Joseph Roth: Die Kapuzinergruft

Diesmal habe ich – wieder einmal aus didaktischem Anlass – zusammen mit Der Radetzkymarsch auch diesen späten Nachtext Josephs Roths gelesen. Er ist der Versuch, an den Erfolg des großen Romans anzuknüpfen und zugleich Themen abzuarbeiten, die dort nicht oder nur am Rande behandelt wurden. Die Kapuzinergruft ist deutlich kürzer geraten (etwa ein Drittel des Vorgängers), ja reicht an die damalige Länge für einen Roman (die berühmt-berüchtigten 50.000 Wörter E. M. Forsters) nicht heran. Er ist zudem weit anekdotischer gearbeitet als Der Radetzkymarsch und hat einen Ich-Erzähler. Dagegen sichern zahlreiche motivische Korrespondenzen die Zusammengehörigkeit der Texte, nicht nur das verwandtschaftliche Verhältnis des Ich-Erzählers und Carl Josephs von Trotta.

Beim Ich-Erzähler handelt es sich um Franz Ferdinand Trotta, einen entfernten, bürgerlichen Vetter des Protagonisten von Der Radetzkymarsch. Er studiert nur zum Schein in Wien Jura, als ihn sein Vetter Joseph Branco in Wien besucht, der wiederum die Bekanntschaft zum Kutscher Manes Reisiger vermittelt. Mit diesen beiden neuen Freunden zusammen verlebt er dann noch vor dem Ersten Weltkrieg in Galizien einige glückliche Tage. Bei Kriegsausbruch heiratet er noch rasch seine heimliche Liebe Elisabeth, rückt dann ein, lässt sich als Leutnant zum Regiment seiner Freunde versetzen und gerät in der Schlacht, in der der Leutnant von Trotta fällt, zusammen mit ihnen in russische Gefangenschaft. Die Freunde werden nach Sibirien deportiert und der Erzähler kehrt nach diversen Flucht-Abenteuern nach Wien zurück.

Dort findet er seine Frau entfremdet und in einer lesbischen Liebesbeziehung vor. Sein Schwiegervater erweist sich als windiger Geschäftsmann, der ihn in seiner Firma zum Vertrieb von Kunstgewerbe anstellt, ohne dass es eine wirkliche Arbeit für den Schwiegersohn gäbe. Nachdem der Schwiegervater sein eigenes Geld durchgebracht hat, überredet er die Mutter Trottas, ihr Haus, das ihren einzigen Besitz bildet, mit mehreren Hypotheken zu belasten. Schließlich endet der Erzähler als Betreiber einer Pension im Haus seiner verstorbenen Mutter und versinkt in Apathie und Depression. Der Roman endet mit dem sogenannten Anschluss Österreichs an das deutsche Reich.

Diese Handlung bildet aber nur das Rückgrat für eine Schilderung der atmosphärischen und kulturellen Entwicklung von den Vorkriegsjahren bis zum vorläufigen staatlichen Ende Österreichs. Es geht Roth offensichtlich um eine Schilderung der Ziellosigkeit der österreichischen Intellektuellen, eine Kritik der Kultur der Moderne und nicht zuletzt der Gleichgültigkeit, mit der Österreich auf seine Vereinnahmung durch das faschistische Deutschland reagiert. Es ist eine scharfe Abwendung von seiner Heimat und eine sentimentale Rückwendung zum Vielvölkerstaat der Vorkriegszeit, der angesichts des aktuellen Desasters als schlechte, aber immerhin eigenständige Alternative erscheint. Für ihn steht symbolisch der Leichnam des letzten Kaisers in der Kapuzinergruft.

Man merkt dem Buch sehr an, dass ihm die umfassende, geschlossene Komposition mangelt, die Der Radetzkymarsch ausgezeichnet. Die Handlung bleibt anekdotisch und mehr als eine der Wendungen der Handlung erscheint eher als willkürlich erfunden denn als organisch hergeleitet. Das Buch ist nicht ohne Reiz, aber es ist ironischerweise ein typisches Produkt jener Moderne, die es zu kritisieren versucht.

Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. dtv 13100. München: dtv, 112020. Broschur, 187 Seiten. 9,90 €.

Virginia Woolf: Mrs. Dalloway

Und Richard und Elizabeth waren ziemlich froh, dass es vorbei war …

Ein kleiner Roman, 1925 erschienen, der offensichtlich eine der frühen Reaktionen auf den Ulysses von James Joyce (1922) darstellt. Woolf experimentiert mit fließenden Über­gän­gen zwischen personalem Erzählen mit wech­seln­dem Fokus, erlebter Rede und stream of conciousness. Nachgebildet werden darüber hinaus hauptsächlich Er­zähl­tech­ni­ken aus dem Irrfelsen-Kapitel. Erzählt werden ungefähr 12 Stunden eines Tages im Sommer 1923, an dessen Abend Clarissa Dalloway einen Empfang in ihrem Haus gibt, der den Gipfel und zugleich das Ende des Romans bildet. Dabei ist Mrs. Dalloway kaum mit der Vorbereitung des Empfangs beschäftigt – das einzige, was als Vorbereitung zählen kann, ist, dass sie ihr Kleid, an dem eine Kleinigkeit genäht werden muss, für den Abend herrichtet –, auch wenn ein bedeutender Teil ihres Denkens um die Bedeutung und den Erfolg des Abends kreist.

Unterbrochen werden diese Gedanken durch den Besuch ihrer Jugendliebe Peter Walsh, der gerade aus Indien zurückgekehrt ist, um in London die Scheidung seiner unglücklichen Ehe zu betreiben. Walsh hat sich auf seine alten Tage (er ist 52 Jahre alt) in eine junge, verheiratete Frau verliebt; ob dies mehr als eine Phantasie ist, lässt sich aus dem Text heraus kaum beurteilen. Außerdem verfolgt der Text für eine Weile den Tag von Richard Dalloway, der nach einer etwas merkwürdigen Einladung bei einer Lady Bruton in einem plötzlichen emotionalen Überschwang seiner Frau einen großen Strauß Rosen vorbeibringt, sich aber nicht dazu überreden kann, ihr zu sagen, dass er sie liebe. Auch von der gemeinsamen Tochter Elizabeth erfahren wir das eine oder andere, ebenso wie von einigen anderen Freunden und Bekannten der Dalloways.

Als soziales Gegengewicht zu dem ansonsten durchweg der Oberschicht angehörenden Personal fungiert das Ehepaar Septimus und Lucrezia Warren Smith. Septimus ist mit einem unerkannten psychischen Trauma aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt. Aus Italien, wohin es ihn im Krieg verschlagen hatte, hat er seine Ehefrau nach London mitgebracht. Er hat seine alte Stellung in einem Büro wieder angetreten, ist aber mit den Jahren mehr und mehr in eine Psychose abgerutscht, die sich nun in Visionen seines im Krieg gefallenen Vorgesetzten manifestiert. Seine Frau, die angesichts seines immer merkwürdiger werdenden Verhaltens langsam verzweifelt, bringt ihn an diesem Tag erstmals zu einem berühmten Nervenarzt, der wenigstens den Zusammenhang mit dem Kriegserleben erkennt und ihn für mindestes sechs Monate in einem Sanatorium unterbringen will. Man muss feststellen, dass diese Nebenhandlung wohl die aussagekräftigste und interessanteste im ganzen Buch ist.

Bei aller Anerkennung der artistischen Anstrengung bleibt leider festzustellen, dass das Buch an seinem weitgehend unerheblichen Personal scheitert. Es mag sein, dass es sich dabei um eine milde Satire auf die englische Oberschicht handeln soll – besonders die Schilderung des sozialen und intellektuellen Leerlaufs beim abendlichen Empfang im Hause Dalloway nährt diesen Verdacht –, doch ist das Objekt dieser Satire inzwischen so weit von uns entfernt, dass wir ihren Biss kaum mehr empfinden, sondern uns konstruieren müssten. Doch dafür ist der Text eindeutig zu lang geraten. Am Ende geht es uns so, wie Richard und Elizabeth: Wir sind ziemlich froh, dass es vorüber ist.

Virginia Woolf: Mrs. Dalloway. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. RUB 18886. Stuttgart: Reclam, 2012. Broschur, 231 Seiten. 6,80 €.

Lothar Machtan: Kaisersturz

– nachdem man den letzten Hohenzollern, Wilhelm II., von dem man sagt, er habe eine Kopfprothese getragen, abgesetzt hatte –

Herbert Rosendorfer

Nachdem hier bereits der Band zum Untergang der K.-u.-k.-Monarchie besprochen wurde, folgt nun das Pendant zum Deutschen Kaiserreich. Lothar Machtan stellt den letzten Hohenzollern-Herrscher in das Zentrum der ersten Hälfte seiner Darstellung; in der zweiten folgt dann der Blick auf die Entwicklung in den letzten Kriegsmonaten in Deutschland und die konkreten politischen Abläufe Ende Oktober, Anfang November 1914, die zum Sturz des Kaisers und zur Errichtung der ersten Demokratie auf deutschem Boden geführt haben. 

Machtan teilt deutlich die allgemeine Abneigung gegenüber Wilhelm II. Er zeichnet das Porträt eines eitlen, überheblichen, unfähigen und von der Realität weit entfernten Herrschers, der bis zum Ende nie recht verstanden hat, warum die politische Entwicklung ihn hinter sich gelassen hat. Neben dieses Bild stellt Machtan das zweier weiterer Hauptakteure des Umbruchs: Prinz Max von Badens, des letzten Reichskanzlers des Kaisers, und Friedrich Eberts, des Führers der Mehrheits-SPD, Nachfolgers des Prinzen und späteren Reichspräsidenten. Auch der Kaiserin Auguste Viktoria wird einige Aufmerksamkeit gewidmet; alle weiteren Akteure spielen nur Nebenrollen bei Machtan. Weder Erich Ludendorff oder Paul von Hindenburg noch Philipp Scheidemann sind angemessen gewichtet, um nur die drei offensichtlichsten Kandidaten zu nennen. Auch Machtans praktische Gleichsetzung der USPD und ihres Programms mit den Interessen und Ansichten des Volkes ist sicherlich eine ungeschickte Verkürzung. 

Wie bereits erwähnt, schildert das Buch in seiner zweiten Hälfte die Zeit des Umbruchs vom Kaiserreich zum revolutionären Endstadium des Deutschen Reichs, das zur Weimarer Republik führen wird. Dabei schildert Machtan hauptsächlich die Vorgänge in Berlin und im Hauptquartier der OHL in Spa; auch hier bleiben etwa die Matrosenaufstände in Kiel oder die revolutionäre Entwicklung in München ganz und gar randständig. Das, was Machtan schildert, ist gut und mit hoher Detailkenntnis dargestellt. Ob allerdings tatsächlich eine ausführliche Schilderung des Interieurs der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße 77 (mit einem Grundriss des Erdgeschosses) für das Verständnis der Revolution fruchtbar ist, darf immerhin bezweifelt werden. Am spannendsten dürfte Machtans These sein, dass es Ludendorffs Nachfolger General Wilhelm Groener war, der gegenüber Prinz Max von Baden die Abdankung Wilhelm II. als Kaiser und preußischer König telefonisch bestätigte, bevor die entsprechenden Entscheidungen in Spa gefallen waren, und so Tatsachen geschaffen hat, die für den weiteren Verlauf der Revolution entscheidend waren.

Ein gut lesbares, in Details sehr interessantes Buch, das sich aber für einen Überblick zur November-Revolution eher nicht eignet. Auch hätten die Charakterzeichnungen, insbesondere die des Kaisers, ruhig etwas neutraler und differenzierter ausfallen dürfen.

Lothar Machtan: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht. Darmstadt: wbg Theiss, 2018. Pappband, Lesebändchen, 350 Seiten. 24,– €.

Ian Kershaw: To Hell and Back

Churchill had proposed shooting major criminals as soon as they were caught. Stalin preferred them to be tried first and then shot.

Dass Ian Kershaw einer der hervorragenden Historiker des Zweiten Weltkriegs ist, wurde hier an andere Stelle schon einmal festgestellt. Dem breiteren Publikum ist er durch seine Hitler-Biographie (1998/2000) bekannt geworden; seitdem liefert er mit schöner Re­gel­mä­ßig­keit umfangreiche Bücher zum Zweiten Weltkrieg. Der vorliegende Band behandelt die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (genauer 1914–1949). Es handelt sich um den ursprünglich als Abschluss geplanten 8. Band von Penguins History of Europe, der ursprünglich das gesamte 20. Jahrhundert umfassen sollte. Kershaw hat sich dann aber zwei Bände für den Zeitraum ausgebeten, so dass eine Fortsetzung bis an die Gegenwart heran noch aussteht.

Auch Kershaw folgt dem Konzept des sogenannten kurzen 20. Jahrhunderts (das, wenn ich es richtig sehe, von Eric Hobsbawm populär gemacht wurde), zumindest was den Beginn seiner Darstellung angeht. Es besteht derzeit ein weitgehender Konsens, dass mit dem Ersten Weltkrieg ein radikaler Umbruch stattfand, der so zahlreiche gesellschaftliche und kulturelle Konventionen des 19. Jahrhunderts in Frage stellte, dass mit ihm eine neue Epoche begann. Die Wahl für das Jahr 1949 als Abschluss des ersten Bandes ist darin begründet, dass Kershaw damit die Nachwehen sowie die politischen und sozialen Folgen des Zweiten Weltkrieges noch in den Band aufnehmen kann. So schließt der Band mit den Entwicklungen, die zum Wiederaufstieg Deutschlands im Westen und der Entstehung des Kalten Krieges führen.

Bei aller Kürze (der Band behandelt 35 Jahre der Geschichte aller europäischer Nationen inklusive Russlands bzw. der Sowjetunion auf 520 Seiten) ist die Darstellung ausgezeichnet gewichtet und umfasst nicht nur die großen Linien der politischen und militärischen Ereignisse, sondern auch soziale und kulturelle Entwicklungen. So ist das Buch wohl auch für diejenigen mit Gewinn zu lesen, die bereits über gute Kenntnisse der Geschichte des 20. Jahrhunderts verfügen; ich habe etwa die Beschreibung der politischen Rolle der katholischen Kirche in dieser Präzision und Kürze bislang nirgendwo anders gefunden.

Kershaw gelingt einmal mehr eine gut strukturierte und exakte Analyse des komplexen historischen Materials ohne Zuhilfenahme eines groben ideologischen Schemas. Aufgrund von Kershaws klarem Stil ist das Buch sowohl als anspruchsvolle Einführung für historische Laien als auch als auffrischender Überblick für Kenner der Materie zu empfehlen. Man darf auf den zweiten Teil des Buches gespannt sein.

Ian Kershaw: To Hell and Back. Europe, 1914–1949. London: Allen Lane, 2015. Kindle-Edition, 574 Seiten. 10,99 €.

Zur Besprechung des zweiten Bandes Roller-Coaster

100 Jahre Dada

Alles in unserer Zeit ist Dada, nur die Dadaisten nicht. Wenn die Dadaisten Dadaisten wären, dann wären die Dadaisten keine Dadaisten.
Theo van Doesburg

In diesem Jahr wäre Dada 100 Jahre alt geworden, wenn es nicht bereits unmittelbar vor seiner Zeugung verstorben wäre:

Dada ist tot, bevor es überhaupt angefangen hat. Zum ersten Mal stirbt Dada, als Tzara aus einer Laune eine Kunstrichtung machen will. Dada stirbt seinen Heldentod, als Ball im Juni 1916 Zürich verlässt. Dada dreht sich im Grabe um, als Huelsenbeck, Tzara und Arp versuchen, es in anderen Städten zu etablieren. In der Auseinandersetzung zwischen Picabia, Breton, Tzara und ihren Gesellen stirbt Dada tausend Tode. Aber so darf Dada nicht vertröpfeln, es muss auch einmal ordentlich symbolisch zu Grabe getragen werden.

Banalerweise leben Totgesagte immer länger, besonders dann, wenn zu bezweifeln ist, dass sie überhaupt jemals von selbst geatmet haben. Das alles stört aber Dada und die meisten seiner Vorkämpfer überhaupt nicht. Sich um solch offenbare Widersprüche zu kümmern, hieße die Macht des Paradoxen zu verschwenden. Dada setzt tiefer an, nämlich dort wo sich Vernunft und Unvernunft gute Nacht sagen – an der kargen Oberfläche der bürgerlichen Kultur.

dada-almanachNatürlich ist der Manesse Verlag mit Sitz in Zürich prädestiniert, Dada zum Jubiläum mit einer Anthologie zu würdigen. Die Textauswahl ist beeindruckend umfassend; sogar Clément Pansaers (1885–1922) und Paul von Ostaijen (1896–1928), zwei belgische Dadaisten, von denen ich bis dato noch nie gehört oder gelesen hatte, sind vertreten. Ansonsten ist alles anwesend, was noch keinen Rang hatte und sich einen Namen machte: Tristan Tzara, Hans Arp, Georg Grosz, Walter Serner, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und Emmy Hennings, Walter Mehring (den ich besonders schätze), Raoul Hausmann, Francis Picabia, André Breton, Paul Éluard und und und. Die Auswahl der Texte ist ebenso gelungen: Weder fehlen die bekannten Klassiker (etwa Balls „Karawane“ oder Schwitters „An Anna Blume“), noch die Überraschungen, wegen derer man einen solchen Almanach kaufen sollte. Auch die Auswahl aus der unendlichen Flut dadaistischer Manifeste, die bekanntlich nichts sagen, dass aber in einer Ausführlichkeit, mit der sich nur politische Reden messen können, ist exzellent. Begleitet werden die Texte durch einen Anhang, der die wichtigsten Dadaisten in biographischen Kurzporträts vorstellt und die wichtigsten Orte der Aufführung präsentiert. Das zusätzliche Spiel mit Schwarz und Rot im Druckbild rundet den Band perfekt ab. Das einzige, was man vermissen könnte, ist, dass Dada nicht ausschließlich eine textbasierte Strömung war, sondern insbesondere auch Graphik, Collage und Musik mit einbezog.

mittelmeier-dadaWer darüber mehr erfahren  und Dada im allgemeineren Kontext der Moderne dargestellt haben möchte, kann zu Martin Mittelmeiers Buch greifen (aus dem auch das längere Zitat oben stammt). Mittelmeier versucht, einen Weg zu finden, dem chronologischen, persönlichen, formalen und inhaltlichen Chaos Dadas gerecht zu werden. Wer sich nicht schon ein wenig in der Kulturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts auskennt, könnte im Stakkato einiger Passagen des Buches verlorengehen. Alles in allem und im Großen und Ganzen muss man Mittelmeier zugestehen, dass er diese schwierige Aufgabe gut bewältigt, sind doch zahllose biographische Details, parallele Entwicklungen, Verwerfungen, Verfeindungen und Zweckbündnisse, Widersprüche und Gegensätze darzustellen, deren Anlässe für einen, der nicht tief in den Verwicklungen dieser Zeit steckt, nur schwer nachzuvollziehen sind.

Sehr loben muss man Mittelmeier dafür, dass er den bequemen Ansatz, Dada sei die Reaktion einiger Intellektueller auf den Wahnsinn des Ersten Weltkrieges, als unzureichend begreift und Dada stattdessen in die künstlerischen Umbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts einstellt: Das Aufgeben der Zentralperspektive in der Malerei, der Harmonik in der Musik – wenn auch seine Rede davon, Schönberg befreie „den einzelnen Ton aus dem Korsett der klassischen Tonalität“ (S. 51) dummes Geschwätz ist –, die Faszination der Geschwindigkeit und die Empfindung der Simultanität sind andere Aspekte desselben grundsätzlichen Zweifels an den tradierten Formsprachen, der sich auch in Dada manifestiert. Auch lässt Mittelmeier keinen Zweifel daran, dass Mangel an konkretem Inhalt, Wiederholung und der Dada notwendig innewohnende Selbstwiderspruch zu nichts anderem als zur baldigen Auflösung von Dada führen konnten, und jede neue Stadt, in die Dada getragen wird, die Agonie nur überdeckt und herauszögert. Ergänzt wird diese sehr klarsichtige Darstellung durch einige dadaistische Zwischenspiele, auf die man sich – wie auf Dada überhaupt – schlicht einlassen sollte.

Ob Mittelmeier aber tatsächlich der Auffassung ist, der Eiffelturm sei 1000 Meter hoch (S. 48), Erich Mühsam habe den Vornamen Ernst geführt (S. 66), moderne Kunst verfüge über „Autonomie“ (S. 102) oder Schwitters Bilder seien „funktional gesehen gotische Dome“ (S. 184), kann man angesichts dessen, was hier gelungen ist, auf sich beruhen lassen.

Dada-Almanach. Vom Aberwitz ästhetischer Kontradiktion. Hg. v. Andreas Puff-Trojan und H. M. Compagnon. Zürich: Manesse, 2016. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 176 Seiten. 39,95 €.

Martin Mittelmeier: Dada. Eine Jahrhundertgeschichte. München: Siedler, 2016. Pappband, 272 Seiten. 22,99 €.

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora

«Dann muss Deutschland eben zugrunde gehen!»
Erich Ludendorff
«Das wird unser böses Erbe sein, oder unser gutes Erbe, auf jeden Fall unser unwiderrufliches Erbe – und wir werden für immer an unsere Erinnerungen gekettet sein.»
Paolo Monelli

Leonhard-BuechseMit „Die Büchse der Pandora“ legt der Freiburger Historiker Jörn Leonhard die wohl umfassendste Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs vor, die bislang verfasst wurde. Dies nicht nur im Sinne der 1014 Seiten, die seine Schilderung füllt, sondern besonders auch was deren Breite angeht. Während Herfried Münkler in seinem Buch „Der Große Krieg“ einen Schwerpunkt auf die militärischen Operationen und die deutsche politische Perspektive des Krieges legt, bezieht Leonhard auch die Entwicklungen an der sogenannten Heimatfront aller großen Kriegsteilnehmer kontinuierlich mit ein. Münklers und Leonhards Bücher liefern daher zusammen so etwas wie eine nahezu ideale Geschichte des Ersten Weltkriegs, wenn man sich der Mühe unterzieht, beide umfangreichen Bücher zur Kenntnis zu nehmen. Zusammen mit Christopher Clarks minutiöser Vorgeschichte „Die Schlafwandler“ ergibt sich ein Gesamtbild des Geschehens von bislang wohl nicht erreichter Genauigkeit sowohl im Detail, als auch, was die großen Zusammenhänge angeht.

Der Titel von Leonhards Buch geht auf die nette Anekdote zurück, dass die Kinder von Thomas Mann (der nach meinem gänzlich unmaßgeblichen Geschmack mit seinen Meinungen im Buch etwas zu präsent ist) Ende Juli 1914 zusammen mit Nachbarskindern die Aufführung eines mythologischen Stücks „Die Büchse der Pandora“ nach Gustav Schwabs „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ planten, die Generalprobe am 1. August aber vom Kindermädchen der Familie Mann mit der Mitteilung abgebrochen wurde, dass der Krieg ausgebrochen und deshalb an eine Aufführung nicht mehr zu denken sei; die Büchse der Pandora war bereits an anderer Stelle geöffnet worden.

Leonhard nimmt, wie oben bereits gesagt, die nicht unerhebliche Mühe auf sich, neben der militärischen und politischen Entwicklung auch immer die gesellschaftlichen Veränderungen der großen, kriegsteilnehmenden Gesellschaften zu schildern. Die Haltungen und Handlungen der Kleinbürger und Arbeiter sowie der Gewerkschaften, das Schicksal von Minderheiten und feindlichen Ausländern, die Dynamik in multiethnischen Gesellschaften – nicht nur der Österreich-Ungarns und denen des Balkans, sondern auch der USA – nehmen einen erheblichen Teil der Darstellung ein. Leonhard wählt dabei allerdings mit den Kalenderjahren der Kriegszeit ein chronologisch so großschrittiges Ordnungsprinzip, dass dem Leser an vielen Stellen ein erhebliches Erinnerungsvermögen abgefordert wird, wenn er alle geschilderten Ereignisse und Zustände in eine korrekte chronologische Ordnung zueinander bringen will. Es ist Leonhard dabei allerdings zugute zu halten, dass jede andere Anordnung der Fülle an historischem Material, die er präsentiert, wahrscheinlich zu nicht geringeren Problemen geführt haben würde.

Leser, die zuvor Münklers Buch gelesen haben, könnten sich im Vergleich auch an dem deutlich akademischeren Stil Leonhards stören, der dem historischen Laien sicherlich ein wenig Gewöhnung abverlangt. Auch setzt Leonhard deutlich mehr historisches Vorwissen voraus als Münkler oder Clark; die Zielgruppe von Leonhards Buch ist eindeutig eine andere. So mühsam es auch scheint, kann daher dem historischen Laien oder demjenigen, der sich in diese Zeit überhaupt erst einarbeiten will, nur die Lektüre aller drei Bücher angeraten werden: Clark, Münkler, Leonhard, und wohl am besten in dieser Reihenfolge (zusammen knapp 3.000 Seiten!).

Leonhard führt im Gegensatz zu Münkler seine Geschichte des Ersten Weltkriegs zudem über den 11. November 1918 fort, mit dem wichtigen Hinweis, dass dieses Datum nur das Ende der Kampfhandlungen im Westen markiert, während sich im Osten Europas und im Nahen Osten an den Großen Krieg nahtlos andere Kriege und Bürgerkriege anschlossen, die bis in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts und darüber hinaus reichen, ja, dass einige der heutigen sogenannten Krisenregionen erst durch die Entscheidungen der Großmächte während des Ersten Weltkriegs konstituiert wurden. Auch weist Leonhard immer wieder darauf hin, dass zahlreiche Kolonialgebiete mit ihrer Teilnahme am Großen Krieg die Hoffnung auf nationale Souveränität oder zumindest größere politische Einflussnahme verbunden hatten, Erwartungen, die nach dem Ende des Krieges in Westeuropa nicht erfüllt wurden und so als internationales Konfliktpotenzial mit dem Krieg erst geschaffen wurden und nach ihm in oft zunehmend brisanter Weise fortbestanden. Auch wird in Leonhards Darstellung klar, wie der Erste Weltkrieg bereits die komplexen Grundlagen für den Zweiten liefert, ohne dass der Autor der bei einigen Historikern zuletzt beliebten Lesart von einem zweiten 30-jährigen Krieg (1914–1945) beitreten würde.

Wer nur die Zeit für eine große Darstellung des Ersten Weltkriegs aufbringen kann oder möchte, dem sei Leonhards Buch als die umfassendste empfohlen, allerdings eben mit dem Hinweis, dass seine an einigen Stellen recht kompakte Darstellung einiges an historischem Vorwissen fordert.

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München: Beck, 2014. Leinen, Lesebändchen, 1157 Seiten. 38,– €.

Christopher Clark: Die Schlafwandler

Einmal mehr zeigt sich hier die Tendenz, die in der Argumentation so vieler Akteure in der Krise zu beobachten ist: nämlich sich selbst als jemanden wahrzunehmen, der unter unwiderstehlichen externen Zwängen handelt, während die Verantwortung für die Entscheidung über Krieg und Frieden eindeutig dem Gegner aufgebürdet wird.

Clark-SchlafwandlerChristopher Clark, der als Historiker in Deutschland wegen seiner konzisen Biographie Wilhelms II. bekannt sein sollte, es aber wohl eher wegen der verschnarchten „Deutschland-Saga“ des ZDF ist, hat zeitig zu den 100-Jahr-Gedenktagen zum Beginn des Ersten Weltkrieges eine umfangreiche Studie zu den Vorbedingungen vorgelegt, die den Ausbruch des Krieges ermöglicht und befördert haben. Das Buch ist in den Feuilletons ausgiebig besprochen worden, in der Hauptsache deshalb, weil sich Clark der traditionellen Schuldfrage konsequent entzieht und an ihre Stelle eine Darstellung und Analyse der Akteure und Umstände in allen kriegsbeteiligten Nationen setzt.

Clarks Darstellung ist in drei Teile gegliedert: Der erste stellt ausführlich die politische Situation in Serbien nach dem gewaltsamen Umsturz im Jahr 1903 bis ins Jahr 1914 dar: Der alte König Aleksandar Obrenović wird zusammen mit seiner Frau ermordet und durch eine deutlich schwächere Figur – Petar I. Karađorđević – ersetzt, Teile des Militärs, die sich zudem noch in Geheimbünden organisieren, übernehmen hinter den Kulissen die Macht und das nationale politische Programm kreist im Wesentlichen um den Gedanken eines Großserbiens, für dessen Verwirklichung Österreich-Ungarn eines der Haupthindernisse darstellt. Der zweite Teil beschreibt für denselben Zeitraum die internationale und besonders die Lage der europäischen Teilnehmer am späteren Großen Krieg: den wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg Russlands, der von allen anderen europäischen Großmächten zudem noch deutlich überschätzt wird, den scheiternden Versuch Deutschlands, Frankreich international zu isolieren, die erfolgreiche Bündnispolitik der Franzosen, die sich Russland als natürlichen Verbündeten gegen Deutschland verpflichten können und Serbien als Gegner Österreich-Ungarns auf dem Balkan fördern, die schwankende und sich nach allen Richtungen absichern wollende Politik der Engländer, das mit seinen internen strukturellen Problemen kämpfende Österreich-Ungarn usw. usf. In diesem Teil wird auch die Entwicklung des 1. und 2. Balkankrieges und deren Folgen beschrieben, die Verwerfungen der Staaten auf dem Balkan untereinander und als Folge der schwindenden Macht des Osmanischen Reiches. Der dritte Teil schließlich widmet sich detailliert dem Attentat von Sarajevo und der daraus folgenden Juli-Krise.

Das erste, was man wohl hervorheben muss, ist Clarks unglaublicher Fleiß und seine umfassende Kenntnis der historischen Lage und Akteure. Trotz der äußerst komplexen Sachverhalte, die Clark vermitteln muss, ist seine Darstellung immer klar strukturiert; die aufgrund der Aufteilung des Buches unvermeidlichen Redundanzen sind auf ein Mindestmaß beschränkt; alle zentralen Akteure werden auch an jenen Stellen verständlich, an denen sie sich auf den ersten Blick inkonsequent und selbstwidersprüchlich zu verhalten scheinen. Clark erzeugt im Leser die Illusion, er könne die Vernünftigkeit des Weltgeistes, die konsequent in das erste ungeheuerliche Gemetzel des 20. Jahrhunderts geführt hat, wenigstens für einen Augenblick begreifen. Dass dies notwendig eine Illusion ist, weiß Clark natürlich selbst:

Selbst wenn wir annehmen, dass kompakte Exekutiven mit einer einheitlichen und kohärenten Zielsetzung die Außenpolitik der europäischen Mächte vor dem Krieg formulierten und steuerten, wäre die Rekonstruktion der Beziehungen unter ihnen dennoch eine beängstigende Aufgabe, wenn man bedenkt, dass man die Beziehung zwischen zwei Mächten nie ganz verstehen kann, ohne auf die Beziehungen zu den anderen zu verweisen. Doch im Europa der Jahre 1903 bis 1914 war die Wirklichkeit sogar noch komplexer, als das »internationale« Modell vermuten lässt. [S. 315]

Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Aber sie war darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne, und eben deshalb geht die Diskussion über den Ursprung des Ersten Weltkrieges weiter, selbst ein Jahrhundert nach den tödlichen Schüssen Gavrilo Princips an der Franz-Josephs-Straße. [S. 717]

Das Buch ist für das Verständnis des Prozesses, der zum Ersten Weltkrieg geführt hat, unverzichtbar; nach seiner Lektüre lässt sich weder die Frage nach der Kriegsschuld, noch die nach der Unvermeidlichkeit des Krieges noch sinnvoll stellen: Selbst ein so zögerlicher und eigentlich unwilliger Kriegsteilnehmer wie Großbritannien, das noch die besten Bedingungen dafür auswies, dem Großen Krieg auszuweichen, sieht sich schließlich dazu genötigt, dem allgemeinen Gang der Dinge nachzugeben und sich auf ein Unternehmen einzulassen, das am Ende aller politischen und militärischen Vernunft Hohn sprechen sollte. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich ernsthaft mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, selbst für jene, die seiner grundsätzlichen These von der überbordenen Komplexität des Prozesses prinzipiell skeptisch gegenüberstehen.

Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. München: DVA, 2013. Pappband, 895 Seiten. 39,99 €. (Es liegt inzwischen auch schon eine broschierte Ausgabe vor.)

P. S.: Die gleichnamige Romantrilogie Hermann Brochs, von der ich vermutete, sie habe zur Wahl des Titels geführt, scheint Clark gar nicht zu kennen; jedenfalls wird sie weder zitiert, noch im Literaturverzeichnis aufgeführt.

Herfried Münkler: Der Große Krieg

Die Zeit der einseitigen Schwarzweißzeichnungen in der Ursachenforschung zum Ersten Weltkrieg ist vorbei, und die von Hegel in seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie apostrophierte «Eule der Minerva» inspiziert eine Landschaft, in der die mit den Ursachen und dem Verlauf des Ersten Weltkriegs befasste Forschung inzwischen ihr Grau in Grau malt. Eindeutige Antworten sind dadurch ebenso unmöglich geworden wie eindeutige Schuldzuweisungen.

Muenkler_KriegHerfried Münklers Geschichte des Ersten Weltkrieges ist die erste von mindestens drei großen Darstellungen des Ersten Weltkriegs, die ich in diesem Jahr zu lesen vorhabe (Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ und Jörn Leonhards „Die Büchse der Pandora“ sollen folgen). Münkler ist zwar Politologe, hat sich aber schon in zahlreichen anderen Veröffentlichungen mit spezifisch historischen Themen beschäftigt, so dass dieses Buch keine wirkliche Überraschung darstellt.

Das Schwergewicht von Münklers Darstellung liegt auf dem Kriegsverlauf im militärischen Sinne (ohne dass sein Buch zu einer Militärhistorie im engeren Sinne wird), also der Entwicklung der Operationen, den Motiven der jeweiligen militärischen Führungen, den Bedingungen, unter denen an den diversen Fronten gekämpft wurde, den Auswirkungen von Siegen und Niederlagen für die den Krieg betreibenden Nationen. Außerdem kreist Münklers Erzählung des Kriegsverlaufes in der Hauptsache um das Geschehen im Deutschen Reich bzw. Einflussbereich, so dass der Untertitel „Die Welt 1914–1918“ vielleicht ein wenig in die Irre führen könnte.

In diesen von Münkler selbst gewählten Grenzen ist sein Buch, soweit ich das beurteilen kann, tadellos. Sicherlich kann man sich über Einzelheiten streiten, etwa über die genaue Rolle, die die politische Führung des Reiches in der Juli-Krise gespielt hat, also ob es tatsächlich so war, dass der Wille zum Krieg im Wesentlichen von den Militärs gegen die Regierung durchgesetzt wurde, aber insgesamt informiert Münkler exzellent über das Geschehen und liefert eine überzeugende Deutung, wie aus dem Anlass von Sarajevo ein nicht mehr zu begrenzender europäischer Krieg geworden ist.

Der Frage nach der Kriegsschuld weicht Münkler zu Recht aus, oder anders gesagt: Er zeigt auf, dass diese Frage falsch gestellt ist. Münkler macht deutlich, dass im Denken der Führung des deutschen Militärs und zumindest auch eines bedeutenden Teils der Politiker ein Krieg als eine unausweichliche Folge der geopolitischen Lage verstanden wurde, den es je eher, je besser auszukämpfen galt. Hinzukommt bei allen späteren Kriegsteilnehmern das Phänomen, dass man einen politischen „Gesichtsverlust“ und damit eine Einbuße von Einfluss auf das internationale politische Geschehen befürchtete, wenn man in der Juli-Krise keine Stärke bewies. Hinzukommen konkrete machtpolitische Konflikte auf dem Balkan, auf dem die k.u.k. Monarchie ihren Führungsanspruch und damit indirekt auch ihren Anspruch, als eine europäische Großmacht begriffen zu werden, massiv in Frage gestellt sah. Am Ende lassen sich alle Teilnehmer mehr oder weniger darauf ein, dass dies eben eine  günstige Gelegenheit ist, die anliegenden politischen Konflikte mit dem bewährten Mittel eines Krieges zu klären, um wenigstens zu einem neuen politischen Gleichgewicht zu gelangen. Dazu trägt sicherlich auch bei, dass die meisten der Entscheider in Militär und Politik tatsächlich der Überzeugung waren, dass der Krieg innerhalb von fünf Monaten wieder beendet sein würde.

Zuzustimmen ist Münkler jedenfalls in der Einschätzung, dass der Regierung Bethmann Hollwegs spätestens mit Ausbruch des Krieges die eigentliche politische Führung des Deutschen Reiches von einer Allianz aus Kaiser und Militär aus der Hand genommen wurde und später allein in die Hände der Obersten Heeresleitung geraten ist. Erst mit dem Eingeständnis der Unmöglichkeit, den Krieg noch weiterzuführen, wird die politische Macht wieder den zivilen politischen Akteuren übergeben, die damit vor die Aufgabe gestellt werden, die innen- und außenpolitischen Folgen des ersten Versuchs eines „absoluten Krieges“ wenigstens einigermaßen in den Griff zu bekommen. So ist für Münkler weniger die Kriegsschuldfrage wichtig als vielmehr die, warum es nicht  gelingen konnte, den Krieg zu einem deutlich früheren Zeitpunkt zu beenden. Ihm ist wohl zuzustimmen, dass dies wesentlich auch an der strukturellen Machtlosigkeit der deutschen Politik vor der Allianz von Kaiser und Militärs liegt.

Was man in Münklers Darstellung vermissen kann, ist die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und politischen Folgen dieses Krieges. Zwar werden alle wichtigen Phänomene kurz angerissen, auch ist Münkler in seiner These zuzustimmen, dass der Erste Weltkrieg das Ende der bürgerlichen Kultur im engeren Sinne bedeutet, aber alle daraus resultierenden Folgen bleiben bei Münkler ausgeblendet. Auch die gesellschaftlichen Unruhen in Deutschland gegen Kriegsende kommen eher am Rande vor, soweit es sich nicht um militärische Ereignisse (Kampfstreiks, Meutereien etc.) handelt. Hier hätte zumindest ich mir eine etwas andere Gewichtung gewünscht; aber man darf nicht alles, von einem einzigen Buch erwarten.

Hinzuzufügen ist, dass Münklers Buch auffallend angenehm zu lesen ist. Seine Erzählung ist in allen Teilen klar strukturiert, und ihm gelingt es, auch komplexe Vorgänge systematisch aufzuarbeiten und in den Zusammenhängen deutlich zu machen. Das Buch schöpft aus einer beeindruckenden Quellenkenntnis, die weit über den Rahmen dieses konkreten Buches hinausgeht. Alles in allem eine beeindruckende Geschichte des Ersten Weltkrieges vom Attentat in Sarajevo bis zum Waffenstillstand vom 11. November 1918, wenn ihre Lektüre allein auch nicht ausreicht, die komplexen Umbrüche in der europäischen Kultur, die er hervorbringt, auch nur annähernd zu begreifen. Sie bietet aber ein solides Rückgrat für jede weiterführende Lektüre.

Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918. Berlin: Rowohlt Berlin, 2013. Pappband, Lesebändchen, 924 Seiten. 29,95 €.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg

Das menschliche Leben ist, melde gehorsamst, Herr Oberleutnatnt, so kompliziert, dass das Leben des einzelnen Menschen dagegen ein Witz ist.

Hasek-SvejkEinhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs und neunzig Jahre nach der bis dahin ersten und einzigen Übersetzung von Hašeks weltberühmten Roman legt Reclam eine lange überfällige Neu­über­set­zung des „Švejk“ vor. Die frühe Übersetzung durch Grete Reiner, die bis dato die deutsche Rezeption des Romans geprägt hat, war bereits von Kurt Tucholsky unter den Verdacht gestellt worden, das Original zu verfälschen.

Die neue Übersetzung durch Antonín Brousek räumt den deutschen Text jedenfalls umfassend auf: Das Böhmakeln Švejks wird komplett beseitigt (mit dem berechtigten Hinweis, dass sich im Original nichts findet, was diesem Dialekt entsprechend würde), Austriazismen und veraltete Wendungen werden ersetzt, die deutsche Umschrift tsche­chi­scher Eigennamen rückgängig gemacht, einige antideutsche Passagen wieder hergestellt und der Text insgesamt für den heutigen Leser zugänglicher gemacht. Eine tatsächliche Beurteilung der Übersetzung muss ich aber jenen überlassen, die sie mit dem Original vergleichen können.

Unabhängig von der Frage nach der Übersetzung wurde mir die er­neu­te Lektüre des „Švejk“ aber an einigen Stellen lang. Es wird doch sehr deutlich, dass Hašek eigentliches Talent bei den kurzen literarischen Formen lag, und er einen Roman im Wesentlichen dadurch erzeugte, dass er anekdotische Stücke schlicht aneinanderklebte. Zwar gibt es den großen Plan, das Buch mit der Ermordung des Erzherzogs Franz-Ferdinand beginnen und „nach dem Krieg um sechs Uhr abends“ enden zu lassen, aber bis auf diesen großen Rahmen (der tausende von Seiten hätte füllen müssen, hätte Hašek ihn jemals ausführen können) sind nur Rudimente einer erzählerischen Struktur erkennbar. Mehr als verzeihlich ist dies nur wegen des die formlose Geschwätzigkeit des Textes widerspiegelnden Protagonisten, der dem Leser in einer nicht anders als genial zu nennenden Weise zugleich auf die Nerven geht und ihn in seinen Bann schlägt. Švejk ist eine einzige, sich per­pe­tu­ie­ren­de Variation des Unfug sprechenden Menschen. Der spezifische Unfug Švejks ist eine unendliche Folge von Anekdoten, die alle mit dem Ereignis, das sie auslöst, nichts, aber auch rein gar nichts zu tun haben. Ich habe mich am Ende gewundert, dass ich es tat­säch­lich geschafft habe, die knapp 900 Seiten des Romans zu lesen, ja, dass es gegen Ende sogar wieder mit zunehmendem Vergnügen war.

Abgesehen von diesem beherrschenden Mangel an Struktur enthält der Roman eine scharfe Kritik sowohl der k.u.k. Monarchie als auch ihres Militärs und des Krieges. Der überall vorherrschende Grundtypus ist der des Idioten, wobei das Bild durch einige wenige halbwegs der Vernunft gehorchende Figuren abgemildert wird: der Oberleutnant Lukaš, der Einjährigfreiwillige Marek, vielleicht gerade noch der Hauptmann Ságner – alle anderen Figuren scheinen mehr oder weniger vom wilden Affen gebissen zu sein. Insofern sind „Die Abenteuer des guten Sol­da­­ten Švejk im Weltkrieg“ eines der großen pessimistischen und mis­­an­thro­pi­schen Bücher des 20. Jahrhunderts.

Ergänzt wird der Text in der Reclam-Ausgabe um ein sehr informatives Nachwort des Übersetzers und einen lesenswerten Essay von Jaroslav Rudiš. Ich kann daher nur jedem die Anschaffung und Lektüre dieses Buches empfehlen: Es ist hier ein bedeutender literarischer Klassiker des letzten Jahrhunderts zu entdecken und wieder zu entdecken.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Aus dem Tschechichen übersetzt von Antonín Brousek. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1008 Seiten. 29,95 €.

Hans Herbert Grimm: Schlump

Da auf einmal kam ihn ein menschliches Rühren an. Es drängte ihn gewaltig dorthin, wo der Kaiser auch selber hingehen muß.

grimm_schlumpDiese „Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt »Schlump«“ sind 1928 zum ersten Mal erschienen und im Jubiläumsjahr des Beginns des 1. Weltkriegs mit einem überaus freundlichen Nachwort von Volker Weidermann, dessen „Buch der verbrannten Bücher“ sich diese Wiederentdeckung verdankt, neu gedruckt worden. Das Groß­fö­je­tong hat mehrheitlich positiv auf das Buch reagiert, wahr­schein­lich weil die Herren Rezensenten – wie ich mir zu vermuten erlaube – nicht das Buch, sondern nur das Nachwort gelesen haben.

Das Buch ist ziemlich schrecklich: Sein Stil ist der Hauptsatz, sein Humor der Herrenwitz und seine soziale Kompetenz beschränkt sich auf Mutterliebe und geschlechtlichen Verkehr. Kritik am Krieg übt es sicherlich auch noch, aber nicht mehr als man bequem in jedem anderen Anti-Kriegsroman der Zeit findet – und in denen nicht nur besser geschrieben, sondern eben auch mit einem belehrten sozialen und/oder politischen Hintergrund. „Schlump“ kommt über die Einsicht, dass Krieg eben eine üble Angelegenheit ist, bei der Menschen zu Tode kommen, kaum hinaus.

So bleibt nur eine literarhistorische Lektüre nach dem Motto: „Es ist schon interessant, was früher so alles gedruckt worden ist.“ Darüber hinaus hat das Büchlein denjenigen, die sich in der bel­le­tris­ti­schen Literatur zum Ersten Weltkrieg etwas auskennen, kaum etwas zu bieten.

Hans Herbert Grimm: Schlump. Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt »Schlump«. Von ihm selbst erzählt. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014. Pappband, Lesebändchen, 348 Seiten. 19,99 €.