Henry James: Daisy Miller

»Sie tat, was sie wollte!«

James Daisy Miller„Daisy Miller“ ist eine der frühen Erzählungen Henry James’, erstmals veröffentlicht im Jahr 1878. Das Original trägt den etwas differenzierteren Titel “Daisy Miller: A Study”, was in dieser Neuausgabe bei dtv auf die schlichte Gattungsbezeichnung „Eine Erzählung“ reduziert wird. Der Geschichte seiner Titelheldin stand James im Alter eher reserviert gegenüber, musste aber hinnehmen, dass sie zu seinen bekanntesten und beliebtesten gehörte.

Interessanterweise ist der eigentliche Protagonist aber der junge US-Amerikaner Frederick Winterbourne, der bereits als Kind nach Europa gekommen ist. Zur Zeit der Erzählung lebt er in Genf, wo er vorgeblich studiert, tatsächlich aber eine Beziehung zu einer älteren Frau pflegt. Daisy Miller lernt er zufällig kennen, als er seine Tante im Kurort Vevey besucht. Sie fällt ihm sofort nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch wegen ihres sehr freien und selbstbewussten Verhaltens auf. Sie lässt sich schon nach kurzer Bekanntschaft mit Winterbourne darauf ein, zusammen mit ihm – und nur mit ihm – das nahegelegene Schloss Chillon zu besichtigen.

Winterbournes Tante reagiert auf seinen Bekanntschaft mit Daisy etwas reserviert, da sie von den Millers gesellschaftlich nicht viel hält. Daisy, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrem viel jüngeren Bruder in Europa unterwegs ist, stammt aus einer Industriellenfamilie, die aber nicht zur High Society der USA zu rechnen ist. Für Winterbournes Tante machen sich diese Leute allein schon deshalb unmöglich, weil sie mit ihrem europäischen Cicerone zusammen essen und überhaupt einen vertrauten Umgang mit ihm pflegen. Daisy lebt in Europa offenbar ein außergewöhnlich freies Leben, da ihre Mutter sich als gänzlich unfähig erweist, der Selbstständigkeit ihrer Tochter irgendwelche Grenzen zu setzen.

Als Winterbourne seinen Besuch in Vevey bereits nach wenigen Tagen beendet, lässt Daisy für einen einzigen Moment durchblicken, dass ihr ironisches und distanziertes Spiel mit Frederick nur eine Farce ist, und sie an dem jungen Mann doch ernsthafter interessiert sein könnte. Sie nötigt ihm jedenfalls das Versprechen ab, sie im Winter in Rom aufzusuchen, was in Fredericks Pläne passt, da auch seine Tante sich dann in Rom aufhalten wird.

Winterbourne trifft etwa acht Monate später erwartungsvoll in Rom ein und hofft eine Daisy vorzufinden, die ihn sehnsüchtig erwartet. Stattdessen amüsiert sich die junge Frau prächtig in der römischen Gesellschaft, pflegt Freundschaften mit italienischen Junggesellen und kümmert sich wenig darum, was die amerikanische Gemeinde in Rom von ihr denkt. Diese Spannung kommt zur Entladung, kurz nachdem Frederick in Rom eingetroffen ist: Daisy wird von einer der Grande Dames der Amerikaner dazu aufgefordert, einen Spaziergang mit ihrem italienischen Freund Giovanelli abzubrechen und zu ihr in die Kutsche zu steigen; als Daisy sich weigert, das zu tun, wird sie bei nächster Gelegenheit öffentlich abgekanzelt und aus der guten Gesellschaft ausgestoßen.

Winterbourne reagiert in einer Mischung aus Enttäuschung, Eifersucht und Unsicherheit ebenfalls abweisend; er versucht zwar noch, Daisy auf den rechten Weg zu führen, gibt sie dann aber letztlich ebenfalls auf. James bringt die Erzählung zu einem recht abrupten Ende, indem er Daisy an der Malaria erkranken und kurz darauf sterben lässt. Am Grab kommt Frederick zur Einsicht, die junge Frau und ihre Handlungen falsch be- und sie daher verurteilt zu haben. Doch allzu tief scheint es ihn nicht getroffen zu haben, denn letztlich kehrt er zu seinem eigenen unmoralische Verhältnis in Genf zurück.

Es ist nicht ganz einfach zu bestimmen, wovon James in diesem Text eigentlich erzählt; es könnte sogar der Verdacht aufkommen, dass er das selbst nicht so ganz genau gewusst hat. Der für James typische Gegensatz zwischen nordamerikanischen und europäischen Sitten bildet nur die Folie für eine Geschichte, in der einen junge Frau von der sie umgebenden Gesellschaft dafür verurteilt und abgestraft wird, dass sie sich Freiheiten herausnimmt, die bei einem US-amerikanischen Mann in Europa selbstverständlich toleriert werden. Dass James das Thema nicht vollständig durchführen konnte, zeigt sich an dem hilfsweisen Tod Daisys, für den zum Teil ihr eigener Starrsinn, zum Teil die Leichtfertigkeit Giovanellis verantwortlich gemacht werden. Daisy scheitert an der Gefährlichkeit der Natur, der sie sich aussetzt, nicht an der Gesellschaft, von der sie verurteilt wurde. Das ermöglicht eine Tragik, für die am Ende keiner wirklich verantwortlich zeichnet, ohne dass das kritische Potenzial der Erzählung damit aufgehoben würde. Wahrscheinlich ist es diese eigentümliche Konstruktion, die zu ihrem dauerhaften Erfolg wesentlich beigetragen hat.

Die Neuübersetzung von Britta Mümmler liest sich gut und ist, soweit ich sie geprüft habe, in der Sache korrekt, nimmt sich für meinen Geschmack aber stilistisch ein wenig zu viele Freiheiten heraus – fehlende oder hinzugefügte Worte, Verwechslung von Subjekt und Objekt und andere Änderung von Satzstrukturen habe ich allein auf den ersten Seiten gefunden; den kastrierten Titel muss man wahrscheinlich dem Verlag und nicht der Übersetzerin anlasten. Wer den englischen Text nicht kennt, wird aber mit dieser deutschen Ausgabe ganz zufrieden sein; die Erläuterungen im Anhang sind gut gesetzt und hilfreich. Alles in allem eine gute deutsche Leseausgabe.

Henry James: Daisy Miller. Aus dem Englischen von Britta Mümmler. Kindle-Edition. München: dtv, 2015. (Druckausgabe: 128 Seiten.) 9,99 €.

Zweimal Buschkowsky

Es wird wohl so sein, dass es klügere Menschen als mich gibt.

Buschkowsky-Neukoelln„Wer ein Buch schreiben will,“ heißt es bei Arno Schmidt, „muß viel zu sagen haben : meistens mehr, als er hat.“ Das gilt umso mehr, wenn einer zwei Bücher schreiben will. Heinz Buschkowsky hat im Nachgang der Aufgeregtheiten um Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2010) mit großem Erfolg ein Buch verfasst, in dem er als Bürgermeister des Berliner Stadtteils Neukölln seine Erfahrungen mit Migranten und der Integration thematisierte: „Neukölln ist überall“ (2012). Angetrieben vom Erfolg dieses Buches und sicherlich auch vom Verlag, der weitere fette Beute witterte, hat er zwei Jahre später einen weiteren Band unter dem Titel Buschkowsky-Gesellschaft„Die andere Gesellschaft“ folgen lassen. Es ist mehr als angemessen diese beiden Bücher in einer Rezension zu besprechen, denn im Wesentlichen sagt das zweite Buch nichts anderes als das erste, es sagt es bloß ein wenig anders und mit anderen Beispielen illustriert. Da sich bereits das Original in Wiederholungen erging, ist man gut beraten, sich das Geld für das zweite Buch (wenn nicht überhaupt für beide) zu sparen, so wie man sich ja auch nicht die zweite Nummer derselben Tageszeitung vom selben Tag kauft. Normalerweise lese ich solche auf ein eher breites Publikum zugeschnittenen, politischen Sachbücher nicht, aber in diesem Fall gab es einen sehr äußerlichen Anlass, mich mit den Büchern zu befassen.

Buschkowsky hat die angenehme Eigenschaft, dass er nicht gegen Einwanderung ist, sie im Gegenteil angesichts der mangelnden Reproduktionsbereitschaft der Deutschen für eine Notwendigkeit hält, um auch zukünftig in Deutschland den Lebensstandard und die Sozialsysteme wenigstens einigermaßen aufrecht zu erhalten. Die Probleme, die Buschkowsky in seinen Büchern schildert, sind also Probleme, die – so sie denn tatsächlich in bedeutendem Umfang bestehen sollten – notwendig durch einen Prozess der Integration gelöst werden müssen, da sie nicht durch eine Isolation Deutschlands gegenüber den Problemgruppen und ihren Herkunftsländern gelöst werden können. Integration oder vielleicht auch nur ein schlichtes Auskommen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen – Buschkowsky möchte gern von Parallelgesellschaften sprechen, weil das die Sache dramatischer klingen lässt – miteinander ist also eine wichtige Voraussetzung für das zukünftige Funktionieren Deutschlands.

Buschkowsky ist auch alles andere als ein Panikmacher: Er kennt und benennt Beispiele gelungener Integration, bestreitet auch nicht, dass diese gar nicht so selten sind wie Xenophobe das gern hätten, sondern meint eben nur, so solle es immer gehen. Als Bürgermeister von Neukölln aber hatte er in der Hauptsache mit den eher schwierigen oder auch nicht gelingenden Fällen von Integration zu tun. Dabei liegt das Hauptgewicht seiner Darstellung auf Konflikten mit muslimischen Zuwanderern, einerseits türkischer, andererseits arabischer Herkunft. An dieser Stelle beginnen für den intelligenteren Leser nun die Schwierigkeiten: Buschkowskys Denken neigt sehr zur Vereinfachung komplexer Sachverhalte, zu pauschalisierenden Schwarzweiß-Malereien und geradlinigen Schuldzuweisungen. Verantwortlich für den Großteil der Schwierigkeiten, die die deutsche, bürgerliche Gesellschaft mit den muslimischen Migranten hat, ist eine Gruppe, die bei Buschkowsky Unterschicht heißt. Diese muslimische Unterschicht (ob es auch eine christliche Unterschicht gibt, erfahren wir nicht explizit, es wird aber auch nicht ausgeschlossen) zeichnet sich im Wesentlichen durch folgende Eigenschaften aus: Hartz-IV-Bezug (deshalb auch immer kinderreich), trotzdem in umfangreichem Besitz teurer Konsumgüter (Autos, Unterhaltungselektronik), bildungsfern, unzureichend Deutsch sprechend, desinteressiert an der Schulkarriere der eigenen Kinder, patriarchalisch organisiert, Frauen und Kinder schlagend, friedliche, besonders ältere Bürger verschreckend, die Polizei missachtend und einer archaischen Religion (Islam) und barbarischen Traditionen (Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Kriminalität und Bezug von Sozialleistungen) anhängend, um nur die schlimmsten zu nennen. Buschkowsky gibt sofort zu, dass nicht alle Muslime so sind, auch dass es „biodeutsche“ (das ist inklusive der Anführungszeichen der von ihm verwendete Terminus) Mitglieder der Unterschicht gibt, auf die einiges aus dem oben angeführten Katalog zutrifft, aber im Großen und Ganzen stimmt es eben doch.

Zum Glück gibt es ein Rezept gegen diese Unterschicht: verpflichtenden Ganztagesunterricht ab dem Kindergartenalter! Zwar sind die Schulen bereits jetzt mit den Kindern der Unterschicht überfordert, aber wenn man nur den Einfluss der religiösen, mittelalterlichen und gewalttätigen Unterschicht-Väter, die zwar ihre Kinder gern schlagen, sich aber sonst nicht weiter um sie kümmern, reduzieren kann, wird bald alles gut werden. Für die, bei denen das dennoch nicht klappt, verschärft man das Jugendstrafrecht, um Schulschwänzern und Serientätern konsequent zu zeigen, was sie sich in einer freiheitlichen Gesellschaft einhandeln, wenn sie nicht so wollen, wie es ihnen die Erfinder und Bewahrer der herrlichen Freiheit vorschreiben.

An zwei Stellen steht Buschkowsky gefährlich nah vor einer wirklichen Einsicht, kann aber den letzten Schritt glücklich vermeiden: Zum einen stellt er verwundert fest, dass in Glasgow Muslime und Nicht-muslime ganz entspannt nebeneinander leben; auch erwähnt er den Umstand, dass es dort eine sehr lange Tradition des Zusammenlebens gibt, zieht aber keine weiteren Schlüsse daraus. Noch einmal begegnet ihm das Phänomen in gewandelter Form, als er über die Italiener in Deutschland nachdenkt:

Ein Phänomen sind die Italiener. Sie gelten in der soziologischen Forschung und Integrationsbetrachtung als eine recht schlecht integrierte Volksgruppe. Auch italienischen Eltern sagt man nach, dass sie über die gleichen erzieherischen Unarten verfügen wie problembeladene türkisch- oder arabischstämmige Eltern. Sie kümmern sich nur nachlässig um ihre Kinder, insbesondere wenn es um die Schule geht. Sie gelten als bildungsfern und haben auch Probleme mit der Berufsqualifikation. Trotzdem ist die italienische Bevölkerung [er meint den italienischstämmigen Teil der deutschen Bevölkerung], pauschal betrachtet, durchaus beliebt. Man sieht ihnen fast alles nach, denn »Italiener sind halt so«.

Dies ist die Stelle, wo man den Kopf einschalten müsste, und sich zum Beispiel zu fragen, ob das immer schon so war. (Als Kind aus einer italienisch-deutschen Partnerschaft kann ich versichern, dass das nicht immer so war.) Und man könnte versuchen herauszufinden, wie sich das Bild der Italiener in Deutschland seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gewandelt hat und wie und wann ihre Stellung als gesellschaftliche Parias auf die Türken übergegangen ist. Stattdessen liefert Buschkowsky folgende Erklärung:

Irgendwie [sic!] muss die Schönheit des Heimatlandes und die Urlaubstradition ein Höchstmaß an Empathie bewirken. So betrachtet, macht das für die Türkischstämmigen Hoffnung.

Wenn nur die Türkei ein bisserl schöner wäre …

Ich will es dabei belassen – es ist ohnehin schon zu lang geworden – und nicht noch die Begrifflichkeit Buschkowskys im einzelnen betrachten und fragen, was denn zum Beispiel „bildungsfern“ genau bedeuten soll. Ist einer schon bildungsfern, der einen Satz wie diesen schreibt:

Die Chinesen sagen nicht umsonst: »Du kannst nicht Diener zweier Herren sein.«

Aus meiner Sicht ist das ziemlich bildungsfern, aber wer bin ich, so etwas zu beurteilen.

Zwei sehr redundante Bücher voller oberflächlicher Urteile, Schwarzweiß-Zeichnungen, harscher Rhetorik, schiefer Analysen und mangelnder Selbstreflexion. Heinz Buschkowsky ist mit seinen Büchern nicht auf dem Weg zu einer Lösung, er ist selbst ein Teil der Integrationsproblematik dieses Landes.

Heinz Buschkowsky: Neukölln ist überall. Berlin: Ullstein, 92012. Pappband, 399 Seiten. 19,99 €.

Ders.: Die andere Gesellschaft. Berlin: Ullstein, 2014. Pappband, 302 Seiten. 19,99 €.

Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch

Trojanow-MenschDas Einreise-Verbot der USA für Ilija Trojanow, der wohl zu einem Germanisten-Kongress unterwegs war, ist ein schöner Anlass, sein gerade erschienenes Buch zu lesen. Trojanow ist einer jener jüngst so vehement angeforderten kritischen Schriftsteller, die sich mit dem jeweils rezenten gesellschaftlichen und politischen Elend auseinandersetzen. Bei Trojanow ist der Kern des derzeitigen Übels – wenig originell – der Kapitalismus, wobei der Begriff bei ihm wie fast überall sonst, wo er gebraucht wird, gleich zweifach mangelhaft bleibt: Weder wird an irgendeiner Stelle des Büchleins auch nur ansatzweise versucht zu definieren, was denn Kapitalismus sein soll, noch wird uns an irgendeiner Stelle eine moderne, praktikable Form des Wirtschaftens vorgestellt, die – und sei es auch nur in der Theorie – nichtkapitalistisch funktioniert. Offenbar ist solche Genauigkeit unter den Teilnehmern des großen kritischen Stammtischs unnötig: Alle wissen ohnehin Bescheid darüber, was genau Kapitalismus ist und wie er funktioniert.

Natürlich sieht sich jeder Gutwillige genötigt, Trojanows Einsichten ins Elend zuzustimmen: Die Folgen des Kapitalismus sind für einen zunehmend größer werdenden Anteil der Menschheit höchst nachteilig: Hartz-IV-Empfängern und jenen, die in der sogenannten Dritten Welt auf den Müllkippen um ihr Überleben kämpfen, geht es schlecht – vielleicht nicht gleich schlecht, aber es könnte hier wie dort besser sein. Dies liegt offensichtlich an der ungerechten Verteilung des vorhandenen Geldes (Trojanow spricht zwar von Reichtum oder Vermögen, meint am Ende aber faktisch nur Geld, nicht Kapital) sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Abgesehen von Feinheiten geht es jenen schlecht, die wenig Geld haben, und jenen gut, die über viel davon verfügen. Unter denen, denen es schlecht geht, geht es vielen noch schlechter als anderen; unter denen, denen es gut geht, geht es einigen wenigen so gut, dass es leider nicht mehr besser gehen kann. Einige von denen, denen es gut geht, meinen nun, dass man eigentliche keine Leute braucht, denen es schlecht geht, und man auf solche Leute auch gut verzichten könnte. Der einfachste Weg, auf diese Leute zu verzichten, ist, sie abzuschaffen. Solche Leute plädieren  in einem „erstaunlichen posthumanitären Cocktail aus neomalthusianischen und fundamentalistisch sozialdarwinistischen Positionen“ für eine Reduktion der Weltbevölkerung. Soweit die Analyse.

Als Prognose sagt Trojanow – ganz entlang der Linie der Marxschen (der natürlich an keiner Stelle auch nur erwähnt wird!) Akkumulations- und Verelendungstheorie – eine Zunahme des revolutionären Potenzials voraus. Was das Ziel der angeblich heraufdämmernden Revolution angeht, redet er sich mit einem Zitat von Georgi Konstantinow heraus: „In einem solchen revolutionären Moment ist es unmöglich, die Richtung der Veränderung vorherzusagen.“ Trojanow lässt dem noch eine etwas flach geratene Betrachtung über die modischen apokalyptischen Phantasien Hollywoods folgen, um sich abschließend unter der Überschrift „Auswege“ zu folgender Forderung aufzuschwingen:

Wir müssen uns unverzagt vorstellen, wie eine bessere Gesellschaft und ein tatsächlich gerechtes und nachhaltiges Wirtschaften aussehen können. Wir benötigen utopische Entwürfe, wir brauchen Träume, wir müssen Verwegenes atmen. [Hervorhebungen nicht im Original.]

Dies ist die konzise Zusammenfassung des momentanen Elends der Gesellschaftskritik: Die einzige wenigstens halbwegs ordentliche politische Utopie der Verteilungsgerechtigkeit, zu der sich die Moderne hat verdichten können, ist nicht nur 150 Jahre alt, sie ist auch durch einen nach ihr benannten praktischen Versuch derartig desavouiert worden, dass man den Namen ihres Begründers heute besser nicht einmal erwähnen sollte, um sich nicht sogleich dem Spott der politischen Kleingeister auszusetzen. Eine andere theoretisch fundierte und mit Blick auf eine menschliche Praxis ausgearbeitete Utopie für eine gerechte oder auch nur gerechtere Gesellschaft fehlt.

Ich könnte nun darauf hinweisen, dass all dies nur dann tatsächlich ausreichend durchdrungen werden kann, wenn man sich auf die Kantische Einsicht besinnt, dass beinah alles philosophische Fragen letztlich in die Frage „Was ist der Mensch?“ mündet. Eine Frage, deren Antwort tatsächlich so unausdenklich ist, dass jeder, der eine Antwort auch nur versucht, sich allein deshalb schon dem Verdacht aussetzt, Unrecht zu haben. Und ich könnte darauf hinweisen, dass der andere, fast ebenso radikale Utopist des 19. Jahrhunderts uns heftig auf die Einsicht hingestoßen hat, dass der Mensch ein halbgares Zwischenprodukt darstellt, ein Wesen, das zwar die Idee der Gerechtigkeit erfassen kann, zu ihrer Realisierung wenigstens im Großen aber noch gänzlich unfähig zu sein scheint. Und schließlich kann es kein gutes Zeichen sein, dass wir – vielleicht mit der Ausnahme von John Rawls – in unserer Diskussion des Elends, in dem wir uns vorgefunden haben, immer noch nicht wesentlich über das 19. Jahrhundert hinausgekommen sind.

Angesichts dieser desolaten Lage ist es schon fast wieder tröstlich, dass Trojanows Kritik mit einem Lob der Vita contemplativa – im Sinne des Aristoteles, nicht Benedikts – ausklingt:

Selten halten wir inne, nehmen Auszeit von einem rasanten Alltag aus Pflicht und Unterhaltung, sitzen am Ufer oder schwingen auf der Schaukel, der Kontemplation zugetan oder einfach nur dem Nichtstun.

Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch. St. Pölten u. a.: Residenz, 2013. Kindle-Edition, 324 KB, 96 Seiten (gedruckte Ausgabe). 9,99 €.

Colin Crouch: Postdemokratie

Die Demokratie hat einfach nicht mit dem Tempo des sich globalisierenden Kapitalismus Schritt halten können.

978-3-518-12540-3Crouchs Schlagwort von der Postdemokratie wird gerade verstärkt genutzt, was Anlass war, mir den zugehörigen theoretischen Ansatz anzuschauen. Crouch geht von einem Lebenszyklus einer Demokratie aus, der einer nach unten offenen Parabel gleicht. Die westlichen demokratischen Gesellschaften hätten den Höhepunkt dieser Parabel bereits seit langem überschritten und näherten sich daher wieder un- bzw. vordemokratischen Verhältnissen, ohne zu diesen tatsächlich vollständig zurückzukehren. Der Durchgang durch die wahrhaft demokratische Phase hinterlasse untilgbare Spuren, die in der Phase des Verfalls scheindemokratische Strukturen erzeugen, die den Mangel an wirklicher Demokratie überdecken.

Nach Crouchs Auffassung sind die postdemokratischen Verhältnisse dadurch geprägt, dass globale Wirtschaftsunternehmen einen immer stärkeren Einfluss auf die Politik gewinnen, nicht nur in dem Sinne, dass sie durch Lobbyarbeit der Politik ihre Ziele vorgeben können, sondern auch in dem, dass Politik sich Strukturen, Methoden und Arbeitsweisen des industriellen Bereichs aneignet und ursprünglich originär politische oder administrative Aufgaben in den privatwirtschaftlichen Bereich auslagert. Dies gehe einher mit einem wachsenden Desinteresse eines Großteils der Bürger an Politik, was sich in schwindenden Mitgliederzahlen der Parteien niederschlage. Außerdem sei eine fortschreitende Entmachtung der Gewerkschaften festzustellen, so dass der reale Einfluss der breiten Masse der Bevölkerung auf die Politik immer weiter zurückgehe. Die Parteien wiederum unterschieden sich programmatisch immer weniger und setzten in ihren Wahlkämpfen auf eine stärkere Personalisierung. Das Beispiel der Forza Italia, die in ihren Anfängen über die Person ihres Parteiführers Berlusconi hinaus kein weiteres konkretes politisches Programm aufgewiesen und zudem eine erfolgreiche Verbindung von Medienmacht und Parteiarbeit demonstriert habe, stellt für Crouch eine typische Erscheinung postdemokratischer Verhältnisse dar. Crouch setzt an mehreren Stellen als den Umschlagspunkt zwischen demokratischen und postdemokratischen Verhältnissen die Mitte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts an.

Ganz unabhängig davon, für wie einleuchtend oder zutreffend man Crouchs Analysen hält, ist das eigentlich Interessante an diesem Buch, dass es sehr prägnant die politische Position eines Sozialisten in postkommunistischer Zeit darstellt. Da Crouch ein vertretbares gesellschaftliches Ideal abhanden gekommen ist, setzt er auf einen relativ vagen Begriff wie Demokratie und identifiziert ihn mit all dem, was er gesellschaftspolitisch für erstrebenswert hält: starke Macht der Gewerkschaften, eine von der globalen Wirtschaft unabhängige politische Ebene, den aufgeklärten, mündigen Bürger, der sich in Parteien und gesellschaftlich engagiert. Ohne nachzuweisen, dass solche Verhältnisse jemals tatsächlich irgendwo existiert haben, wird aus ihrem Nichtvorhandensein eine gesellschaftliche und politische Entwicklung konstruiert, aus der sich ein dringender Handlungsbedarf ableiten lässt. Denn natürlich hat Crouch wenn schon keine Lösung, doch zumindest einen Ausweg aus dem Desaster der Gegenwart (was allerdings sein Modell vom parabelförmigen Lebenszyklus der Demokratie etwas konterkariert): Aktive Bürgerbeteiligung auf zahlreichen politischen Ebenen (so etwa der – Entschuldigung! – schwachsinnige Vorschlag, eine Kommission zufällig ausgewählter Bürger solle einen Monat lang Gesetzentwürfe diskutieren und anschließend rechtskräftig verabschieden) und eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den jetzigen demokratischen Parteien und Institutionen und den rezenten Protestbewegungen. Natürlich verrät uns Crouch nicht, wie dies angesichts des von ihm diagnostizierten postdemokratischen Desinteresses der Bürger an der Politik und der grundlegenden Verflechtung von Wirtschaft und Politik realisiert werden soll.

Als Analyse der derzeitigen politischen Verhältnisse etwas grobschlächtig, aber durchaus anregend. In seinem kritischen Potenzial letztlich naiv und nicht ernst zu nehmen.

Colin Crouch: Postdemokratie. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. edition suhrkamp 2540. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2008. Broschiert, 160 Seiten. 10,– €.

Ilija Trojanow / Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit

978-3-446-23418-5Breit angelegter Essay über den Rückgang bürgerlicher Freiheit seit dem 11. September 2001. Der Darstellung ist in allen wesentlichen Punkten nur zuzustimmen. Wie so oft haben es die konservativen Kräfte in den westlichen Gesellschaften verstanden, eine äußere – um nicht zu schreiben »äußerliche« – Bedrohung dazu zu benutzen, den Zugriff der abstrakten und konkreten Gewalt des Staates auf seine Subjekte auszubauen. Einerseits muss man den Autoren für den gut lesbaren Überblick über die Veränderungen des letzten knappen Jahrzehnts dankbar sein, andererseits zeigen die Veröffentlichung und der Erfolg des Buches, dass es noch viel schlimmer ist, als sie annehmen. Die Durchdringung unserer Gesellschaft durch die Kontrollorgane ist soweit gediehen, dass auch eine offene Kritik an diesem Zustand ihn nicht mehr gefährden kann. Einmal mehr ist eine Gesellschaftsordnung an einem Punkt angelangt, an dem sich politische Freiheit und Unfreiheit auch mit bewaffnetem Auge kaum mehr voneinander unterscheiden lassen.

Ilija Trojanow / Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau der bürgerlichen Rechte. München: Hanser, 22009. Broschiert, 173 Seiten. 14,90 €.