Allen Lesern ins Stammbuch (20)

Heute lag die Abrechnung der VG Wort für das Jahr 2007 mit beigefügtem Scheck im Briefkasten.

Ich veröffentlichte zu meinem vierzigsten Geburtstag eine Berechnung darüber, daß ich bis dahin aus meiner Literatur – „aus der gesamten Holz- und Faserindustrie“ – insgesamt im Durchschnitt monatlich 4,50 Mark verdient hätte, und damit war ich in mehrere europäische Sprachen übersetzt, heute wäre der Durchschnitt etwas höher, aber zum Leben auch unter den einfachsten Bedingungen zu gering.

Gottfried Benn

Allen Lesern ins Stammbuch (18)

Mein nächstes Buch wird »Schmerznovelle« heißen. Es wird sich auch – wenigstens im Groben – an die tradierten Definitionen der Gattung Novelle halten.

Vorgestern erreichte mich ein Anruf aus dem Verlag. Marketingabteilung.

– Hörmal, Helmut, wie wärs denn mit :

SCHMERZ
Roman

– Nein, das Ding heißt Schmerznovelle und basta.

Heute der nächste Anruf.

– Hörmal, Helmut, wie wärs denn mit:

SCHMERZNOVELLE
Roman

Helmut Krausser

Kleist → Kehlmann → Goldt → Kraus

Der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Prof. Dr. Günter Blamberger (Köln), teilt in einem Rundschreiben »u. a.« mit:

Die Kleist-Jury hat Daniel Kehlmann als Vertrauensperson für den Kleist-Preis 2008 bestimmt und dieser hat als Preisträger Max Goldt ausgewählt, einen Prosakünstler, den Sie vor allem als Kolumnist der ‚Titanic‘ kennen, als einen, der in den letzten 20 Jahren den deutschen Alltag zur Kenntlichkeit entstellt hat – in Witz, Scharfsinn, ästhetischem Urteilsvermögen dem großen Sprachkritiker Karl Kraus vergleichbar.

Nun ist ja manches vergleichbar, aber Goldt und Kraus?

Vor solchem Helden hat es mir gegraut,
da wagt’ ich höchstens diese wenigen Verse:
Er gleicht dem Siegfried durch die dicke Haut
und dem Achilles durch die Ferse.

Aus dem Verein sollte ich wohl auch besser wieder austreten.

Philip Roth: Exit Ghost

roth_exitDas neunte und – wie der Titel und das Ende des Buches andeuten – letzte Buch, in dem der Schriftsteller Nathan Zuckerman als Protagonist fungiert. Zuletzt hatte Zuckerman in Der menschliche Makel die Geschichte Coleman Silks erzählt, eines vorgeblich jüdischen, in Wahrheit aber schwarzen Professor der Altphilologie, der wegen einer unbedachten Äußerung, die als rassistisch ausgelegt wird, aus seiner Fakultät gemobbt wird. Zu dieser Zeit lebte Zuckerman zurückgezogen in Massachusetts.

Zu Anfang von Exit Ghost finden wir Nathan Zuckerman Ende Oktober 2004 in New York. Er hofft auf einen medizinischen Eingriff, der seine Inkontinenz beheben soll, die sich nach einer Prostata-Operation eingestellt hat. Neben der Inkontinenz, die ihm hauptsächlich lästig und peinlich ist, ist Impotenz eine weitere Folge der Operation, die Zuckerman Selbstbewusstsein und -bild arg zusetzt. Zuckerman ist nun 71 Jahre alt und war mit 60 in die Provinz geflohen, nachdem er eine Reihe von Morddrohungen erhalten hatte. Er hat sich in den elf Jahren weitgehend des gesellschaftlichen Umgangs entwöhnt und findet sich und New York nach dieser Zeit sehr verändert wieder. Trotz einigem inneren Widerstand, entschließt er sich, für eine Weile in New York zu bleiben, um den Erfolg der Behandlung abzuwarten und dies eventuell wiederholen zu lassen. Es wird schließlich nicht mehr als eine Woche werden.

Binnen kurzem ist Zuckerman in alte und neue Geschichten verstrickt: Er begegnet zufällig Amy Bellette wieder, trifft das junge Ehepaar Jamie und Billy, mit denen er für die Zeit, die er in New York verbringen will, die Wohnung zu tauschen plant, und schließlich nimmt ein Freund Jamies, Richard Kliman, Kontakt zu ihm auf, der eine Biografie über E. I. Lonoff schreiben will. Lonoff stand zusammen mit Amy Bellette im Zentrum des ersten Zuckerman-Romans Der Ghostwriter, in dem Zuckerman als junger Autor den von ihm verehrten Erzähler Lonoff besucht.

Zuckerman verliebt sich auf den ersten Blick in die attraktive Jamie, nicht ohne sich schmerzlich seines Alters und seines körperlichen Unvermögens bewusst zu sein. Während er sich mit dieser Verliebtheit herumquält, wehrt er sich zugleich gegen die Vereinnahmung durch Kliman, der ein ehemaliger Kommilitone und Ex-Freund Jamies ist und den Zuckerman verdächtigt, ein Verhältnis mit Jamie zu haben. Kliman ist in jeglicher Hinsicht Zuckermans Konkurrent: Er ist ein junger und agiler sexueller Rivale, er ist ein aufstrebender junger Autor, er hat seine Karriere und sein Leben noch vor sich und erinnert Zuckerman mit all seiner Energie und seinem Enthusiasmus zu sehr an sich selbst in jungen Jahren, als dass er ihm nicht zugleich ständig die Mängel seiner Altersexistenz vor Augen führen würde.

Kliman will Zuckerman als Quelle und Autorität für seine Lonoff- Biografie einspannen. Klimans These ist, dass der einzige und unvollendet gebliebene Roman Lonoffs auf einer autobiografischen Konstellation beruht und Lonoff eine inzestuöse Beziehung zu seiner Halbschwester gehabt habe. Während Kliman durch die Veröffentli- chung ein Revival des vergessenen Lonoffs herbeizuführen hofft, befürchtet Zuckerman, dass eine solche Biografie Lonoff und sein Werk auf den vorgeblichen Skandal dieses Inzests reduzieren und damit für immer beschädigen würde. Zuckerman selbst entwickelt spontan eine alternative, literarische Deutung des Inzest-Motivs, indem er die These aufstellt, Lonoff habe sich durch biografische Spekulationen über Hawthorne zu diesem Thema anregen lassen.

Aus dieser relativ einfachen Struktur gewinnt Roth überraschend reiches Material: Da das Flirten tête-à-tête mit Jamie nicht gelingen will, entwickelt Zuckerman in seinem Hotelzimmer imaginäre Dialoge, die schließlich auf das Ermöglichen des Unmöglichen hinauslaufen: Die fiktive Jamie erklärt sich bereit, sich mit dem fiktiven Zuckerman in seinem Hotelzimmer zu treffen, der daraufhin fluchtartig das Hotel, New York und wahrscheinlich auch gleich die Welt verlässt:

Er löst sich auf. Sie ist unterwegs, und er verschwindet. Er ist für immer fort.

Gespiegelt wird diese imaginäre Beziehung in Zuckermans Gesprächen mit Amy Bellette, die in Der Ghostwriter als Studentin eine Beziehung mit alternden E. I. Lonoff begonnen hatte und Zuckerman nun von Lonoffs letzten Jahren, seinem unvollendeten Roman und seinem Sterben erzählt. In diesen und den Gesprächen zwischen Zuckerman und Kliman entwickelt Roth das zweite große Thema des Romans: Den Umgang der Öffentlichkeit mit Schriftstellern. Zuckerman wehrt sich gegen die Biografie Klimans auch deshalb so sehr, weil er befürchtet, dass auch sein Leben und Werk postum auf eine Reihe von Skandalen reduziert werden wird. Er setzt die Integrität des Werks, das für einen »unbefangenen Leser« geschrieben sei, der Integrität der Informanten eines Literaturbetriebs gegenüber, der Schriftsteller nicht anhand ihrer künstlerischen Leistungen, sondern ihrer moralischen Verfehlungen gewichtet.

Exit Ghost zeigt wie schon zuvor Der menschliche Makel einen erzählerisch deutlich entspannteren Philip Roth, als man ihn aus vielen früheren Romanen kennt. Motivisch rundet der Roman die Zuckerman- Reihe mit der Wiederaufnahme der Figuren Lonoffs und Amy Bellettes schön ab, und auch die Figur Zuckermans selbst findet mit diesem letzten Liebesabenteuer einen gelungenen Abschluss. Er zieht sich nun endgültig in die Provinz zurück und überlässt die Welt den Jungen. Mag sein, wir werden später einmal von seinem Tod und seiner Beerdigung lesen, mag auch sein, er ist für immer aus unserem Blickfeld verschwunden. Roth zumindest wird Zuckerman wohl auch nach diesem Buch nicht vollständig aus den Augen verlieren.

Philip Roth: Exit Ghost. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. München: Hanser, 2008. Pappband, 297 Seiten. 19,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (17)

Es gab einmal eine Zeit, da intelligente Menschen die Literatur zum Denken nutzten. Diese Zeit geht nun zu Ende. […] Der vorherrschende Gebrauch, den die Feuilletons der Intelligenzblätter und die Universitätsinstitute von der Literatur machen, steht in so destruktivem Gegensatz sowohl zu den Zielen der erzählenden Literatur als auch zu dem Gewinn, den ein unbefangener Leser aus ihr ziehen kann, dass es besser wäre, wenn die Öffentlichkeit aufhörte, irgendeinen Gebrauch von der Literatur zu machen.

Philip Roth
Exit Ghost

Weiland zu Radebeul …

Wir Deutschen sind merkwürdige Leute. Nicht etwa, daß wir uns ruhig gestehen: auch wir wollen uns einmal ausruhen und leichte Bücher lesen, auch wohl ruhig einmal einen richtigen Quark – das ist kein Mann, der nicht aus vollen Kräften banal sein kann – nein, wenn wirs schon tun, dann lügen wir uns irgend ein Brimborium darum herummer. Es gibt Leute, denen dieser Karl May – mir ist der Bursche immer als Ausbund der Fadheit vorgekommen – lieb und teuer ist. Aber sie sagens nicht. Sie malen ihm eine Glorie an: ihr meint, das sei einfach ein Unterhaltungsschriftsteller für die reifere Jugend gewesen? Gott bewahre, ein Philosoph war das, ein Mann mit den allegorischsten Hintergedanken, ein schwerer, vollbärtiger, sächsischer Denker, weiland zu Radebeul, jetzt in der Unsterblichkeit.

Kurt Tucholsky
Nette Bücher

May und Kafka

Der Bamberger Verleger Lothar Schmid, der seit 1951 mitverantwortlich für die gleichzeitige Glorifikation und Verhunzung des Schreiberlings Karl May und seiner sogenannten Werke ist, versucht den Freistaat Sachsen dazu zu bringen, den Nachlass seines Zugesels für die Summe von 15 Millionen Euro zu kaufen. Dort scheint man allerdings realistischere Vorstellungen vom »Wert« eines solchen Überbleibsels zu haben und bietet – gnädig genug – für den Haufen Unsinn immerhin noch 3,5 Millionen Euro an. Lothar Schmid jault deshalb. Immerhin, so sagt er in einem Interview mit Eckart Baier für das Börsenblatt des deutschen Buchhandels (Heft 16-2008, S. 17), hätten »Nachlassteile [sic!] eines anderen berühmten Autors, Franz Kafka, den siebenfachen Preis erzielt«. Etwas erstaunt fragt Baier nach:

Ist es denn legitim, Karl May mit Franz Kafka zu vergleichen?
Schmid: Selbstverständlich. Beide sind auf ihre Art geniale und wichtige Schriftsteller.

Wohlgemerkt: »auf ihre Art«!

Du kaufst jetzt Günter Grass, …

Wieder einmal große Aufregung im Vorfeld einer Grass-Ver­öf­fent­li­chung! Diesmal durch sein um 60 Jahre verzögertes Geständnis, er sei in der Waffen-SS gewesen. Helle Aufregung bei all denen, die sich professionell aufregen, Experten werden befragt, wie diese Nachricht denn nun einzuschätzen sei, ob Grass als moralische Instanz beschädigt würde, ob seine Bücher nun nichts mehr wert sind oder was sonst noch Schreckliches geschehen könnte. Von Marcel Reich-Ranicki habe ich bislang noch nichts gelesen, aber da kommt sicherlich auch noch was. Ich dagegen frage mich, was sich denn eigentlich geändert hat?

Dass Grass als Jugendlicher bis zur Kapitulation an den Endsieg geglaubt hat, konnte, wer wollte, problemlos nachlesen. Dass Grass als junger Mensch im Krieg aktiv war, ebenso. Dass er zu den Verblendeten und Verführten gehört hat – wie viele andere auch – war ebenso bekannt. Nun wissen wir, dass er eine andere Uniform getragen hat, als bislang angenommen wurde – so what? Grass hat keine Kriegsverbrechen begangen, nicht einmal in einer Einheit gedient, der Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden.

Sein Biograph Michael Jürgs aber erklärt in einem Gespräch im Deutschlandradio die »moralische Instanz Grass« für »eigentlich erledigt«, weil – wie er Kempowski nachsprach – das Bekenntnis »ein wenig spät« gekommen sei. Selbst die Gutwilligen halten Grass die zahlreichen Gelegenheiten vor, bei denen er sich hätte offenbaren können, »ohne dass man ihm einen Vorwurf daraus gemacht hätte«. Man hätte wahrscheinlich nur so reagiert wie jetzt – da versteht man gleich, warum er so lange zu schweigen versucht hat.

Nehmen wir die Aufregung mal für einen kurzen Moment lang ernst, selbst wenn wir wissen, dass es nur Mediengeschrei ist: Grass ist über viele Jahre hinweg zu einer Medien-Ikone aufgebaut worden. Auf der Liste der zehn Top-Denker Deutschlands der Zeitschrift »Cicero«, einem weithin unbekannten intellektuellen Fachblatt, steht Grass auf Position 1. Er hat dort Harald Schmidt um Haaresbreite geschlagen. So sieht das mit den »Denkern« in Deutschland nämlich aus. Anders gesagt: Grass war immer schon eitel genug, um zu jeder Sache eine Meinung zu haben, von der er wusste, dass sie einer ausreichend großen und medienmächtigen Minderheit in den Kram passen würde. Der Minderheit war Grassens Votum immer recht, und spätestens nachdem er den Literatur-Nobelpreis erhalten hatte, war kein Halten mehr.

Dabei waren Grassens Meinungen immer schon windig. Er neigte dazu, zu komplizierten Sachverhalten einfache Ansichten zu pflegen, weniger mit differenzierten Analysen zu glänzen als vielmehr mit einer aufrechten, moralisierenden Pose, sich mehr auf seine Stimm- als auf seine Denkkraft zu verlassen. Als Schriftsteller hat er Unmengen von unliterarischem und unlesbarem Schamott geliefert – ich erinnere mich mit Grausen an »Die Rättin« und »Der Butt«; »Das weite Feld« war wenigstens in der ersten Häfte einigermaßen erträglich –, und einige wenige denken auch heute noch, dass es das bestgehütete Geheimnis von Günter Grass ist, dass er gar keine Romane schreiben kann. Schon 1981 hat Friedrich Dürrenmatt in einem Interview die schöne Äußerung getan:

Günter Grass hat mir sehr höflich den Butt versprochen, aber er hat ihn dann nie geschickt, also brauchte ich ihn auch nicht zu lesen. Der Grass ist mir einfach zu wenig intelligent, um so dicke Bücher zu schreiben.

Das hat mir schon damals aus der Seele gesprochen. Dies »späte Bekenntnis« ist eine gute Gelegenheit, Grass als das zu durchschauen, was er seit vielen Jahrzehnten ist: Die erfolgreiche Marketingstrategie einer Interessengruppe. Dass er selbst das bislang nicht begriffen zu haben scheint, macht ihn so erfolgreich. – »Nachbarin! Euer Fläschchen!«