Aus gegebenem Anlass (XXII) – Auf dem Weg in die Zukunft

Und jeder Führung ledig, rollte und rollte die Lokomotive unablässig dahin. Endlich konnte die Störrische, die Wunderliche dem Feuer ihrer Jugend nachgeben wie eine noch ungezähmte Stute, die den Händen des Hüters entkommen war und über das flache Land galoppierte. Der Kessel war mit Wasser versehen, die Kohle, mit der die Feuerbüchse gerade aufgefüllt worden war, geriet in Brand; und während der ersten halben Stunde stieg der Druck toll an, wurde die Geschwindigkeit erschreckend. Ohne Zweifel war der Oberzugführer vor Müdigkeit eingeschlafen. Die Soldaten, die noch betrunkener wurden, weil sie so zusammengepfercht waren, gerieten plötzlich in fröhliche Stimmung über diese ungestüme Fahrt und sangen lauter. Maromme wurde wie in einem Blitz durchfahren. Beim Herannahen der Signale, bei der Durchfahrt durch die Bahnhöfe ertönten keine Pfeifsignale mehr. Es war ein Geradeausgalopp, das Tier, das mit gesenktem und stummem Kopf zwischen den Hindernissen dahinschoß. Es rollte und rollte ohne Ende, durch den gellenden Lärm seines Atems gleichsam immer wahnwitziger gemacht.

In Rouen sollte Wasser genommen werden; und Entsetzen ließ den Bahnhof zu Eis erstarren, als man diesen wahnsinnigen Zug, diese Lokomotive ohne Führer und Heizer, diese Viehwagen, die mit pa­trio­tische Kehrreime brüllenden Muschkoten angefüllt waren, in einem Taumel aus Rauch und Flammen vorüberrasen sah. Sie zogen in den Krieg, und sie wollten schnellstens dort unten an den Ufern des Rheines sein. Die Bahnangestellten waren mit aufgerissenem Mund und mit fuchtelnden Armen stehengeblieben. Sofort ertönte der allgemeine Schrei: Niemals würde dieser zügellose, sich selbst überlassene Zug ungehemmt den Bahnhof von Sotteville durchfahren, der wie alle großen Bahn­be­triebs­wer­ke stets durch Rangierfahrten versperrt, mit Wagen und Lokomotiven verstopft war. Und man stürzte zum Telegraphen, man warnte. Dort konnte gerade ein Güterzug, der das Gleis besetzte, in einen Schuppen zurückgedrückt werden. Schon war in der Ferne das Rollen des entlaufenen Ungeheuers zu hören. Es war in die beiden Tunnel hin­ein­ge­stürmt, die bis nahe an Rouen heranreichen, es kam mit seinem wütenden Galopp heran wie eine ungeheure und unwiderstehliche Gewalt, die nichts mehr aufzuhalten vermochte. Und der Bahnhof von Sotteville wurde ohne Halt durchrast, es sauste mitten durch die Hindernisse, ohne irgendwo hängenzubleiben, es tauchte wieder in der Finsternis unter, in der sein Grollen nach und nach erlosch.

Aber jetzt läuteten alle Telegraphenapparate der Strecke, alle Herzen klopften bei der Nachricht von dem Geisterzug, den man soeben in Rouen und Sotteville hatte vorüberbrausen sehen. Man zitterte vor Angst: ein voraus befindlicher Schnellzug würde sicherlich eingeholt werden. Er aber, wie ein Keiler im Hochwald, setzte seinen Lauf fort, ohne auf die roten Signallichter oder die Knallkapseln zu achten. In Oissel wäre er beinahe an einer Rangierlokomotive zerschellt; Pont-de-lArche setzte er in Schrecken, denn seine Geschwindigkeit schien sich nicht zu verringern. Von neuem verschwunden, rollte und rollte er in die schwarze Nacht hinein, man wußte nicht wohin.

Was lag schon an den Opfern, die die Lokomotive unterwegs zermalmte! Fuhr sie nicht trotz allem der Zukunft entgegen, unbekümmert um das vergossene Blut? Ohne Führer inmitten der Finsternis, wie ein blindes und taubes Tier, das man in den Tod rennen ließ, rollte und rollte sie dahin, beladen mit jenem Kanonenfutter, jenen Soldaten, die schon stumpfsinnig vor Müdigkeit und betrunken waren und die sangen.

Émile Zola
Das Tier im Menschen