Herbert Rosendorfer: Deutsche Geschichte 6

978-3-485-01310-9Der abschließende Band von Herbert Rosendorfers groß angelegter Deutscher Geschichte. Rosendorfer ist inzwischen 76 Jahre alt, und es ist verständlich, dass er sich weitere Bände nicht mehr zumuten möchte, insbesondere weil die Erzählung, je näher sie an die Gegenwart heranrückt, immer detaillierter und die Recherche dafür immer aufwendiger werden muss. Schon diesem letzten Band merkt man an, dass der Autor sich passagenweise zu sehr auf sein Gedächtnis verlässt, was zu dem einen oder anderen vermeidbaren Fehler führt. Besonders in der einleitenden Übersicht über die Literatur der Jahre zwischen 1750 und 1806 finden sich zahlreiche grobe Patzer: Lenz trug den Vornamen Jakob, nicht Konrad; bei Klingers »Faust« handelt es sich um einen Roman, nicht um ein Theaterstück; Klingers Drama »Sturm und Drang« wurde auf Vorschlag von Christoph Kaufmann so benannt, nicht »von einem Theaterdirektor«; und das Zitat von Lichtenberg lautet richtig:

Er las immer Agamemnon statt »angenommen«, so sehr hatte er den Homer gelesen.

Und nicht, wie Rosendorfer schreibt: »Er las versehentlich immer Agamemnon statt Angenommen, so gebildet war er.« All das findet sich auf nur einer Seite, und der Autor hätte es nachschlagen oder dem Lektor auffallen müssen. Ganz zu schweigen von dem Trauerspiel der Darstellung der deutschen Philosophie der Zeit, der fraglos peinlichsten und dümmsten Passage der Deutschen Geschichte, wenn nicht in Rosendorfers Gesamtwerk überhaupt. Der Leser, der sich sein Bild ungeschmälert erhalten will, sollte das erste Kapitel komplett überschlagen, und die Lektüre mit dem zweiten beginnen.

Die eigentlich historische Darstellung ist getragen von einer in den vorangegangenen Bänden seltenen Bewunderung für wenigsten einen der historischen Protagonisten, Friedrich II. Auch Maria Theresia und Katharina die Große bekommen ihr Teil Lob zugeteilt, aber Rosendorfers Held der Zeit ist eindeutig Friedrich. Rosendorfers Haltung zu Napoleon, der naturgemäß im letzten Drittel des Buches eine bedeutende Rolle spielt, kann als durchaus neutral bezeichnet werden, auch wenn die Erzählung mit der Gründung des Rheinbundes und der Aufhebung des Deutschen Reichs endet. Sicherlich wünschte man sich hier eine ausführlichere Weiterführung der Erzählungen bis zu den Folgen des Wiener Kongresses, aber angesichts der Tatsache, dass es sich bei diesem Band ohnehin schon um den umfangreichsten der Reihe handelt, kann man die Beschränkung verstehen.

Es ist zu bedauern, dass die Serie mit diesem Band endet, denn trotz der hier und früher erhobenen Einwände handelt es sich bei Rosendorfers Deutscher Geschichte um ein Projekt, das in Umfang und Stil in der deutschen Literatur seinesgleichen sucht. Selbstverständlich ist diese Deutsche Geschichte in keinem Sinne vollständig und kann nicht für sich stehen, aber sie bietet dem historischen Laien einen wirklich originellen und spannenden Einstieg und Überblick.

Herbert Rosendorfer: Deutsche Geschichte. Ein Versuch. Friedrich der Große, Maria Theresia und das Ende des Alten Reichs. München: Nymphenburger, 2010. Pappband, 383 Seiten. 22,95 €.

Daniel Schönpflug: Luise von Preußen

Populäre, oberflächlich bleibende Biografie Luises von Preußen als »Königin der Herzen«, wie sie der Untertitel bezeichnet. Der Ausdruck wurde übrigens von August Wilhelm Schlegel in einem Gedicht anlässlich der Berliner Huldigungsfeier für Friedrich III. geprägt. Die Biografie dokumentiert umfangreich die Kleidung der Prinzessin und späteren Königin, auch erfährt man viel über die Inneneinrichtung der von ihr bewohnten Schlösser. Darüber hinaus ist zu lesen, dass Ende des 18. Jahrhunderts »außerhalb der Stadt [Berlin] ländliche Gegenden« lagen (S. 95) und »im Inneren der Stadtmauern […] etwa 170 000 Menschen« lebten (S. 96). Ähnlich überraschend dürfte sein, dass Friedrich Wilhelm II. »eine enge Beziehung mit seiner langjährigen Mätresse« (S. 91) hatte. Überhaupt die Sexualität im 18. Jahrhundert:

Was sich hinter den geschlossenen Türen vollzog, darüber schweigen sich die Quellen aus. Angesichts des Fehlens einer sexuellen Erziehung muss man sich, auch wenn die Prinzen eventuell Erfahrungen mit Mätressen haben konnten, wohl eher ungelenke Versuche vorstellen. Doch erst durch den «Vollzug» galt die Eheschließung als unauflöslich. Abgesehen davon musste sich so bald wie möglich Nachwuchs einstellen, denn das war ja der Hauptzweck der Heirat. Lassen wir also Luise und Friedrich Wilhelm in diesem Moment allein. Ob ihre Hochzeitsnacht schüchtern oder stürmisch, innig oder kühl, albern oder ehrfürchtig war, das kann kein Historiker wissen. Denn auch wenn die Urtriebe des Menschen bleiben, die Masken des Begehrens ändern sich mit den Jahrhunderten. Tatsache ist allerdings, dass kaum zehn Monate nach der Hochzeitsnacht das erste Kind des Kronprinzenpaares zur Welt kam. [S. 85]

Oh goldene Zeiten, in denen sich die Quellen noch ausschwiegen! Und noch andere intime Tätigkeiten gab es:

Auch wenn aufwändige Staatsakte unweigerlich zum Königsein gehörten, war das eigentliche Regieren eine zurückgezogene, ja nahezu geheime Tätigkeit. Selbst Luise dürfte ihren Schwiegervater wohl nie dabei beobachtet haben. Der König hatte keinen dauerhaften Arbeitsplatz, sondern er regierte immer in der Residenz, wo er sich gerade aufhielt. [S. 89]

Man denke: Obwohl der Schwiegerkönig immer in all den Residenzen herumregierte, durfte selbst Luise nie dabei zusehen! Potztausend! Möglicherweise hat sie auch sonst nicht bei allem dabei sein dürfen?

Es ist doch bedauerlich, dass ein Verlag wie C. H. Beck anlässlich des 200. Todestages der Luise von Preußen nichts besseres als diesen Schmonzes auf den Markt zu bringen versteht.

Daniel Schönpflug: Luise von Preußen. Königin der Herzen. München: C. H. Beck, 2010. Leinen, 286 Seiten mit gut 30 Abbildungen. 19,95 €.

Robert Menasse: Permanente Revolution der Begriffe

978-3-518-12592-2 Ein Bändchen mit acht Sonntagsreden Menasses, eine davon über Sonntagsreden. Diese Lektüre hat meine Auseinandersetzung mit Menasse beendet. An einer Stelle heißt es:

Alle wirtschaftlichen Blütezeiten seit den bürgerlichen Revolutionen waren Zeiten, in denen die Politik, nicht zuletzt auch durch gesellschaftlichen Druck, stärker war als »die Wirtschaft«. Alles Elend und alle Menschheitskatastrophen aber geschahen in Zeiten, in denen »die Wirtschaft« der Politik ihre Interessen diktieren konnte.

Si tacuisses, …

Robert Menasse: Permanente Revolution der Begriffe. Edition Suhrkamp 2592. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009. 124 Seiten. 9,– €.

Lutz van Dijk: Geschichte der Juden

978-3-593-38537-2 Eine kurze, für Jugendliche verfasste Geschichte des jüdischen Volkes von den babylonischen Anfängen bis zur Gegenwart. Die Darstellung konzentriert sich in den verschiedenen Epochen immer wieder auf einzelne Figuren, die entweder in erfundenen Monologen oder aber auch mit ihren eigenen Schriften zu Wort kommen. So berichtet einerseits etwa Abrahams Sklavin Hagar davon, wie sie die Mutter Ismaels wurde, oder Aaron erzählt, wie es zum Tanz um das goldene Kalb kam. Andererseits kommen zum Beispiel Anne Frank und Hanna Arendt in Zitaten zu Wort.

Das Buch kann seinen Charakter als Jugendbuch nicht verleugnen, ist aber auch für erwachsene Leser als eine erste, rasche Einführung ins Thema durchaus geeignet.

Lutz van Dijk: Geschichte der Juden. Frankfurt/M.: Campus 32008. Pappband, 213 Seiten. 19,90 €.

Kleine Geschichte der Zeitrechnung …

holford-streven_zeitrechnun … und des Kalenders. Eine kurze, dichte und informative Einführung in das Gebiet von Leofranc Holford-Strevens, einem der beiden Autoren des hervorragenden Oxford Companion to the Year. Behandelt werden alle wichtigen Details der bedeutenden Kalendersysteme von der Antike (inklusive des präkolumbischen Kalenders Mittelamerikas) bis in die Neuzeit; selbst einige afrikanischen Besonderheiten finden Erwähnung. Das Kapitel zur Historie der Osterberechnung ist das ausführlichste und beste, das ich bislang in einer vergleichbaren Veröffentlichung gelesen habe. Ebenso findet man wohl nirgendwo sonst eine so knappe und zugleich detaillierte chronologische Darstellung der Einführung des Gregorianischen Kalenders in Europa.

Für alle, die sich für verschiedene Kalendersysteme interessieren oder mit ihnen im Sinne einer Hilfswissenschaft umgehen müssen, stellt diese Einführung eine kleine und preiswerte Alternative zum Oxford Companion dar, natürlich ohne diesen ersetzen zu können. Aber auf sehr viele Fragen wird man schon hier eine Antwort finden.

Leofranc Holford-Strevens: Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders. Aus dem Englischen übersetzt von Christian Rochow. RUB 18483. Stuttgart: Reclam, 2008. 192 Seiten. € 5,–.

Harry Sidebottom: Der Krieg in der antiken Welt

sidebottom_krieg Eine interessante kleine Studie, wenn mich auch der Titel zuerst ein wenig in die Irre geleitet hat. Das Buch beschäftigt sich mit dem »Krieg in der antiken Welt« selbst eher unsystematisch; in der Hauptsache handelt es vom ideologischen Konzept der »abendländischen Art der Kriegführung«. Dies soll nicht bedeuten, das Buch sei nicht informativ; das Gegenteil ist der Fall. Nur wird die Darstellung der antiken Sachverhalte nicht in einer vermeintlich objektiven und neutralen Art und Weise versucht, sondern sie werden stets durch eine spezifische Interpretation dieser Sachverhalte vermittelt. Diese Interpretationen können sowohl der Antike selbst als auch der neueren Geschichtsschreibung entstammen. Dabei ist Sidebottom nicht kleinlich, was die Art der »Geschichtsschreibung« angeht: An gleich drei Stellen ist Ridley Scotts Film »Gladiator« Auslöser seiner Ausführungen.

Hat man sich einmal auf den ideologiekritischen Ansatz des Autors eingelassen, so liefert das Buch zahlreiche interessante Aspekte des antiken Kriegswesens. Die Mehrzahl der Beispiele entstammt der griechischen und römischen Antike; Perser, Germanen, Gallier etc. kommen nur insoweit vor, als sie Gegner der Griechen oder Römer waren und damit zugleich auch ihr ideologisches Gegenbild darstellten. Behandelt werden sowohl der Krieg als Aspekt der griechischen und römischen Gesellschaften, als Teil ihres Selbstverständnisses, aber auch der konkrete Aufbau der Armeen, ihre Kampftechniken, Probleme der Logistik und der Ökonomie.

Insgesamt eine lesenswerte und anregende Einführung in das Thema mit einem anspruchsvollen Ansatz, die aber die Erwartungen historischer Laien wohl nur teilweise erfüllen wird.

Harry Sidebottom: Der Krieg in der antiken Welt. Aus dem Englischen übersetzt von Florian Himmler. RUB 18484. Stuttgart: Reclam, 2008. 224 Seiten. € 5,60.

Johannes Willms: Napoleon III

willms_napoleon-IIINach der umfangreichen Biografie über den Onkel hat Johannes Willms nun auch dem Neffen und letzten französischen Kaiser eine Biografie gewidmet. Sie ist – fast möchte man sagen glücklicherweise – bei weitem nicht so umfangreich geraten wie der Vorläufer, was aber sowohl dem Gegenstand als auch der Interessenlage deutscher Leser angemessen ist. Willms wirbt für ein gerechteres Bild dieses Mannes, der aus deutscher Sicht oft nur von seinem geschichtlich unglücklichen Ende her als Opfer der Bismarckschen Politik eines deutschen Nationalstaates begriffen wird.

Das Leben Louis-Napoleon Bonapartes ist schon früh von einem Verlangen nach politischem Einfluss und Fortsetzung der Herrschaft seines Onkels geprägt, was der Familienpolitik der Bonapartes entgegensteht, die bestrebt waren, in Ruhe ihre Pfründe zu verzehren. Prägend für die Karriere des späteren Kaisers waren sicherlich die beiden früher, eher phantastischen Versuche eines Staatsstreiches, dessen zweiter ihn immerhin für sechs Jahre ins Gefängnis gebracht hat.

Man muss nach der Lektüre von Willms’ Biografie zugestehen, dass sich Louis-Napoleon in der Folgezeit der Revolution von 1848 als vorausschauender und seinen Konkurrenten überlegener Politiker erwies, der es mit großem Geschick verstanden hat, seine Popularität bei weiten Teilen der Bevölkerung in konkrete politische Macht umzumünzen. Auch sind seine innenpolitischen Erfolge beeindruckend, doch die außenpolitischen Ambitionen erscheinen anfänglich überzogen, später dann teils abenteuerlich, teils naiv angesichts des Standards, den die Bismarcksche Behandlung desselben Terrains setzt. Gerade hier muss man Willms’ Darstellung loben: Die der europäischen Außenpolitik Napoleon III. gewidmeten Teile seiner Biografie sind – angesichts der verwickelten Sachlage – von musterhafter Stringenz und Klarheit. Die internationalen Verwicklungen werden insgesamt deutlicher und strukturierter herausgearbeitet als die innenpolitischen Verhältnisse, denen sich der Kaiser gegenübersah. Sicherlich wird an einigen wenigen Stellen eine unangemessene Antipathie Bismarck gegenüber spürbar, aber das mag bei einer Biografie über Napoleon III. nahezu unvermeidlich sein.

Insgesamt eine sehr gut lesbare, kurze und informative politische Biografie, die das Bild Frankreichs im 19. Jahrhundert um wichtige Aspekte ergänzt.

Johannes Willms: Napoleon III. München: Beck, 2008. Pappband, 311 Seiten. 24,90 €.

Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann

edmons_fischer Das Elend mit diesem Buch beginnt schon beim Titel: Aus dem englischen Bobby Fischer Goes to War (also: »Bobby Fischer zieht in den Krieg«) macht der deutsche Verlag den oben angeschriebenen Titel. Man versucht damit wahrscheinlich, das Buch denjenigen Lesern zu empfehlen, die schon das vorangegangene Opus des Autorenteams David Edmonds und John Eidinow, Wittgenstein’s Poker, gekauft hatten, das bei der DVA den Titel Wie Ludwig Wittgenstein Karl Popper mit dem Feuerhaken drohte trägt. Nun vertreten die beiden Autoren im Buch leider einen Standpunkt, der dem gewählten Titel ausdrücklich widerspricht:

Tatsächlich war der Weltmeisterschaftskampf keineswegs eine Verkörperung des Ost-West-Konfliktes, sondern fiel zeitlich genau in die Hochblüte der Entspannungspolitik. […] Obwohl nahezu alle westlichen Darstellungen des Fischer- Spasski-Kampfes die Ereignisse in weltpolitische Zusammenhänge rücken, sind sie in dieser Hinsicht seltsam irreführend. [S. 358]

Und genau in diese als irreführend bezeichnete Darstellungslinie ordnet der deutsche Titel das Buch ein. Allerdings ist es auch verständlich, dass sich in der Marketing-Abteilung der DVA keiner bereit fand, das Buch bis dorthin zu lesen. Das ist wesentlich auch der Übersetzung zuzuschreiben:

Fischers taktische Meisterleistung gegen Donald Byrne (den Bruder von Robert) wurde umgehend, auch wenn es vielleicht etwas übertrieben war, als die beste Einzelpartie des Jahrhunderts bezeichnet. Sein Spiel war ein beeindruckendes Kunstwerk, vielschichtig und komplex, mit kühner Weitsicht, und es machte in der Schachwelt Furore. Der Internationale Meister Bob Wade meinte, daß die Partie mit dem siebzehnten Zug, bei dem Fischer (Schwarz) einen Läufer zurücknahm, Le6, und den Angriff auf seine Königin übersah, auf eine »unsterbliche Ebene« gehoben wurde. Tatsächlich hatte Fischer keine vernünftige Alternative zu Le6, da jeder andere Zug zu seiner Niederlage geführt hätte, doch die Schnelligkeit, mit der die Stellung seines Gegners danach zusammenbrach, kam für Schachliebhaber trotzdem fast einem Wunder gleich. Schon beim fünfundzwanzigsten Zug war unübersehbar, daß Byrnes Figuren in einer erbärmlichen Unordnung waren. [S. 22 f.]

Mag man diese und ähnliche Stellen noch den Übersetzern zur Last legen wollen (was ist eigentlich so schwierig daran, ein Buch vor der Drucklegung einem Schachspieler mit einem etwas ausgeprägteren Stilgefühl zur Lektüre anzudienen, um wenigstens solch dilettantische Passagen wie die oben zitierte zu vermeiden?), zeigen andere die Inkompetenz und Geschwätzigkeit der Autoren auf:

Bei ihrer Einzelpartie [in Mar del Plata, 1960] spielte Spasski (Weiß) das Königsgambit, eine ungestüme Eröffnung, bei der Weiß einen Bauern opfert, um die Brettmitte zu beherrschen und die wichtigsten Figuren rasch einsetzen zu können. (Die Eröffnung gilt inzwischen als unvorteilhaft: Bei präzisem Spiel von Schwarz gewinnt Weiß praktisch keinen Ausgleich für den Verlust des Bauern.) [S. 29]

In jedem Gambit wird ein Bauer geopfert; das Wort Gambit meint nichts anderes. Und in jeder Eröffnung geht es darum, die Brettmitte zu beherrschen und die Figuren rasch zur Wirkung zu bringen. Und das Königsgambit galt schon damals bei den meisten Schachspielern als riskante Eröffnung, in der Weiß eher auf Ausgleich spekuliert, als ihn sicher zu erreichen. Die Wahl des Königsgambits durch Spasski besagt eher etwas über seine Einschätzung des jungen Fischer, als es eine Aussage über die Qualität der Eröffnung macht.

Die Eröffnung [die Sizilianische Verteidigung], eine Spezialität des Sizilianers Gioacchino Greco, der im siebzehnten Jahrhundert lebte, wird in dem sowjetischen Film Schachfieber aus dem Jahre 1925 erwähnt, bei dem mit José Capablanca ein echter Weltmeister mitspielte. Die Ehe eines Paars droht auseinanderzugehen, weil der Ehemann schachbesessen ist. Schließlich findet das Paar doch noch sein Glück, da die Frau den Zauber des Spiels schätzen lernt. Ihr letzter Satz, unmittelbar vor der Schlußszene, die mit einem Kuß endet, lautet: »Schatz … laß uns die Sizilianische Verteidigung probieren.« [S. 259 f.]

Einmal abgesehen davon, dass dieser Und-das-wissen-wir-auch-noch-Unsinn nahezu die einzige Erläuterung der beiden Autoren zu Fischers meistgespielter Eröffnung darstellt, könnte man wenigstens durch kurzes Nachschlagen in Erfahrung bringen, dass sich Gioachino Greco nur mit einem »c« schrieb und dass die Sizilianische Verteidigung zwar durch Greco benannt, aber schon vor dessen Geburt, spätestens von Giulio Cesare Polerio in die Praxis eingeführt worden war. Außerdem könnte man die kleine Höflichkeit besitzen, den Schachweltmeister von 1921–1927, José Raúl Capablanca, mit seinen beiden Vornamen zu benennen. Was der Rest dieser Passage in dem Buch verloren hat, bleibt völlig unerfindlich. Aber weiter geht’s:

Bei Zug sechzehn [der vierten Partie des WM-Kampfes 1972] brachte Fischer unklugerweise ein Bauernopfer, wonach Spasskis beide Läufer das Brett praktisch in Beschlag nahmen, indem sie die langen Diagonalen kontrollierten. Wenn es dem Weltmeister im komplexen Mittelspiel gelungen wäre, Raum für einen vermeintlich sinnlosen Zug mit seinem Turm zu finden, hätte er Weiß (Fischer) zwingen können, einen Bauern vorzuziehen. Und dieser Bauer hätte anschließend den Fluchtweg blockiert, über den Fischer entkommen konnte. [S. 260]

Leider war es nun aber Spasski, der schon im 13. Zug einen Bauern opferte (der allerdings erst im 16. Zug geschlagen wurde), ein Zug übrigens, der von den Kommentatoren nicht für unklug, sondern für besonders stark gehalten wird, da er, wie auch die beiden Autoren richtig irgendwo abgeschrieben haben, die beiden schwarzen Läufer aktiviert (von denen wiederum nur einer »die lange Diagonale kontrolliert«, während der andere schlicht auf die weiße Königsstellung zielt). Was es mit dem »vermeintlich sinnlosen Zug mit seinem Turm«, für den Spasski angeblich keinen »Raum« hat finden können, auf sich hat, wissen die Götter. Wahrscheinlich ist 29… Td8 gemeint, ein Zug, den Spasski ohne Tempoverlust hätte einschalten können, da Fischer seinen Springer auf d4 mittels 30. c3 hätte verteidigen müssen. Aber auch dabei hat weder die Rede vom mangelnden »Raum« noch vom »blockierten Fluchtweg« einen Sinn.

Wenn man von den zahlreichen sachlichen und sprachlichen Mängeln absieht, ist das Buch eine ganz brauchbare Darstellung der welt- und schachpolitischen Umstände, unter denen der WM-Kampf 1972 in Reykjavík stattgefunden hat. Das Buch macht zum einen deutlich, welche Entwicklungen der WM-Kampf 1972 angestoßen hat, so etwa den Traum von der Vermarktung des Schachspiels im Fernsehen, dem auch heute noch hohe Funktionäre anhängen, oder die Steigerung der Preisfonds, die zu einer ausgeprägten Profi-Elite des Schachs geführt hat. Zum anderen liefert es interessante Einblicke in die Bedingungen, Strukturen und Entscheidungsprozesse auf der sowjetischen Seite, die so detailliert und zugleich kompakt bislang wohl noch nicht zu lesen waren. Dagegen fällt die von den Autoren ausgegrabene Sensation der Entdeckung von Fischers wahrem Vater etwas dünn aus, da der wahre so wenig eine Rolle in Fischers Leben gespielt hat wie der falsche.

Insgesamt ein schlecht geratenes Buch, das durch die Übersetzung keine Aufwertung erfahren hat. Für den echten Fachmann wahrscheinlich weitgehend unerheblich, für den nachgeborenen Schachspieler aber von einigem Interesse, wenn er sich denn entschließen kann, an den Schwächen und Fehlern vorbeizulesen.

David Edmonds / John Eidinow: Wie Bobby Fischer den Kalten Krieg gewann. Die ungewöhnlichste Schachpartie aller Zeiten. Aus dem Englischen von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. München: DVA, 2005. Pappband, 432 Seiten. 22,90 €.

Henryk M. Broder: Hurra, wir kapitulieren!

broder-kapitulieren Henry M. Broder ist zweifellos der bedeutendste deutschsprachige Polemiker unserer Zeit. Das Wort Polemiker hat seinen Ursprung im altgriechischen Wort für Krieg, πóλεμος. Ein Polemiker ist also ein Kriegstreiber, im besten Fall ein Krieger, jedenfalls jemand, dem es darum geht, einen Konflikt durchzukämpfen, nicht ihn beizulegen oder zu vermeiden. Danach muss man Broders Äußerungen bewerten, nicht entlang der Frage, ob er Recht hat, die Wahrheit vertritt, seine Meinung hilfreich ist oder ähnliches.

In diesem Buch geht es um den Konflikt der islamischen Welt mit dem Westen. Broders Aufhänger ist der sogenannte Karikaturen-Streit, den die dänische Zeitung Jyllands-Posten 2005 durch die Veröffentlichung eines Dutzends von Karikaturen auslöste, die sich mit dem Propheten Mohammed beschäftigten. Die Reaktionen in der islamischen Welt waren aufgeregt und heftig, getragen in der Hauptsache von Gläubigen, die selbst das obskure Objekt des Zorns nie gesehen hatten und blind den Ratschlägen ihrer geistlichen Führer folgten. Der Westen reagierte auf diese Inszenierung religiöser Empörung mit einer Welle von Verständnis, aber auch mit einer Diskussion über die Grenzen und den verantwortlichen Umgang mit der Meinungsfreiheit.

Broders Behandlung dieses Falles genügt als Beispiel, um das ganze Buch in seiner Methode und Tendenz darzustellen. Für Broder liegt der Fall ganz einfach: Meinungsfreiheit ist eine westliche Errungenschaft, ein Erfolg der Aufklärung, ein Zeichen der Fortschrittlichkeit unserer Gesellschaft und alles in allem beinahe so etwas wie ein Wert an sich. Dagegen stellt er den Versuch der islamischen Welt, alle Menschen unter ihre Wertordnung zu zwingen und auch solchen Menschen, die durchaus keine Moslems sind, Vorschriften darüber zu machen, wie sie zu leben und was sie zu sagen oder gar denken haben. Nachdem die Welt erst einmal in diese Alternative zerlegt worden ist, fällt die Wahl der richtigen Seite leicht: Der Westen hat Recht, die islamische Welt Unrecht.

Und statt vor den lautstarken Forderungen der Moslems einzuknicken, sollte der Westen seine Wertordnung aktiv – und wahrscheinlich ebenso lautstark – verteidigen, also wahrscheinlich den aufgeregten Moslems mitteilen, sie sollten die Schnauze halten und sich um ihren Dreck kümmern. Es heißt hier »wahrscheinlich«, weil Broders Buch genau in diesem Teil ein wenig dünn ausgefallen ist. Während er nicht maulfaul die öffentliche Reaktion des Westen anprangert, sind bei ihm die Vorschläge alternativen Handelns etwas kurz gekommen. Was alle Welt falsch macht, weiß jeder Stammtisch-Idiot – nicht, dass er es auch so schneidig formulieren könnte wie Broder –, wenn man aber fragt, was denn stattdessen hätte geschehen sollen, so versandet das Repertoire an Vorschlägen rasch im Banalen. Natürlich weiß Broder das, und deshalb versucht er auch nicht einmal ansatzweise, konstruktive Vorschläge zu machen.

Broders Position markiert deutlich die Voraussetzungen des Polemikers: Der pubertäre Glaube daran, dass man im Besitz der Wahrheit ist, ein nicht weniger pubertäres Bewusstsein von der eigenen Bedeutung und eine ausgeprägte Neigung zur Kritik anderer Positionen. Bei Broder kommt – zum Glück – noch das schriftstellerische Talent für scharfe und pointierte Formulierungen hinzu, und fertig ist die Laube.

Nicht, dass man mich falsch versteht: Ich habe das Buch mit Vergnügen gelesen, und ich halte Broders Stil für eine ebenso befruchtende wie notwendige Abgrenzung zu dem journalistischen Sumpf, dem sich ein Leser sonst allenthalben gegenübersieht. Broders Polemiken machen in aller Schärfe deutlich, welch rückgratloses und fatalistisches Gelaber heute die Szene des politischen und gesellschaftlichen Feuilletons beherrscht. Allerdings an und für sich genommen sind sie gänzlich belanglose Aufgeregtheiten, ähnlich relevant wie das Verbrennen einer dänischen Fahne durch eine Horde aufgehetzter Muslims in Riad.

Henryk M. Broder: Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken. Berlin: wjs, 2006. Pappband, 168 Seiten. 16,– €.

Die eine Hälfte des Verfalls

gibbon_printEs ist ein merkwürdiger Torso, den dtv im November 2003 mit seiner neuen, anspruchsvollen Übersetzung des Gibbon dem deutschen Publikum vorgelegt hat: Mit Michael Walter übersetzt einer der profiliertesten und besten Kenner des Englischen des 18. Jahrhunderts das bedeutende Geschichtswerk der vorromantischen Epoche neu und – lässt es zugleich bleiben. Edward Gibbons »Decline and Fall of the Roman Empire« ist im englischsprachigen Raum wahrscheinlich die bis heute meistgelesene umfangreiche geschichtliche Darstellung überhaupt. Das Buch sorgte aufgrund seines distanzierten Blicks auf das frühe Christentum im Römischen Reich schon während seines Erscheinens europaweit für Aufregung, und die ersten Bände wurden bereits vor Abschluss des Gesamtwerks erstmals ins Deutsche übersetzt. Seitdem hat Gibbons monumentale Darstellung immer neue Auflagen sowohl des Gesamtwerks als auch diverser Ausgliederungen erlebt.

Der Text der neuen dtv-Ausgabe umfasst die ersten drei der insgesamt sechs Bände des Originals und endet mit dem Untergang des Weströmischen Reiches. Die nachfolgenden drei Bände, die die Geschichte Ostroms, sprich Byzanz’ bzw. Konstantinopels bis zur Eroberung der Stadt im Jahr 1453 enthalten, fehlen kommentarlos. Es findet sich weder eine herausgeberische Reflexion zu dieser Halbierung noch etwa die Ankündigung einer Fortsetzung oder Vervollständigung der vorgelegten Ausgabe.

Eine weitere Merkwürdigkeit tritt hinzu: Mit Michael Walter zeichnet, wie bereits gesagt, ein profilierter und stilistisch brillanter Übersetzer für den deutschen Text dieser Teil-Ausgabe verantwortlich, wenigstens für einen Teil des Teils. Denn Walter scheint seine Übersetzung nach dem Kapitel XXXII abgebrochen zu haben; alle Fußnoten, die Kapitel XXXIII bis XXXVIII und die den dritten Band des Gesamtwerks abschließenden »General Observations on the Fall of the Roman Empire in the West« sind von Walter Kumpmann übersetzt. Auch diesen Umstand thematisiert die Ausgabe so wenig wie möglich, geschweige denn, dass sie ihn erklärt.

gibbon_fallAls sei dies alles nicht merkwürdig genug, hat sich der Verlag der Digitalen Bibliothek, die normalerweise für umfängliche und möglichst vollständige Ausgaben steht, entschlossen, den Torso des dtv-Verlages unverändert (inklusive der Druckfehler) und ohne Ergänzungen auf einer CD-ROM zu publizieren. Dabei ist das mit den »Ergänzungen« allerdings auch leichter hingeschrieben als getan, denn die letzte einigermaßen vollständige Ausgabe des »Verfalls und Untergangs« stammt vom Anfang des 19. Jahrhunderts und dürfte vermutlich in einem auffälligen stilistischen Kontrast zu Walters Übersetzung stehen. Und die Beigabe des englischen Textes hätte die digitale Ausgabe nicht nur im Preis bedeutend teurer (und damit unverkäuflicher) gemacht, sondern den fragmentarischen Charakter dieser deutschen Ausgabe entweder verdoppelt oder überaus auffällig gemacht, je nachdem ob man nur drei oder alle sechs Bände im Englischen beigegeben hätte.

Sieht man von all diesen Halbheiten einmal ab, so präsentieren die beiden Ausgaben den seit ungefähr 200 Jahren vollständigsten und sicherlich lesbarsten Gibbon in deutscher Sprache. Für den heutigen Leser ist weniger die sachliche Richtigkeit der Darstellung Gibbons en détail entscheidend als vielmehr sein erzählender Stil, sein origineller Blick und sein Humor, denn dies sind die Eigenschaften, die den konstanten Erfolg des Buches über die Jahrzehnte hinweg garantiert haben.

Mit dem ehrwürdigen Prokonsul [Gordian] wurde zugleich sein Sohn, der ihn als Legat nach Africa begleitet hatte, zum Kaiser erklärt. Er war weniger sittenstreng, doch im Wesen ebenso liebenswürdig wie sein Vater. Zweiundzwanzig anerkannte Konkubinen und eine zweiundsechzigtausend Bände umfassende Bibliothek bezeugten die Vielfalt seiner Neigungen, und wie seine Hervorbringungen beweisen, dienten beide Sammlungen mehr dem Gebrauch als zur Prahlerei.

Die Ausgabe wird ergänzt durch zahlreiche Bibliographien, ein Personenregister und einen hervorragenden, knapp 100 Seiten langen Essay von Wilfried Nippel über Gibbon. Zwischen der gedruckten und der digitalen Ausgabe besteht ein Preisunterschied von 48,– € und dies könnte ein Vermarktungsmodell für die Zukunft darstellen: Umfangreiche Werke, die im Taschebuch erscheinen, werden nach einigen Jahren als digitale Ausgaben auf den Markt gebracht, die so zum Taschenbuch des Taschenbuchs werden könnten. Die üblichen Vorteile einer digitalen Ausgabe mit der bewährten Software der Digitalen Bibliothek mit Volltextsuche, Lesezeichen, Notizen und Markierung verstehen sich als Dreingaben inzwischen ja beinahe von selbst.

Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Walter Kumpmann. 6 Bde. dtv, 2003. Kartoniert, 2296 Seiten. 78,– €.

Edward Gibbon: Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Walter Kumpmann. Digitale Bibliothek Band 161. Berlin: Directmedia Publishing, 2007. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 32 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000 oder XP) oder MAC ab MacOS 10.3; 128 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. Empfohlener Verkaufspreis: 30,– €.

Eine Software für Linux-User kann von der Homepage der Digitalen Bibliothek heruntergeladen werden.