Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler

Nicolas Mahler hat sich sehr rasch einen Namen damit gemacht, anspruchsvolle literarische Texte auf originelle Weise in sogenannte Graphic Novels zu verwandeln. So auch hier bei Arno Schmidts „Schwarze Spiegel“. Der Roman ist so etwas wie das Tagebuch eines namenlosen Ich-Erzählers, der sich nach einem vernichtenden Atomkrieg als vermeintlich letzter Mensch in Europa in der Lüneburger Heide niederlässt. Statt in eines der verlassenen Häuser einzuziehen, baut er sich lieber eine Hütte im Wald – das Warum dafür ist vielfältig und braucht hier nicht erläutert zu werden; interessant ist aber, dass Mahler gerade diesen Aspekt des Romans unterschlägt –, fährt mit seinem Fahrrad nach Hamburg, um dort Bilder für sein Heim aus der Kunsthalle zu entwenden und sich auch in den dortigen Antiquariaten zu bedienen, und richtet sich so in einer menschenleeren Welt auf seine restlichen Tage ein. Es weist sich, dass er natürlich nicht der letzte Mensch ist, sondern sich noch eine Frau einfindet. Nachdem man vorsichtigerweise erst einmal aufeinander geschossen hat, einigt man sich auf einen Waffenstillstand, der dann kräftig ausgekostet wird. Mehr muss hier gar nicht verraten werden.

Mahlers Version der „Schwarzen Spiegel“ ist sehr anspielungsreich: Bei ihm ist es offenbar der Autor Schmidt selbst, der durch das atomwüste Deutschland radelt; in seinen Träumen spiegeln sich andere seiner Werke wider, die auch in wörtlichen Zitaten hier und da präsent sind. Auch Zeichnungen von Schmidt selbst und von Künstlern, die er schätzte, sind in die Verzeichnung des Romans eingegangen. Herausgekommen ist ein sehr unterhaltsames Werk, das sowohl dem Kenner als auch dem Greenhorn in Sachen Schmidt einiges Vergnügen bereiten kann. Sehr empfehlenswert, auch als Geschenkbuch!

Arno Schmidt in Schwarze Spiegel gezeichnet von Mahler. Bibliothek Suhrkamp 1528. Berlin: Suhrkamp, 2021. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 191 Seiten. 24,– €.

Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian

Alle lügen sie, Alle, nach ihrer Art! Ich auch! aber nicht so dumm wie die Anderen alle!

Mit diesem Buch beginnt der Wallstein-Verlag eine neue, kritische Wilhelm-Raabe-Ausgabe, ein weiteres erstaunliches Unternehmen dieses Verlages, denn die Präsenz Raabes in unserer föjetonistischen Kultur dürfte mit „eher dürftig“ noch sehr freundlich beschrieben sein. Angekündigt ist für den kommenden Februar noch der Band „Der Lar“ (1889); wie sich die Sache danach entwickeln wird, müssen wir abwarten und hängt sicherlich auch davon ab, wie erfolgreich der Einstieg gerät. Ein Editionsplan ist wenigstens im Moment auf der Webseite des Verlages noch nicht zu finden.

„Fabian und Sebastian“ stammt vom Anfang der 1880er-Jahre und war keiner der großen Erfolge Raabes, der von seiner Schriftstellerei lebte und daher auf den Zuspruch des Lesepublikums angewiesen war. Erzählt wird die Geschichte dreier Brüder, von den allerdings der jüngste, Lorenz, zu Beginn der Erzählung gerade auf Sumatra im nierderländischen Militärdienst verstorben ist und eine nun verwaiste, 15-jährige Tochter hinterlassen hat, die gerade auf dem Weg nach Europa ist, um bei ihren Onkeln zu leben. Fabian und Sebastian sind Besitzer einer erfolgreichen Konfitüren- und Schokoladenfabrik, wobei Sebastian der Geschäftsführer ist, während sich Fabian um die künstlerische Gestaltung der Ware kümmert. Beide Brüder sind unverheiratet und wohnen auf dem Fabrikgelände, aber in getrennten Wohnung und haben wenig Kontakt miteinander. Sebastian möchte seine neue Nichte Constanze in einer Pension für jungen Mädchen unterbringen, nicht nur, um sie aus dem Haus zu haben, sondern auch um das Problem der Erziehung des Mädchens auf einfachem Weg zu lösen. Fabian dagegen hat zusammen mit seinem philosophischen Faktotum Knövenagel bereits ein Zimmer für sie eingerichtet und reist nach Marseille, um Constanze dort vom Schiff abzuholen.

Nach der Rückkehr in die Heimatstadt passiert erstaunlich wenig: Weder wird die Beziehung zwischen den beiden Brüdern enger, noch erweitert sich das doch sehr beschränkte soziale Umfeld Fabians durch Constanzes Einfluss. Das Mädchen lebt in der Stadt im eingezogenen Zirkel Fabians; als Gegenwelt dient das ländliche Schielau, in dem Constanze einige glückliche Sommerwochen bei dem mit Fabian eng befreundeten Amtmann und seiner Frau durchlebt. Fabian selbst gerät durch die Ankunft des Mädchens in eine künstlerische Krise, die sich auf die saisonale Vorbereitung der Schokoladenfabrikation für das nächste Weihnachtsgeschäft auswirkt.

Ebenso gerät Sebastian in eine zuerst eher unbestimmtere psychische Krise, die offensichtlich mit der unterdrückten Vorgeschichte der drei Brüder zu tun hat, die von Beginn an in Andeutungen die Erzählungen durchwirkt. Ich will hier nicht zu viel verraten, aber auch in dieser Vorgeschichte gibt es eine Tochter, die auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, weshalb ihre Mutter seit beinahe zwanzig Jahren im städtischen Gefängnis sitzt. Diese Geschichte tritt erst peu à peu zutage, so wie sie in immer neuen Teilen Constanze erzählt wird.

Den Abschluss der Erzählung bildet eine bitter-süße Auflösung der Spannungen, die zwischen den Brüdern und dem anderen, unterdrückten Teil dieser Familie bestehen. Es kann nicht ohne Tragik abgehen, aber Constanze bewehrt sich hier als gute Wilde auf das Beste. Es wird zwar nicht alles gut, aber doch besser. All das wird in einer absichtlich umständlichen und etwas redundanten Sprache erzählt, wobei die Geschlossenheit der präsentierten kleinen Welt nur einer oberflächlichen Betrachtung standhält.

Der Band ist eine Gelegenheit, Raabe als komplexen und originellen Erzähler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennenzulernen. Er ist ein Beispiel für die Neigung des sogenannten literarischen Realismus, auf den ersten Blick eher schlichte Erzählungen mit zahlreichen Bedeutungs-Ebenen zu unterfüttern, ohne damit die Rezeption eines breiteren Lesepublikums zu stören.

Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian. Eine Erzählung. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2023. Pappband, Fadenheftung, 288 Seiten. 26,– €.

Heinrich Seidel: Leberecht Hühnchen

Als mein Freund Bornemann einmal gefragt wurde, welcher Vogel den größten poetischen Reiz auf ihn ausübe, antwortete er ohne Zögern: „Die Bratgans.“

Heinrich Seidel (1842–1906) ist ein beinahe ganz vergessener, erfolgreicher Un­ter­hal­tungs­schrift­stel­ler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sein Leberecht Hühnchen hat es – zumindest in meiner Familie, aber ich glaube wohl auch darüber hinaus – zur Sprich­wört­lich­keit gebracht für das kleinbürgerlich-idyllische Glück im kleinen Winkel. Nun steht eine kleine Seidel-Auswahl („Gesammelte Werke“ in fünf Bänden; es werden ungefähr 2500 Seiten sein) seit vielen Jahren ungelesen in meinem Bücherschrank, und als neulich ein Getwitter auf den Hans Dampf in allen Gassen von Zschokke kam, fiel mir auch gleich mein ungelesenes Hühnchen wieder ein.

Seidel war von Haus aus Ingenieur – er ist der Vater des vielzitierten „Dem Ingenieur ist nichts zu schwer“ – und gehörte auch, neben dem später viel berühmteren Theodor Fontane, zu den Mitgliedern des Tunnels über der Spree. Neben der Dichterei, die er durchaus mit finanziellem Erfolg betrieb, war er ein Vereinsmensch und Hobbygärtner mit Hang zu exotischen Blumen. Stilistisch steht er ganz anspruchslos in den Traditionslinien Jean Pauls, Hoffmanns, Fritz Reuters und wohl auch in denen Kellers und Storms, ohne deren Ernst und Hintergründigkeit je erreichen zu wollen. Er selbst wird sich wohl als Realist begriffen haben, doch steht er eher einer seichten Pseudo-Romantik nahe, die viele Romantiker wahrscheinlich mit einiger Verachtung betrachtet hätten.

Sein Leberecht Hühnchen ist von Beginn an Held einer lockeren Reihe anekdotischer Erzählungen, in denen es immer um Lebensfreude, Menschlichkeit und das Glück der kleinen Existenz geht. Das alles geht ganz leicht von der Hand und ist – bei aller gewollten Naivität; der Name Leberecht ist natürlich alles andere als ein Zufall – niemals in Gefahr, ins Kitschige abzurutschen. Der Ich-Erzähler ist ein Studienfreund Hühnchens, der diesen nach einigen Jahren zufällig in Berlin wiedertrifft. Hühnchen hat inzwischen eine kleine Familie mit seiner leicht behinderten, aber herzensguten Ehefrau, zwei immer entzückende Kinder und den rechten Lebenssinn: sich stets gutgelaunt nie vom Geschick einschüchtern zu lassen. Die Figur war sofort beliebt, und Seidel hat der ersten Erzählung noch zahlreiche, ganz ähnlich gestrickte nachfolgen lassen.

Wie schon gesagt: Das ganze ist die Art von Unterhaltungsliteratur, wie sie zu dieser Zeit die Familienblätter füllte, aber sie ist gut geschrieben und auch heute noch vergnüglich zu lesen, wenn man Maß hält und nicht zu viel auf einmal zu sich nimmt. Das eine oder andere gibt es auch aktuell noch im Druck; eine üppige Auswahl aber findet sich für kleines Geld in An­ti­qua­ria­ten oder eBooks.

Heinrich Seidel: Leberecht Hühnchen. In: Gesammelte Werke. Neue wohlfeile Ausgabe in 5 Bänden. Band I. Stuttgart: Cotta u. Berlin: Klemm, o. J. (ca. 1925). Bedruckter Leinenband, Fadenheftung. 266 (von 524) Seiten.

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel

Des Menschen Leben : das heißt vierzig Jahre Haken schlagen. Und wenn es hoch kommt (oft kommt es einem hoch ! !) sind es fünfundvierzig; und wenn es köstlich gewesen ist, dann war nur fünfzehn Jahre Krieg und bloß dreimal Inflation.

Auf den ersten Blick ist Arno Schmidts erster Zukunftsroman ein Musterbeispiel für einen 100-Seiter. Doch könnte man Bedenken erheben: Zum einen hat Schmidt von seinem Roman »Das steinerne Herz« behauptet, er sei aufgrund der »Dehydrierung« des Textes eigentlich »ein Roman von 1200 Seiten« (was bei knapp 300 Druckseiten immerhin einem Faktor größer 4 entspricht), eine Rechnung, die man getrost auch für »Schwarze Spiegel« aufmachen kann. Zum anderen könnte die Zugehörigkeit von »Schwarze Spiegel« zur Trilogie »Nobodaddy’s Kinder« zur Annahme verleiten, dass auch dieses Buch wie die beiden anderen einen dritten Teil haben müsste.

Doch halten wir uns ans Augenscheinliche: Erzählt werden die Erlebnisse des beinahe letzten Menschen, nachdem der atomare Dritte Weltkrieg Mitte der 50-er Jahre die Welt zerstört hat. Fünf Jahre nach der Katastrophe kommt der namenlose Ich-Erzähler nach Cordingen in der Lüneburger Heide und beschließt, dort eine Hütte im Wald zu bauen. Holz liefert ein nahegelegenes Sägewerk, Vorräte ein englisches Armeedepot. Über Bau und Ausstattung der Hütte vergeht der Sommer. Der zweite Teil setzt zwei Jahre später ein, als sich zum Erzähler die letzte Frau gesellt: Lisa. Die beiden verbringen einige Wochen miteinander, doch dann bricht Lisa wieder auf, da sie die Sesshaftigkeit nicht aushält. Ein dritter Teil fehlt, wie gesagt: Lisa kehrt nicht zurück, die Menschheit wird nicht fortgesetzt.

Diese idyllische Dystopie mit Anklängen an »Robinson Crusoe« und Coopers »Lederstrumpf« bietet einen hervorragenden Einstieg in Schmidts erzählerisches Frühwerk.

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel. In: Brand’s Haide. Zwei Erzählungen. Reinbek: Rowohlt, 1951. Leinen, Fadenheftung, Schutzumschlag mit Zeichnung des Autors, 260 Seiten.

(Geschrieben für die Reihe 100 Seiten beim Umblätterer.)