristische Sprache des Romans empfinden, die auch hier und da Kobolz schießt. Was mir am meisten gefehlt hat, ist psychologische Dynamik der Figuren: Außer Alfons und Raquel wandelt sich eigentlich keine der Figuren, und selbst bei diesen beiden erscheint die Verwandlung mehr behauptet als durchgeführt. Und Sätze wie die folgenden sind schon das Höchste, wozu sich Feuchtwanger aufschwingt:

Don Alfonso hörte zu, ablehnend, doch mit Teilnahme. Seine Welt war nun einmal die der Ritter. Die Wahrheit eines Königs war eine andere als die eines alten Juden und Bänkers. Seine, Alfonsos, Philosophie waren die Lieder Bertrans. Dabei hat dieser Ephraim vermutlich recht, und wenn er, Alfonso, in zwölf Jahren seinen Krieg erfolgreich führen will, muß er jetzt die Untern verhätscheln.

Die Wahrheit eines Königs ist nicht die eines Bänkers und dennoch hat der Bänker wahrscheinlich recht? Was für eine Sorte von Wahrheit soll denn das bitte sein? Und »Seine Welt war nun einmal die der Ritter« befindet sich psychologisch etwa auf dem Niveau von »La donna è mobile«.

Insgesamt ein gut lesbarer, stoffreicher Roman über die hochmittelalterliche Phase der Reconquista.

Lion Feuchtwanger: Die Jüdin von Toledo. Mit dem Nachwort des Autors von 1955. Aufbau Taschenbuch 5638. Berlin: Aufbau, 112008. 511 Seiten. 9,95 €.

Auschwitz auf der Bühne

weiss_ermittlung_dvd Am 20. Dezember 1963 wurde das Hauptverfahren im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess eröffnet. Es wurden insgesamt 183 Verhandlungstage bis zum 20. August 1965. Bereits am 05. Mai 1965 informiert der Suhrkamp Verlag in einem Rundschreiben darüber, dass er Die Ermittlung von Peter Weiss zu einer »allgemeinen Uraufführung am 19. Oktober« freigebe. Dies führte zu einer sogenannten Ringuraufführung an insgesamt 15 Theatern in der BRD (4 Bühnen) und der DDR (11 Bühnen). Eine dieser Aufführungen war eine szenische Lesung der ostdeutschen Akademie der Künste im Saal der DDR-Volkskammer in Berlin. Diese Lesung, die unter Beteiligung beträchtlicher Prominenz stattfand, hat sowohl in der DDR als auch in der BRD – verständlicherweise unter verschiedenen Vorzeichen – eine große Resonanz erzeugt. Das Fernsehen der DDR hat die Lesung komplett aufgezeichnet und sowohl in Ausschnitten als auch komplett ausgestrahlt.

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat nun in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Rundfunkarchiv in Potsdam und der Akademie der Künste Berlin eine verdienstvolle Doppel-DVD herausgebracht: Eine DVD-ROM enthält eine ausführliche Dokumentation (Texte, Hör- und Video-Dokumente) zur Entstehung des Stückes, der szenischen Lesung in der Volkskammer im besonderen, des gesellschaftlichen, politischen und kulturkritischen Umfelds der Aufführungen sowie der Debatten vor und nach den Aufführungen sowohl im Osten als auch im Westen. Eine Video-DVD präsentiert die komplette Lesung in der Volkskammer. Die Dokumentation ist erstaunlich reichhaltig und zeigt, dass nur wenige Stimmen sich dem allgemeinen Tenor der Diskussion entzogen haben. Im Westen war die Diskussion durch die Kritik bestimmt, dass das Stück das Thema Auschwitz unzureichend behandle, wenn auch hier und da der Hinweis fällt, dass das Stück das Phänomen Auschwitz gar nicht behandle, sondern den Frankfurter Prozess. Im Osten dagegen ermüdet bald der Hinweis darauf, dass eigentlich die westdeutsche Großindustrie auf die Anklagebank gehöre, so richtig auch der Prozess gegen die Angeklagten gewesen sein, wenn auch die Strafen zu milde ausgefallen seien. Hier und da finden sich allerdings durchaus auch originelle und weiterführende Gedanken.

Kulturhistorisch stellt die Auseinandersetzung mit dem Stück von Peter Weiss einen wichtigen Schritt in der BRD-Debatte der 60er-Jahre über die Bewältigung der NS-Vergangenheit dar. Besonders die nur wenige Jahre später sich ausbildende Studenten- und Jugendbewegung hat aus dem Mangel der Elterngeneration, sich diesem Thema zu stellen, einen erheblichen Anteil ihrer Dynamik bezogen. Es ist daher sehr spannend zu verfolgen, wie sich nur wenigen Jahre zuvor das etablierte und das kritische Kulturmanagement mit dieser Frage auseinandergesetzt hat.

Da die beiden DVDs zum Spottpreis von 6,– € inklusive Versand von der Bundeszentrale für politische Bildung angeboten werden, ist jeder und jedem ans Herz zu legen, sich diese Doppel-DVD zu besorgen!

Auschwitz auf der Bühne. Peter Weiss | »Die Ermittlung« in Ost und West. Hg. v. der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in Kooperation mit dem Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam und der Akademie der Künste Berlin. 2 DVDs. 6,– €.

Die DVD-ROM bedarf keiner Installation. Sie läuft ab Windows 2000 bzw. MAC OS X ab 10.3.8, Prozessor ab Pentium 2 bzw. Apple Power PC G4, Arbeitsspeicher ab 256 MB. Texte können als pdf exportiert werden, aus denen dann per cut & paste Textzitate kopiert werden können.

Bitte beachten Sie, dass die Lizenzausgaben der Bundeszentrale für politische Bildung immer nur für kurze Zeit lieferbar sind.

Herr Eichhorn und der Mond

meschenmoser_mondWie versprochen, hier der Hinweis auf die erste Geschichte vom Herrn Eichhorn und seinen Freuden. Herr Eichhorn hat das Problem, dass er eines Tages vor seiner Wohnung den Mond findet, der direkt vom Himmel gefallen zu sein scheint. Herr Eichhorn macht sich große Sorgen, dass er beschuldigt werden könnte, den Mond gestohlen zu haben und versucht deshalb, ihn möglichst rasch los zu werden. Man kann sich denken, dass das nicht so einfach ist, besonders weil auch der Igel und der Bock und schließlich auch noch eine Gruppe von Mäusen in die Affäre verwickelt werden – wonach sich der Mond, offen gesprochen, in keinem guten Zustand mehr befindet. Mehr soll hier nicht verraten werden; aber das Buch wird ebenso wie Herr Eichhorn und der erste Schnee dringend zur Lektüre empfohlen.

Sebastian Meschenmoser: Herr Eichhorn und der Mond. Esslingen: Esslinger Verlag, 22007. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 44 Seiten. 9,95 €.

Christian Kracht: Ich werde hier sein …

kracht_sonnenschein … im Sonnenschein und im Schatten.

Mein erstes Buch von Christian Kracht, und vorerst wohl auch mein letztes. Es handelt sich um eine merkwürdige Mischung aus alternativer Historie, Joseph Conrads The Heart of Darkness und Ambrose Bierces An Occurence at Owl Creek Bridge, wobei allerdings dessen Schlusspointe fehlt oder so versteckt ist, dass sie mir nicht aufgefallen ist.

Erzählt wird eine alternative Version der Geschichte des 20. Jahrhunderts durch einen Schwarzafrikaner aus der Schweizer Kolonie Nyasaland, das wir heute als Malawi kennen. Offenbar hat der Erste Weltkrieg kein Ende gefunden, sondern dauert seit inzwischen 96 Jahren an. Die Schweiz ist durch den in Zürich gebliebenen Lenin in eine Sowjetrepublik verwandelt worden und hat zudem ihre Neutralität verloren und ist aktiver Kriegsteilnehmer. Der Erzähler hat als politischer Komissar der Schweizer Sowjet Republik (SSR) den Auftrag, einen polnischen Offizier im Dienst der Schweizer Armee, Oberst Brazhinsky, zu verhaften. Brazhinsky entzieht sich jedoch der Verhaftung und flieht ins Réduit, wo er vom Erzähler nach einer abenteuerlichen Verfolgung schließlich gestellt wird. Allerdings erweist sich Brazhinsky als eine so faszinierende und schillernde Persönlichkeit (Wunderheiler, Sprachzauberer, Wahnsinniger), dass der Erzähler auf die Verhaftung verzichtet. Er flieht – nachdem sich Brazhinsky selbst geblendet hat – vor einem massiven Bombardement der Alpenfestung nach Süden, gelangt über das Tessin nach Genua und von dort aus zurück nach Afrika, wo inzwischen eine andere Form der Revolution ausgebrochen ist: Die Schwarzafrikaner verlassen die von den Schweizern errichteten Städte und kehren in ihre Dörfer zurück, während Europa wahrscheinlich im Chaos des Krieges untergeht.

Niedlich an der ganzen Geschichte ist allein das Gedankenspiel, was vielleicht geschehen wäre, wenn Lenin sich 1917 nicht nach Petersburg hätte verfrachten lassen, sondern stattdessen die Schweiz kommunistisch revolutioniert hätte. Alles andere ist entweder ziemlicher Humbug oder so offensichtlich anderswo entliehen, dass man, wie der Dichter sagt, die Absicht fühlt und verstimmt ist.

Grundsätzlich reagiere ich allergisch auf Bücher, in denen Mumpitz wie der folgende zu finden ist:

„Wir, die wir früher im Frieden viel gelesen haben, Bücher geschrieben, Bücher gedruckt, Bibliotheken besucht haben, bilden uns evolutionär von der Schrift weg, sie wird immer unwichtiger. Es entsteht eine Privatsprache, wenn Sie so wollen.“
„Unsere Mundarten sind schon immer ausschliesslich orale Sprache gewesen, es gab die Niederschrift nur in Hochdeutsch. Die Mundarten sind unser Koiné, der Grund, warum wir nicht Deutsch sprechen.“
„Exakt. Und so entfernen wir uns dank des Krieges nicht nur vom Hochdeutsch, sondern auch vom Schriftdeutsch. Sprache ist eine Ansammlung symbolischer Geräusche, sie entstammt einem Kosmos unerkennbarer und vor allem nie wissbarer Formen.“
„So.“
„Unser Verlernen des Schreibens ist, wenn Sie so wollen, ein Prozess des absichtlichen Vergessens. Niemand ist mehr im Frieden geboren. Die Generation, die nach uns kommt, ist der erste Baustein zum neuen Menschen. Es lebe der Krieg.“
[…]
„Nun, wir beginnen, das Gedachte zu sprechen und in den Raum zu stellen. Dann können wir das Gesprochene betrachten, um es herumgehen, es schliesslich bewegen. Da es vorhanden ist, können wir es bewegen. Und schlussendlich können wir es senden und empfangen. Sprache existiert nicht nur im Raum, sie ist zutiefst dinglich, sie ist ein Noumenon. Viele Urvölker haben diese Fähigkeiten entwickelt; die lange ausgerotteten Ureinwohner des Grossaustralischen Reichs beispielsweise besprachen und besangen die Welt, die sie mit ihren Schritten durchmassen.“ [S. 43 f.]

Dies ist eine Erklärung für die »Rauchsprache« des Buches, über die Bashinsky verfügt und die es ihm erlaubt, anderen unmittelbar durch das Sprechen seinen Willen aufzuzwingen. In dieser Passage werden nahezu alle Fachbegriffe falsch verwendet: evolutionär, Privatsprache, Noumenon – einzig Koiné kann man mit einigem guten Willen durchgehen lassen.

Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.

Lässt es sich aber nicht. Nun zweifle ich nicht daran, dass das alles postmoderne Absicht ist und so gehört und nur ich ein alter Esel bin. Dennoch reiht sich für mich das Buch nahtlos in die Reihe von Unfug ein, der mir in den letzten Jahren so über den Weg gelaufen ist.

Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008. Leinen, Lesebändchen, 149 Seiten. 16,95 €.

Herr Eichhorn und der erste Schnee

meschenmoser_schnee Ein Bilderbuch von Sebastian Meschenmoser, von dem es noch ein weiteres Bilderbuch über den Herrn Eichhorn gibt, das ich bei nächster Gelegenheit hier vorstellen werde.

Herr Eichhorn und der erste Schnee erzählt die Geschichte der Herren Eichhorn, Igel und Bär, die alle drei noch nie Schnee gesehen haben, weil sie zu dem Zeitpunkt immer schon im Winterschlaf liegen. Da nun aber der Bock dem Herrn Eichhorn erzählt hat, wie wundervoll der Schnee ist, nimmt der sich vor, in diesem Jahr wenigstens die erste Schneeflocke abzuwarten. Allerdings wird Herr Eichhorn schon bald vom Warten ganz furchtbar müde und muss sich zuerst in Gesellschaft des Igels und dann des Bären mit den rabiatesten Methoden wach halten. Wie die drei dann im Wald die erste Schneeflocke suchen (weiß, kalt, feucht), ganz unterschiedliche Schneeflocken finden und schließlich doch noch den ersten Schnee erleben, ist mit einem solch einfachen und klaren Humor erzählt und illustriert, dass das Buch eine helle Freude ist. Ich habe lange nicht mehr so herzlich bei einer so einfache Geschichte gelacht! Ein rundum wundervolles Buch, auch zum Verschenken.

Sebastian Meschenmoser: Herr Eichhorn und der erste Schnee. Esslingen: Esslinger Verlag, 22008. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 60 Seiten. 9,95 €.

Wer mag, kann sich bei libreka.de auch einen optischen Eindruck vom Buch verschaffen.

Katja Lange-Müller: Böse Schafe

lange-mueller_schafe Ein weiteres Buch von Katja Lange-Müller mit einem Tiertitel. Diesmal bin ich nicht bis zu der Stelle gekommen, an der der Titel aufgelöst wird. Nachdem ich bislang nur kürzere Erzählungen der Autorin gelesen habe, die immer wenigstens das Epitheton »nett« verdient hatten, habe ich mich für diesen sogenannten Roman nicht erwärmen können: Die Ich-Erzählerin war mir aus den früheren Büchern nur zu bekannt und ihr Geliebter ist nicht nur maulfaul, sondern sobald er ihn aufmacht, bemerkt der Leser, dass es eine kluge Entscheidung der Autorin war, ihn zuvor den Mund halten zu lassen. Nachdem mich nach 55 Seiten – immerhin ein gutes Viertel des Buches – keine einzige Figur auch nur eine Spur interessierte und ich feststellte, dass es mir gänzlich gleichgültig geblieben war, wie die beiden Liebenden zu ihrem vorausgesagten Ende kommen, habe ich die Lektüre abgebrochen.

Katja Lange-Müller: Böse Schafe. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2007. Pappband, Lesebändchen, 205 Seiten. 16,90 €.