Wie ich einmal zum Leser Arno Schmidts wurde – ein Schul-Aufsätzchen

Um ausnahmsweise auch einmal der Faszination des Datum zu huldigen und weil ich gerade durch Zufall nach langer Zeit wieder einmal an Hugo von Hofmannsthal vorbeigekommen bin, sei hier die Anekdote erzählt, wie ich zum Leser Arno Schmidts geworden bin. Später erzähle ich vielleicht auch einmal, wie ich darüber hinweg gekommen bin, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein ander Mal … Sorry.

Aufgrund einer langen und bis heute anhaltenden Krankengeschichte habe ich eine sehr krumme Schulkarriere hinter mich gebracht. Nach den Sommerferien 1979 kehrte ich ans Gymnasium zurück und besuchte in Solingen die Oberstufe, nachdem ich zuvor einen sogenannten qualifizierten Abschluss der Realschule erworben hatte. Damals kamen die „Absolventen“, also jene, die wie ich zum Upgrade des Schulabschlusses berechtigt waren, in den Genuss von Ergänzungsunterricht in den Hauptfächern, der dem zuvor angesammelten Wissensmangel der Realschulen aufhelfen sollte. In Deutsch gab diesen Unterricht ein etwas eingetrocknetes, katholisches Fräulein (ob sie tatsächlich eines war, ist mir immer unbekannt geblieben), die unter anderem versuchte, das Interesse (= Dazwischensein) der Schülerinnen und Schüler durch einen Ausflug in die Liebeslyrik zu erregen. Darunter fand sich an prominenter Stelle auch das folgenden Gedicht Hugo von Hofmannsthals:

Die Beiden

Sie trug den Becher in der Hand
– Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand –
So leicht und sicher war ihr Gang,
Kein Tropfen aus dem Becher sprang.

So leicht und fest war seine Hand:
Er ritt auf einem jungen Pferde
Und mit nachlässiger Gebärde
Erzwang er, daß es zitternd stand.

Jedoch, wenn er aus ihrer Hand
Den leichten Becher nehmen sollte,
So war es Beiden allzuschwer:
Denn Beide bebten sie so sehr,
Daß keine Hand die and’re fand
Und dunkler Wein am Boden rollte.

Hugo von Hofmannsthal: Gedichte. Hg. v. Lorenz Jäger. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999. S. 29.

Da mir schon damals oft fad war, wenn ich hätte etwas lernen sollen, und mir zum Ausgleich der Schalk im Nacken saß, antwortete ich auf die berüchtigte Frage, was denn der Dichter damit sagen wolle, mit der spontan entwickelten These, es handele sich um die allegorische Beschreibung des ersten Geschlechtsverkehrs zweier Liebender. Das Vagina-Symbol des Bechers in der ersten und die Virilität der zweiten Strophe bereiteten den eigentlich Akt in der dritten Strophe vor, in der zwar nicht die Hände, aber sonstwas zueinander findet und die mit dem berüchtigten Blutopfer des Jungfernmythos endet.

Das dieser Deutung folgende interpretatorische Gestrampel war bei weitem nicht so heftig, wie ich erhofft hatte, aber immerhin schien mir mein Einfall witzig genug, um die Anekdote meinem Philosophielehrer zu erzählen. Der sah mich durchdringend an und fragte: „Kennst Du Arno Schmidt?“, worauf ich wahrheitsgemäß antwortete: „Arno Schmidt? Nie gehört.“ Einige Tage später drückte er mir Sitara und der Weg dorthin in die Hand, das sich als das lustigste Buch herausstellen sollte, das ich bis dahin gelesen hatte.

Auch im Weiteren drückte Schmidt die meisten jener Knöpfe, die bei einem intelligenten, arroganten und autodidaktischen, jedoch mangelhaft belesenen jungen Mann zur Verfügung standen, und als ich mit dem Studium anfing, hatte ich nicht nur den Großteil des Werkes gelesen (im Wesentlichen fehlte damals nur Zettel’s Traum, wenn ich auch sicherlich mit den anderen Teilen des Spätwerks noch an keinem möglichen Rand angekommen war), sondern auch gelernt, was Sekundärliteratur ist und wie sie funktioniert. Ich verdanke diesen drei Jahren viel und habe durch diesen Autor eine merkwürdige Art der literarischen Erziehung genossen. Sicherlich ist da nicht alles glücklich abgelaufen, aber man soll dankbar sein für das, was einem gegeben worden ist. Nur in der Philosophie bin ich ihm schon damals davongelaufen, aber dazu brauchte es auch nicht viel.

Viele Jahre später fand ich dann bei Schmidt die Bestätigung:

Und triefend stand; (‹bezwang ihn, daß er triefend stand› – oder ‹zitternd stand›? Ich wußte’s im Augenblick tatsächlich nich).

Arno Schmidt: Die Wasserstraße. In: Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe, Werkgr. I, Bd. 3. Zürich: Haffmans, 1987. S. 433.

Da hatte es sich gerundet. So etwas wird man später niemals wirklich wieder los.

1000 Einträge

An einigen runden Zahlen kann auch ich nicht vorbeigehen, so sehr ich auch aller Zahlenmystik und anderem Aberglauben persönlich abgeneigt bin. Pünktlich zum Jahresende und nach etwas mehr als 14 Jahren sind auf Bonaventura 1.000 Einträge erschienen. In ihnen wurden mehr als 700 Bücher von beinahe 600 Autoren besprochen; der Rest besteht hauptsächlich aus den von mir so geliebten Zitaten mit der größten Kategorie Allen Lesern ins Stammbuch. Mehr Statistisches gibt es immer aktuell im Menü rechts.

Ich danke all den treuen und untreuen Lesern dieses Lektüre-Blogs und bin gespannt, ob ich das zweite Tausend auch noch vollmachen kann – niemand von uns wird jünger, selbst das Medium nicht.

10 Jahre Bonaventura

Dieses Blog hat tatsächlich das für ein elektronisches Medium beinahe biblische Alter von 10 Jahren erreicht: Am 19. September 2005 begann Bonaventura mit kurzen Besprechungen zweier nicht ganz so gelungener Bücher von Hans Dieter Zimmermann und Alex Capus. Seitdem sind hier an die 600 Werke von knapp 500 Autoren besprochen worden; hinzu kamen Zitate, Marginalien und hier und da eine Meldung. Die aktuellen statistischen Zahlen finden sich stets rechts im Menü.

Der Nachtwächter will auch sonst gar kein weiteres Aufhebens von der Sache machen, aber so ganz ohne eine Markierung sollte das Datum doch nicht vorübergehen. Er selbst freut sich auf ein weiteres Jahrzehnt literarischen Nachtlebens. In nächster Zeit werden Besprechungen von Büchern William Faulkners, Henry James’ und Richard Fords auf dem Programm stehen.

Zur Feier des Tages sei nur noch einmal Arno Schmidt zitiert:

Lest doch! Lest doch …

In eigener Sache

Auf Lesen mit Links ist zu lesen:

Wünschenswert wäre es, wenn qualitätsvolle Literaturblogs wie LesenMitLinks, Die Büchersäufer, Begleitschreiben, Bonaventura, inadaequat, Der Umblätterer und auch die einzigartige Dschungel. Anderswelt mit ihrer Rezensions-Rubrik mehr Beachtung erfahren würden (…)

Dem kann sich der Nachtwächter nur rückhaltlos anschließen!

»Bonaventura« jetzt auf vigilie.de

Nach über 7 Jahren und mehr als 600 Artikeln haben die Lektüren eines Nachwächters jetzt endlich eine eigene Domain spendiert bekommen: Ab sofort ist dieses Blog unter www.vigilie.de zu finden. Aufgrund der Linkverwaltung von WordPress sollten alle alten Links auch weiterhin richtig funktionieren. Auch die alte Subdomain bonaventura.musagetes.de führt natürlich weiterhin zuverlässig hierhin.

Über eine Auffrischung des Layouts wird derzeit intensiv nachgedacht.

Gordimer lesen

Inzwischen ist es ja selbst in Deutschland kein so ungewöhnlicher Einfall mehr, die Veröffentlichung eines Buches mit einem Blog zu begleiten. Der Berlin Verlag startet für die Veröffentlichung des jüngsten Romans von Nadine Gordimer ein Blog, auf dem acht Blogger als Lesepaten ihre tägliche Lektüre mit öffentlichen Notizen begleiten sollen. Auch der Nachtwächter wurde eingeladen, und da es sich wahrscheinlich um den einzigen Anstoß handelt, einen Roman von Nadine Gordimer zu lesen, der sich für ihn je finden wird, hat er die Gelegenheit ergriffen. Also wird er ab dem 8. Oktober Gordimer lesen und darüber bloggen.

Zu den Postings des Nachtwächters

100 100-Seiter

Der Umblätterer hat ein sehr schönes Projekt gestartet: Es soll ein Kanon von 100 kurzen Büchern vorgestellt werden und das natürlich möglichst kurz und knapp. Dass dabei die Rezensionen auf Bonaventura als ausdrückliches Vorbild genannt werden, freut den Nachtwächter natürlich. Ich werde mich wahrscheinlich auch aktiv am Projekt beteiligen.

literaturkritik.de über Bonaventura

Im wichtigen und umfangreichen Rezensionsforum literaturkritik.de ist ein Hinweis auf einige Literaturblogs, unter anderem auch Bonaventura erschienen. Bis auf die Tatsache, dass die Autorin Simone Schwalm dringend neue Batterien für ihren Ironie-Detektor benötigt, handelt es sich um eine sehr nette Würdigung. Der Nachtwächter dankt!