Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren

Es wäre ein Fehler, in all dem hier etwas anderes zu sehen als die Nörgeleien einen armen Irren. Ein Irrer!
Und Sie, Leser – Sie haben vielleicht vor kurzem geheiratet oder Ihre Schulden bezahlt?

Nachdem ich Elisabeth Edls Übersetzung der Éducation sentimentale vorerst übersprungen habe – zum einen, weil es zeitlich nicht passte, zum anderen aber sicherlich auch, weil ich über die Übersetzung des Titels mit Lehrjahre der Männlichkeit doch etwas erschrocken war –, folgt nun also, im Jahr seines 200. Geburtstages, die Neuübersetzung von Flauberts erstem ernsthaften Versuch, einen Roman zu schreiben. Der Text, der keine 100 Druckseiten umfasst, ist zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht worden, und man darf davon ausgehen, dass sich Flaubert seiner Schwächen sehr bewusst war.

… Mir ist alles so zuwider, dass ich einen tiefen Ekel davor empfinde weiterzuschreiben, nachdem ich das Vorangehende gelesen habe.
Können die Werke eines gelangweilten Mannes die Leser amüsieren?

S. 40

Aber natürlich zeigt sich die Wichtigkeit eines Autors eben auch darin, dass nach seinem Tod sein Nachlass herausgegeben wird.

Im Falle der Memoiren eines Irren geschah dies zuerst Ende 1900, 20 Jahre nach dem Tod Flauberts. Die Erzählung, die nur ehrenhalber die Bezeichnung Roman verdient, ist deshalb interessant, weil hier schon einige der Motive durchgespielt werden, die in den späteren Werken eine Rolle spielen. Zentral dürfte dabei die Beschreibung der ersten Verliebtheit des Erzählers in eine ältere, verheiratete Frau sein, die deutlich auf die Liebe Frédéric Moreaus aus L’Éducation sentimentale vorausweist. Außer diesen einzelnen Motiven ist der Text weitgehend lamoyant, verbunden mit einer für einen 17-Jährigen doch recht künstlichen Welt- und Menschenfeindlichkeit. Der Erzähler tut sich selbst unendlich leid, was den Leser ungefähr so kalt lässt, wie es Flauberts spätere Erzähler sind. Literarisch ist das beste am Text, dass er nicht länger ist.

Um dem Band etwas mehr Umfang zu geben, hat man eine Auswahl früher Briefe Flauberts hinzugefügt, die – wie Flauberts Briefe überhaupt – immer interessant und lebendig sind. Die wichtigste Stelle im Buch aber ist diese:

Wolfgang Matz hat auch diesen Band als Lektor begleitet; dass er der Einladung folgte, zum (wenigstens vorläufigen) Abschluss dieser Flaubert-Jahre auch das Nachwort beizusteuern, …

S. 200

Es wird also auf absehbare Zeit keine Übersetzung von Bouvard et Pécuchet durch Elisabeth Edl geben. Fassen wir uns also in Geduld.

Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. München: Hanser, 2021. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 240 Seiten. 28,– €.

Susanne Fischer: »Julia, laß das!«

Julia, oder die Gemälde ist der letzte Roman, an dem Arno Schmidt bis zu seinem zum Tode führenden Schlaganfall gearbeitet hat. Die 100 Typoskriptseiten, die fertig wurden, sind 1983 in der damals üblichen Weise als photomechanische Wiedergabe bei Haffmans erschienen; seit 1992 gibt es auch die gesetzte Fassung innerhalb der Bargfelder Ausgabe. Diese 100 Seiten sind einerseits typisch für das Spätwerk (eine Gruppe von Erwachsenen, der eine Gruppe von Jugendlichen gegenübergestellt ist; eine weitere Gruppe von Hippies (hier variiert als Hexen), die als gesellschaftliche Außenseiter nur sich und ihrer Lust leben; eine einzelne, etwas geisterhafte junge oder wie hier auch sehr junge Frau, die zwischen diesen Gruppen osziliert; Gespräche über abgelegene und halbvergessene Literatur und Schmidts psychoanalytisch unterfütterte Etymmystik; eine reduzierte Handlung, die in der Hauptsache dazu dient, die Figurenkommunikation zu steuern), andererseits bilden eine Reihe von Autoren das literarische Unterfutter des Buches, die bislang bei Schmidt nur eine kleine oder gar keine Rolle gespielt hatten (Balduin Möllhausen, Jakob Lorber, Friedrich Thesmar, H. P. Lovecraft oder Rider Haggard).

Erzählanlass ist, dass bei einem Besuch des Bückeburger Schlosses sich das junge Mädchen Julia aus dem Gemälde „Die vier Schwestern von Oranien“ von Jan Mytens (das existierende Gemälde zeigt eine Gruppe erwachsener Frauen) in den alternden und herzkranken Schriftsteller Leonhard Jhering verkuckt, aus ihrem Bild heraussteigt und von nun an bis zum Ende durch den Roman geistert. Eines der geplanten Enden des Romans sieht vor, dass Jhering zusammen mit Julia ins Bild zurückgekehrt ist und dort nun der Zeitlichkeit entrückt der Ewigkeit entgegenexistiert.

Natürlich war schon bei Erscheinen des Typoskripts 1983 eine für Schmidt-Leser wichtige Frage, was zwischen der Seite 100 und diesem möglichen Ende noch alles durchgespielt werden sollte. So veröffentlichte Haffmans 1985 im Arno-Schmidt-Raben einen ersten Satz von 41 Notizzetteln aus dem Zettelkasten zur Julia. Seitdem bestand mehr oder weniger die Hoffnung (oder eben auch die Befürchtung), dass eine Edition der kompletten Notizzettel aus dem Zettelkasten zur Julia zumindest eine Ahnung von dem geben könnte, wie Schmidt den Roman fortgesetzt hätte. Dieser Hoffnung wurde jetzt mit dem Buch von Susanne Fischer ein Ende gesetzt: Weder wird es in absehbarer Zeit eine vollständige Publikation des Zettelkastens geben, noch gibt es irgendeine Möglichkeit aus dem vorhandenen Nachlass-Material eine auch nur irgendwie geartet Extrapolation der nicht geschriebenen Teile des Romans zu leisten. Selbst Elemente, die sich aus den ganz allgemeinen Entwürfen ablesen lassen – so etwa die Überfahrt zum Wilhelmstein, der dabei erfolgende Schiffbruch und die dann erzwungene Existenz auf der Insel – bleiben vollständig abstrakt, weil entweder kein, nur unzureichendes oder gar widersprüchliches Material im Kasten vorliegt.

Grundsätzlich geben die Zettel zur Julia denselben Eindruck wie andere ganz oder teilweise bekannte Zettelkästen zu anderen Werken: Ohne den Kopf des Autors sind sie weitgehend wertlos und liefern nur unverbundene Details, von denen nicht einmal sicher ist, wie und in welcher Reihenfolge sie im Roman letztlich verarbeitet werden sollten. Was Susanne Fischer nun als Ersatz für einen kompletten Abdruck der Notizzettel liefert, ist eine allgemeine Beschreibung von dessen Inhalt – mit dem Hauptgewicht auf jenem Teil, der für die noch ungeschriebenen Kapitel der Julia vorgesehen war – mit zahlreichen Einzel-Beispielen. Überraschendster Befund ist dabei, dass ein Großteil der Zettel der Sexualität, konkreter der Beschreibung diverser Geschlechtsakte gewidmet ist. Sex im Alter bzw. älterer Menschen scheint ein weiteres, den Autor sehr beschäftigendes Thema gewesen zu sein. Fischer betont mehrfach zu Recht, dass sich nicht erkennen lasse, wie viel des gesammelten Materials am Ende verwendet worden wäre, aber zumindest lässt sich feststellen, dass sich die in Schmidts Spätwerk abzulesende Tendenz zur Aufspaltung der sozialen Welt in eine ästhetisch abgehobene, ins Phantastische grenzenlos übergehende und eine krude, weitgehend von Sexualität in diversen Spielformen bestimmte Wirklichkeit hier nahtlos fortsetzt. Die in Sitara und der Weg dorthin an der Werken Karl Mays und in Zettel’s Traum an denen Edgar Allan Poes durchgespielte Analyse der Literatur als verdeckte Darstellung der sexuellen Obsessionen ihrer Autoren zusammen mit Schmidts von Anfang an vorhandener Neigung zu dichotomen Unterscheidungen („Bezeichnend für uns Gemisch aus Scheiße und Mondschein.“ – Goethe und Einer seiner Bewunderer. BA I, 2. S. 200.) führen zu dieser zwar produktiven aber kaum wirklichkeitsnahen Weltsicht. Auch ist die beschriebene Welt der Romane glücklicherweise immer deutlich reicher, als deren Verständnis durch die Protagonisten erlauben sollte.

Insgesamt bringt der Band eine negative Bereicherung unseres Wissens um Arno Schmidt, in dem er jegliche Hoffnung aufhebt, das merkwürdige Fragment der Julia mit Hilfe des Nachlasses tatsächlich noch zum letzten vollständigen Roman Arno Schmidts destillieren zu können. Und es ist Susanne Fischer sehr zu danken, dass sie die sicherlich nicht einfache Entscheidung getroffen hat, den Erwartungen der Schmidt-Leser nicht nachzugeben und den Zettelkasten zur Julia Zettel für Zettel abdrucken zu lassen. Dass das eines Tages dennoch geschehen wird, ergibt sich aus dem Sinn und der Aufgabe der Arno Schmidt Stiftung nahezu von selbst. Ich wenigstens will hoffen, dann keine Bücher mehr kaufen zu können.

Susanne Fischer: »Julia, laß das!« Arno Schmidts Zettelkasten zu Julia, oder die Gemälde. Berlin: Suhrkamp, 2021. Klappenbroschur, Fadenheftung, 146 Seiten. 30,– €.

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt III & IV

Ob es sich um die Abschreckung durch Atombomben, um Atomkraftwerke, um die Lagerung von Atommüll, um die Plünderung unseres Planeten usw. handelt, immer reden diejenigen, welche daran glauben, uns ein, wir sollen glauben, was sie tun, sei absolut sicher.

Die 1990 erschienen Stoffe IV–IX unterscheiden sich deutlich von dem beinahe 10 Jahre älteren Band. Dürrenmatts Verleger Daniel Keel hatte gehofft, der zweiten Band könne bereits kurz nach dem ersten erscheinen, doch Dürrenmatts Arbeitsweise, der Tod seiner Frau Lotti im Jahr 1983, seine neue Beziehung zu Charlotte Kerr, die ihn zurück zum Drama brachte, all dies beeinflusste und unterbrach immer wieder die Arbeit an der Fortsetzung. Zudem bewiesen einige der Stoffe sich als so dynamisch, dass sie sich in eigenständige Projekte verwandelten, so etwa den 1989 herausgegeben letzten Roman Dürrenmatts Durcheinandertal.

Es wundert bei der langen Entstehungszeit nicht, dass der zweite Band deutlich uneinheitlicher geraten ist. Der große biographische Bogen wird nur teilweise fortgesetzt, die biographische Erzählung wird insgesamt bruchstückhafter und anekdotischer. Zugleich nimmt der essayistische Anteil des Textes deutlich zu. Auch bleiben die Stoffe selbst eher skizzenhaft und summarisch, wie es auch schon für Der Rebell im ersten Bad festgestellt wurde. Wie man die ausgewählten Stoffe letztendlich beurteilt, hängt sicherlich von zahlreichen Vorbedingungen ab. So ist etwa das abschließende Kapitel Das Hirn, das so etwas wie ein evolutionäres Gesamtbild der Entstehung des Universum als Fiktion eines freischwebenden Bewusstsein versucht, inhaltlich heute kaum mehr überzeugend, was aber auch daran liegt, dass heute selbst der oberflächlichste Konsument des Fernsehen mit so zahlreichen Dokumentationen über alles mögliche zugeschüttet wird, dass ihm das alles als alte Kamellen erscheinen dürfte. Hier war die Rezeptionssituation in den 1980er Jahren, auf die Dürrenmatt zielte, natürlich eine komplett andere. Alles in allem ist eine angemessene Lektüre dieser Texte nicht einfach.

Eine zumindest für Dürrenmatt-Kenner wichtige Ergänzung dürfte seine Rekonstruktion seines ersten Theaterstücks Der Turmbau zu Babel sein, die sich im Anhang zu Band IV dieser Ausgabe findet. Dürrenmatt hatte zumindest einen Teil der ersten Fassung vernichtet; andere Teile sind wohl eher ungewollt erhalten geblieben. Aus demselben Stoffkreis hat Dürrenmatt dann später Ein Engel kommt nach Babylon (1953) entwickelt, eines seiner zahlreichen religiös grundierten Dramen.

Band III liefert unter anderem ergänzend dazu eine ganze Reihe weiterer Stoffe, die es nicht bis in die publizierte Fassung geschafft haben; wichtig ist hier auf jeden Fall Dürrenmatts breite Auseinandersetzung mit dem Prometheus-Mythos.

Diese Reihe von Besprechungen ist von der Frage ausgegangen, ob der hier betrieben Aufwand von den Texten der beiden veröffentlichten Bände gerechtfertigt werden kann. Für Dürrenmatt-Kenner und die -Liebhaber liegt hier eine reiche Fundgrube vor, die sie lange beschäftigen kann; allen, die dem Propheten von Konolfingen – sicherlich mit gutem Grund – eher mit einigen Distanz gegenüberstehen, werden den hier betriebenen archivalischen Eifer wohl übertrieben finden. Aber ein Archiv muss natürlich tun, wozu es da ist. Und zu entdecken gibt es tatsächlich manches, Wenn es eben auch sehr speziell ist.

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt. Hg. v. Ulrich Weber u. Rudolf Probst. Zürich: Diogenes, 2021. 5 Bände, Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 2208 Seiten. 400,– €.

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt I & II

Ich machte eine gut bürgerliche Jugend wie eine Krankheit durch, ohne Kenntnis der Gesellschaft und ihrer Zusammenhänge, behütet, ohne behütet zu sein, immer wieder gegen einen Zustand anrennend, der nicht zu ändern war: Ich selbst war dieser Zustand.

Wie bereits zuvor gesagt, umfassen die Bände I und II die Materialien aus dem Nachlass Friedrich Dürrenmatts zum Stoffe-Projekt bis zu Veröffentlichung des Bands Stoffe I–III im Jahr 1981. Band II enthält den Text dieses Bandes (in der leicht über­ar­bei­te­ten Fassung von 1990, die dem Wunsch des Autors nachkommt, Absätze im Text weitgehend zu vermeiden und so eher einen Textfluss zu erzeugen), Band I chronologisch das seit 1957 bis 1981 aufgelaufene Material des Projektes. Es ist für Einsteiger durchaus zu empfehlen, sich zuerst einmal mit der Lektüre von Band II einen Eindruck von Thematik und Ausrichtung des Gesamtprojektes zu machen und dann erst zum Material in Band I zurückzugehen.

Der 1981 erschienene Band enthält, wie der Titel schon sagt, drei von Dürrenmatts Stoffen, die ihn lange begleitet und dabei durchaus wesentliche Veränderungen erfahren haben. Der erste, Winterkrieg in Tibet, spiegelt Dürrenmatts Auseinandersetzung mit seinen Kriegs- (als Schweizer war er ein eher ferner Beobachter des Geschehens im Zweiten Weltkrieg) und Militärerfahrungen, dem Mythos vom Minotaurus, der auch in anderen Texten und insbesondere auch in Gemälden von ihm eine bedeutende Rolle spielt, und damit unmittelbar zusammenhängend dem Motiv des Labyrinths. Erzählt wird die Geschichte eines Offiziers, der sich in der letzten gigantischen Schlacht des III. Weltkriegs wähnt, der weite Teile der Welt zerstört hat. Er sitzt als General ohne Truppen im Rollstuhl, durchfährt die Höhlengänge unter einem Bergmassiv und schreibt den Text, den der Leser liest, in absoluter Dunkelheit in langen Zeilen an die Höhlenwände. Durchbrochen wird dieser quasi autobiographische Bericht durch eine Art von Herausgeberfiktion, die die Wiedergabe des Textes als Dokumentation eines Fundes der nach dem III. Weltkrieg wieder erstandenen Zivilisation ausweist. Der Text enthält nicht nur die Geschichte und Vorgeschichte des Generals, sondern auch umfangreiche essayistische Passagen, deren Gehalt durch die Figur ihres Erzählers stark in Mitleidenschaft gezogen wird. Entscheidend für die Lektüre dürfte der Hinweis Dürrenmatts sein, dass die zentrale Figur des Textes nicht Minotaurus repräsentiert, sondern einen Theseus, der seinen Ariadnefaden längst verloren hat und nicht in der Lage ist, einen eigenen zu knüpfen. Die Erzählung dürfte eine der dichtesten sein, die sich in Dürrenmatts erzählerischem Werk findet, und setzt einem einfachen Verständnis massive Widerstände entgegen.

Der zweiten Stoff, Mondfinsternis, ist die Quelle von Dürrenmatts wohl erfolgreichstem Theaterstück Der Besuch der alten Dame. In einem entlegenen Bergdorf der Schweiz, in dem außer Pfarrer, Polizist und Lehrerin nur 14 Familien leben, kommt ein alter, reicher Kanadier an, der nahezu sofort beginnt, alle jungen Frauen des Dorfes intensiv zu begatten. Außerdem verspricht er jedem Haushalt im Dorf eine Million, wenn beim nächsten Vollmond (in zehn Tagen) der Ehemann seiner ehemaligen Geliebten, die der Alte einstmals schwanger zurückgelassen hat, umgebracht wird. Der Betroffene ist angesichts des Reichtums auch für seine Familie durchaus mit dem Plan einverstanden und endet, nach einigem retardierenden Füllstoff, unter einer gefällten Buche. Es erweist sich aber, dass der Verursacher dieser Affäre eigentlich gar nicht an Tod und Rache interessiert ist (ebenso wenig wie an dem Geld, das er zurücklässt), sondern sich in Angst und Not wegen seines Herzens befindet. Als er das Dorf verlässt, erleidet er einen weiteren, diesmal tödlichen Herzanfall.

Der Text ist ohne jegliche Psychologie geschrieben: Eine Entwicklung der Figuren findet nicht statt, die für eine moderne Erzählung eigentlich fatale Wartezeit von zehn Tagen bis zum Vollmond-Termin wird einfach übersprungen, die titelgebende Mondfinsternis findet zwar statt, hat aber trotz der kurzzeitigen abergläubischen Panik der Bauern keinerlei praktische Auswirkung. Interessant ist aber, dass Dürrenmatt weder in der Erzählung selbst, noch in den reflektierenden Texten, die sie umgeben, auf das Motiv des Menschenopfers zu sprechen kommt. Nichts scheint einleuchtender, als den Ankommenden als einen neuen Gott zu lesen, der allgemeine Wohlfahrt verspricht, wenn man nur bereit ist, ihm einen Menschen als Opfer darzubringen. Und nichts ist einleuchtender, als dass ein Gott an nichts weniger interessiert sein kann als daran, ob die Menschen das Opfer tatsächlich vollziehen. Dass Dürrenmatt an diesem Aspekt seines Stoffes weitgehend uninteressiert gewesen zu sein scheint, mag daran liegen, dass in den beiden mythologischen Systemen, die sein Denken geprägt haben (das der griechischen Antike und das des Christentums). Menschenopfer nur eine randständige Rolle spielen.

Der dritte Stoff, Der Rebell, ist der am wenigsten ausgearbeitete; es handelt sich mehr um eine Prosa-Skizze als um eine Erzählung. Erzählt wird in wenigstens zu Anfang spätromantischer Manier vom Sohn eines Philologen, der in den Aufzeichnungen seines verschollenen Vaters eine altertümliche Sprache entdeckt, die er erlernt, um sich dann auf eine ziellose Reise zu machen, die ihn natürlich an die Grenze jenes Landes bringt, deren fremde Sprache er erlernt hat. Dort wird er als eine Art Messias empfangen, als der Retter und Befreier, der die Tyrannis des zuletzt erschienen Befreiers (der möglicherweise sein Vater ist) zerschlagen und wahrscheinlich durch seine eigene ersetzen wird. Warum Dürrenmatt dachte, diese Messias-Allegorie sei geeignet, seine eigene Rebellion gegen die Eltern darzustellen, die eigentlich nur in einem heimlichen und drückebergerischen Ungehorsam bestand, wie ihn jeder zweite junge Mann in der Weltliteratur zustande bringt, ist wenigstens mir unerfindlich geblieben.

Umschlossen sind diese drei Erzählungen von einer Autobiographie, die jeweils passend zu den Erzählungen gewichtet und reflektiert wird. Eine solche offene und zugleich enge Verquickung von autobiographischer und literarischer Erinnerungsarbeit dürfte in der deutschsprachigen Literatur weitgehend singulär sein. Die Materialien in Band I vertiefen diese beiden Aspekte der Stoffe, wobei das Material nicht nur die Stoffe I–III umfasst, sondern natürlich auch auf den späteren Band ausgreift. Hier ist besonders die Wiedergabe der Rekonstruktionen hervorzuheben, eines geschlossenen Textes von 1978, der so bislang unveröffentlicht war und der Dürrenmatt als Steinbruch für spätere Veröffentlichungen diente. Hier ist noch einmal ein Text zu entdecken, der es an Gehalt und Komplexität mit den beiden Nachworten zum Mitmacher-Komplex aufnehmen kann.

Bereits diese beiden Bände enthalten eine kaum auszuschöpfende Quelle für eine Auseinandersetzung mit Dürrenmatt, die mir aber leider, je älter ich werde und je weiter die Texte in der Vergangenheit liegen, um so mehr eine obsolete Angelegenheit zu werden scheint. Es ist zu befürchten, dass Dürrenmatt den Status eines Klassikers, den man ihm offenbar zuzumuten gedenkt, nicht lange innehaben wird. Dafür scheinen einerseits die Voraussetzungen für eine Lektüre zu hoch, andererseits ist der Anschluss zu den Themen der Gegenwart zu dünn. Ich fürchte, er wird trotz seines Reichtums an Reflexion und Erfindung bald nur noch ein Autor für einige wenige Fachleute sein.

Wird fortgesetzt …

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt. Hg. v. Ulrich Weber u. Rudolf Probst. Zürich: Diogenes, 2021. 5 Bände, Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 2208 Seiten. 400,– €.

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt

Je älter man wird, desto stärker wird der Wunsch, Bilanz zu ziehen. Der Tod rückt näher, das Leben verflüchtigt sich. Indem es sich verflüchtigt, will man es gestalten; indem man es gestaltet, verfälscht man es: So kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen, manchmal große Dichtungen – die Weltliteratur beweist es –, leider oft für bare statt für kostbare Münze genommen.

Seit dreißig Jahren beschließe ich nach jedem neuen Buch aus dem Nachlass von Friedrich Dürrenmatt, dass ich nun nichts weiter mehr von ihm kaufen werde. Bislang hat es nicht geklappt.

Dürrenmatt ist einer der ersten Schriftsteller, von denen ich eine Werkausgabe besessen habe. Er war meine wichtigste Schullektüre und hat in den letzten beiden Schuljahren einen großen Einfluss auf mein Verständnis von Poetik und Dramaturgie gehabt. Noch am Ende meines Universitätsstudiums stand eine Klausur zu den Konzepten von Bertolt Brecht und Friedrich Dürrenmatt. Das war etwa um die Zeit herum, als Dürrenmatt gestorben ist. Seitdem habe ich in didaktischem Zusammenhang noch das eine oder andere von ihm wiedergelesen, auch seinen Briefwechsel mit Max Frisch und die Biografie von Peter Rüedi. So sehr ich mich auch bemühe, ich werde diesen Einfluss nicht los.

Nun hat Diogenes zu einem weiteren Schlag ausgeholt: In fünf großformatigen Bänden (16 × 24 cm) wird eine Nachlass-Edition des letzten großen Prosa-Projektes Dürrenmatts vorgelegt, der Stoffe. Aus den Stoffen sind 1981 (Stoffe I–III) und 1990 (Stoffe IV–IX) zwei Bände vorgelegt worden, wobei anlässlich des zweiten Bandes auch der erste Band noch einmal in einer leicht über­ar­bei­te­ten Fassung erschien. Diese Fassung findet sich auch innerhalb der siebenbändigen Werkausgabe von 1991. Damals war aber schon klar, dass dies nur Teile des tatsächlich vorhandenen Materials waren. Die nun erfolgte Edition aus dem Nachlass lässt diese beiden Publikationen als „zwei Spitzen eines riesigen Eisbergs“ – so die Herausgeber im Vorwort – von über 30.000 Ma­nu­skript­sei­ten erscheinen.

Die ersten Anfänge dieses sowohl zeitlichen als auch stofflichen Le­bens­pro­jek­tes verorten die Herausgeber bereits im Jahr 1957, also nach Dür­ren­matts ersten großen Erfolgen als Theater- und Krimiautor, aber noch bevor er mit Das Versprechen bzw. Es geschah am hellichten Tage vorerst Abschied vom Genre der Kriminalerzählung nahm. Der erste Band ist der Ent­wick­lung des Projektes bis zur Veröffentlichung der Stoffe I–III (1981) gewidmet; der zweite Band präsentiert dann diesen Text mit einer umfangreichen Dokumentation weiteren Materials und zahllosen Querverweisen. Der dritte und vierte Band verfahren in gleicher Weise mit den Stoffen IV–IX (1991). Der fünfte Band schließlich liefert eine Chronik der Genese, eine Do­ku­men­ta­tion der Quellen, Anmerkungen zum Text und ein Register. Begleitet wird all das durch eine Online-Edition des gesamten Projektes, die derzeit noch nicht ganz fehlerfrei ist, aber auch das wird sich sicherlich mit der Zeit finden.

Es wird sich in einer erneuten Lektüre weisen müssen, ob die Texte Dür­ren­matts den hier betriebenen Aufwand am Ende rechtfertigen. Und es wird diesmal bestimmt meine letzte Beschäftigung mit dem Propheten aus Konolfingen sein.

Wird fortgesetzt …

Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt. Hg. v. Ulrich Weber u. Rudolf Probst. Zürich: Diogenes, 2021. 5 Bände, Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 2208 Seiten. 400,– €.

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod

Der fröhliche Selbstmörder, der sich schon dreißig Jahre vorher darauf freut.

Zu Beginn von Woody Allens „Annie Hall“ erzählt Alvy Singer zwei Witze; der erste geht so:

Es gibt da einen alten Witz. Äh: Zwei ältere Damen sitzen in einem Catskill-Berghotel – sagt die eine: »Gott, das Essen hier ist wirklich schrecklich!« – sagt die andere: »Stimmt, und diese kleinen Portionen!« – Naja, und im wesentlichen sehe ich so auch das Leben.

Canetti_TodDas Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und die Versuche zur Überwindung des Todes – mystisch als individuelle Unsterblichkeit, metaphorisch in der Erinnerung der Lebenden oder im Werk oder biologisch in den Nachkommen – sind bereits früh als entscheidende Antriebe menschlichen Handelns verstanden worden. Es wird aber wohl nur wenige Beispiele einer so ausgeprägten Todfeindschaft geben, wie sie „Das Buch gegen den Tod“ dokumentiert. Elias Canetti begriff sich als radikalen Gegner des Skandalons Tod und plante spätestens seit 1942 ein Buch gegen den Tod zu schreiben, zu dem aber letztendlich nie mehr als umfangreiche Notizen entstanden sind.

Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger haben nun aus den bereits veröffentlichten Notizen Canettis und dem Nachlass eine Auswahl zusammengestellt, die eine wenigstens ungefähre Vorstellung davon geben können, wie „Das Buch gegen den Tod“ hätte aussehen können. Etwa zwei Drittel des präsentierten Materials war bislang noch unveröffentlicht; angeordnet ist es chronologisch, wobei in jedem Jahr die bereits gedruckten Notizen den ungedruckten vorangestellt sind. Das Material bewegt sich vom aphoristischen Einzeiler über Zitate aus Zeitungen und Büchern bis hin zu autobiographischen Einträgen und Briefentwürfen, so etwa diejenigen, die sich um die Begegnungen und Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard drehen.

Aus all dem ergibt sich kein einheitliches Bild, sondern eine Gemengelage diverser mythologisch und rationalistischer Zugriffe, die immer wieder neu gewendet und durchdacht werden. Hin und wieder finden sich ganz unvermittelt Gedanken von einer bemerkenswerten Originalität:

Zum Mond
Vielleicht fehlen noch Tote auf dem Mond. Mit den ersten Menschen, die dort zugrundegehen, mit seinen ersten Toten, wird er uns vertrauter werden. (S. 133)

Wer das zu Ende denken kann, wird sowohl dem Begriff der Heimat als auch dem Sinn von Friedhöfen ein ganzes Stück näher sein.

Interessanterweise fehlt der biologische Zugriff auf den Tod als eine notwendige Voraussetzung höherer Evolution beinahe vollständig. Ob dies an der Auswahl liegt oder ob dieser Aspekt erst sehr spät im Denken Canettis auftaucht, kann aus dem vorliegenden Material nicht beurteilt werden. Erst unter den Notizen aus dem Jahr 1993 taucht das folgende Fragment eines Gedankens auf:

Der Darwinismus, der aus dem Tod etwas Fortschrittliches macht. (S. 304)

Wenigstens ich finde es sehr schade, dass dies als Gegengewicht zu dem mythologischen Denken Canettis erst so spät, zu spät wirksam zu werden scheint.

Kein Buch für eine systematische Lektüre, aber eine anregende und in allen Teilen interessante Materialsammlung.

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Hg. v. Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger. München: Hanser, 2014. Pappband, 352 Seiten. 24,90 €.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal

Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiß, was er sonst tun soll.

Frisch-Berliner-JournalBeim sogenannten Berliner Journal handelt es sich um ein Tagebuch Max Frischs aus den Jahren 1973 bis 1980. Frisch hatte es zuerst für eine Veröffentlichung vorgesehen und entsprechend ausgearbeitet, es dann aber, hauptsächlich aufgrund der Tatsache, dass in dieser Zeit seine Ehe mit Marianne Oellers scheiterte, mit einer 20-jährigen Sperrfrist belegt. Da er es aber in einigen Interviews erwähnt hatte, handelte es sich bei diesem Tagebuch um das bekannteste Desiderat der Frisch-Forschung.

Die Max-Frisch-Stiftung Zürich hat sich nach Öffnung des Manuskripts im Jahr 2011 nun dazu entschlossen, Auszüge aus den ersten beiden von fünf Heften (es handelt sich tatsächlich um Ringbücher, der Herausgeber verwendet aber Frischs eigene Bezeichnung), also den Jahren 1973 und 1974 zu veröffentlichen. Es wurden nur jene Passagen ausgewählt, die nicht Gefahr laufen, Persönlichkeitsrechte anderer zu verletzen. Aus diesen Gründen ist es sehr wahrscheinlich, dass das komplette Journal niemals direkt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden wird.

Das „Berliner Journal“ beginnt mit dem Umzug von Max und Marianne Frisch nach Berlin im Februar 1973. Die Auszüge konzentrieren sich in der Hauptsache auf Begegnungen mit Schriftstellern in West- und Ostberlin, darunter prominent Uwe Johnson, Günter Grass, Christa Wolf, Jurek Becker, Günter Kunert und Wolf Biermann. Der Kontakt zu den DDR-Schriftstellern kommt zuerst über den Verlag Volk und Welt zustande, der zu dieser Zeit an einer kleinen Frisch-Werkauswahl interessiert ist.

Neben den zahlreichen literarischen Begegnungen zeichnet das Tagebuch ein bedrückendes Bild von Frischs häuslicher Situation: Die Ehe kriselt, und Frisch fehlt jegliche Inspiration zu einem neuen Roman oder Theaterstück, so dass das Schreiben am Tagebuch seine einzige literarische Arbeit in dieser Zeit darstellt. Da Frisch inzwischen ein finanziell sehr erfolgreicher Autor ist, fehlt auch jeder materielle Zwang zur Arbeit. Erst die Begegnung mit Alice Locke-Carey im April 1974 führt Frisch aus dieser Phase heraus. Aber das liegt schon jenseits der Auszüge aus dem Journal.

Für viele Frisch-Leser dürften die nun veröffentlichten Teile daher eher eine Enttäuschung darstellen, da in ihnen gerade das autobiographische Widerlager zu „Montauk“, das das Hauptinteresse am „Berliner Journal“ bildet, fehlt. Gelingt es aber, davon abzusehen, so liefert das Buch einige interessante Autoren-Porträts und einen guten, wenn auch schmalen Einblick in den Literaturbetrieb der DDR. In diesem Sinne ist es den 2010 aus dem Nachlass erschienenen „Entwürfen zu einem dritten Tagebuch“ deutlich vorzuziehen. Allerdings erbt auch diese Nachlassveröffentlichung die Marotte der nur spärlich bedruckten Seiten, als gäbe es keine anderen typographischen Mittel, den Seitenumbruch des Originals wiederzugeben.

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Hg. v. Thomas Strässle. Berlin: Suhrkamp, 2014. Pappband, 235 Seiten. 20,– €.

David Foster Wallace: Der bleiche König

Das ist wie diese Kiste in der Physik: Wenn du das Experiment beobachtest, wird das Ergebnis vermasselt.

Wallace-Koenig„Der bleiche König“ ist der Roman, an dem David Forster Wallace bereits seit einigen Jahren gearbeitet hatte, als er sich umbrachte. Wallaces Agentin und sein Lektor haben aus dem umfangreichen Nachlassmaterial einen fragmentarischen Roman zusammengestellt, dessen im Original gut 530 Seiten einen unbekannten, aber kaum zu großen Bruchteil des Umfangs darstellen, den das Buch nach dem Willen des Autors hätte schließlich haben sollen. Das Fragment erschien 2011, drei Jahre nach dem Tod Wallaces; es wurde in diesem Jahr zur Frankfurter Buchmesse auf Deutsch vorgelegt, übersetzt von Ulrich Blumenbach, der auch schon Wallaces „Infinite Jest“ übersetzt hat.

Das Thema des Romans ist so ungewöhnlich, wie man es von Wallace erwarten darf: Der Hauptteil der Handlung spielt Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in einem Prüfzentrum der US-amerikanischen Steuerbehörde IRS in Peoria, Illinois. Zahlreiche Figuren, darunter auch ein Alter ego des Autors, werden jeweils mit ihren Vorgeschichten vorgeführt und interagieren miteinander. Anders kann man die rudimentäre Handlung kaum beschreiben, denn eine Fabel im klassischen Sinne hat der Roman nur sehr hintergründig: Man kann als Leser den Verdacht entwickeln, dass der treibende Konflikt einer eventuell beabsichtigten oder noch geplanten Handlung der zunehmende Einsatz elektronischer Datenverarbeitung – in der Hauptsache unter Verwendung von Lochkarten – bei Vorbereitung und Durchführung von Steuerprüfungen ist. Doch liefert diese Fabel kaum eine Struktur für den vorliegenden Text.

Das eigentliche Thema des Buches scheint aber Langeweile zu sein: Wallace ist fasziniert von der tagtäglichen Existenz des normalen Steuerprüfers, die darin besteht, sich acht Stunden lang mit der trockensten, langweiligsten Materie der Welt, sprich: Steuererklärungen zu befassen. Er scheint zu glauben, dass die Voraussetzung für das Ausüben einer so eintönigen Tätigkeit in bestimmten Charaktereigenschaften liegt, die wiederum in den Vorgeschichten der Figuren entwickelt werden sollen. Das alles kann man schön und gut finden; auch dem artistisch durchaus anspruchsvollen Plan, Langeweile erzählen zu wollen, kann man Sympathie entgegenbringen. Das Problem aber ist die konkrete Umsetzung des Projekts: Zwar sind die skurrilen Vorgeschichten der meisten Figuren gerade noch interessant, doch das aus ihnen resultierende, einander ununterbrochen totquatschende Personal des Prüfzentrums hat immer nur für wenige Seiten meine Aufmerksamkeit fesseln können. Eine Ausnahme bildet vielleicht der nur in einem späten Kapitel eine Rolle spielende Shane Drinion, eine blasse Kopie des Vulkaniers Spock, der mit seiner emotionalen Isolation und seinem umfassenden Desinteresse die einzige positive Identifikationsfigur des Romans darstellt. Er ist es denn auch, der den Lektüreeindruck in einem Satz zusammenfasst:

»Hört sich anstrengend an«, sagt Drinion.

David Foster Wallace: Der bleiche König. Ein unvollendeter Roman. Aus dem amerikansichen Englisch von Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013. Kindle-Edition, 1702 KB, 640 Seiten (gedruckte Ausgabe). 23,99 €.

Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch

Je älter ich werde, desto schwerer fällt mir die Bewertung von Nachlass-Editionen. Das mag vielleicht daran liegen, dass mit den Jahren das Empfinden für die Vorläufigkeit von Entwürfen zunimmt, vielleicht auch das Wissen, dass einiges, und nicht immer unbedingt das Unwesentliche, spät und zufällig seinen Platz finden kann, und nicht zuletzt auch das Bewusstsein, dass für ein gelungenes Werk manchmal viel ausprobiert werden muss.

Die nun bei Suhrkamp vorgelegten Entwürfe Max Frischs zu einem dritten Tagebuch wurden von ihm in den Jahren 1982 und 1983 erstellt. Erhalten geblieben ist nicht Frischs Arbeitsexemplar, sondern ein Durchschlag seiner Sekretärin. Frisch hat den Versuch wohl abgebrochen, als sein zweiter Versuch einer Beziehung zu Alice Locke-Carey (dem Vorbild für Lynn aus »Montauk«) im April 1983 endete; ihr sollte das »Dritte Tagebuch« ursprünglich auch gewidmet sein.

Das »Dritte Tagebuch« setzt die Form der ersten beiden fort: Um eine bestimmt Anzahl von Themen entwickelt Frisch in essayistischen Bruchstücken und kurzen Erzählungen ein Mosaik von Meinungen, Zugriffen und Positionen. Als Hauptthemen kristallisieren sich heraus:

  • Der politische Zustand der USA, wie ein Europäer ihn wahrnimmt,
  • das Sterben des Freundes Peter Noll,
  • der Tod und das Sterben,
  • Frischs Verhältnis zu Frauen (welch eine Überraschung!) sowie
  • Wohnorte und Reisen.

Besonders die politische Ebene ist geprägt von einer überraschenden Naivität; ich müsste nun das »Tagebuch 1966–1971« noch einmal anschauen, um zu sehen, ob diese Einschätzung einer Entwicklung von Frischs oder meiner Perspektive geschuldet ist.

Es stellt sich beim Lesen – wie zu Erwarten ist – kein gerundetes Bild ein, auch nicht die Vorstellung, ein gerundetes Werk habe dem Autor vorgeschwebt, als er das vorhandene Material schrieb. Im Gegenteil sind seine Reflexionen über das Anstreichen von Säulchen und Fensterläden eindrücklicher als seine Gedanken zu den USA und ihrer Politik. Das Buch ist also nur jenen alten Frisch-Lesern ans Herz zu legen, die aus Verbundenheit auch diesen letzten Schritt mit dem Autor noch gehen wollen.

Allen anderen sei vor dem Kauf ein Blick auf die Seiten 138 und 139 empfohlen:

Wollen Sie für eine solche Seitenschinderei tatsächlich Geld ausgeben?

Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Berlin: Suhrkamp, 2010. Pappband, 215 Seiten. 17,80 €.

Vladimir Nabokov: Das Modell für Laura

978-3-498-04691-0 Entgegen dem Anschein, den der Verlag offensichtlich erwecken möchte, dass es sich bei diesem Buch um einen Roman handelt, ist festzustellen, dass es sich nicht einmal um einen Romanentwurf handelt, sondern nur um Fragmente eines solchen Entwurfs. Es ist die Wiedergabe von 138 Karteikarten, die Nabokov für sein letztes Romanprojekt benutzt hat. Auf diesen Karten finden sich der Entwurf zu einigen Kapiteln, unverbundene Fragmente und Notizen sowie einzelne Wörter. Nabokov hatte verfügt, dass die Karteikarten nach seinem Tode vernichtet werden sollten, und seit dem 2. Juli 1977 gab es einen teils öffentlich teils im Verborgenen geführten Streit darum, ob dieser Verfügung nachzukommen sei oder nicht. Nabokovs Frau jedenfalls ist dem Wunsch nicht nachgekommen, so dass die Karten nach deren Tod in den Besitz des Sohns Dmitri gelangten, der sich nun also endlich entschlossen hat, das Material auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Distanz zwischen dem Vorgelegten und dem daraus zu extrapolierenden Werk ist für den Nicht-Fachmann, geschweige denn für einen normalen Leser in keiner Weise abzuschätzen. Da wir auch bei anderen Werke Nabokovs keine Anhaltspunkte dafür haben, wie weit ein erster Entwurf und das spätere Werk auseinanderlagen, ist eine Beurteilung des Materials, die über die Dokumentation der reinen Kenntnisnahme hinausgeht, kaum möglich. Eine Zusammenfassung des Inhalts des Romanprojekts hat Nabokov selbst geliefert:

Bei Das Modell für Laura handelt sich um die vertrackt komplexe Geschichte eines weltberühmten Neurologen namens Philip Wild – fett, gelehrt, um seine Füße besorgt und mit der jungen Flora verheiratet, die Gegenstand eines meisterlichen Schlüsselromans (‹kiss-and-tell› – küsse sie und rede darüber) mit dem Titel Meine Laura geworden war. Da er nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Schriftsteller ist, arbeitet Wild insgeheim an einem Werk, in dem er seine ekstatischen Experimente mit dem Tod beschreibt, nur um von einem gewissen Dr. Aupert – jung, sonnengebräunt und aufgeräumt – zu erfahren, dass er ernstlich krank ist.

Die Präsentation des Materials durch den Rowohlt Verlag ist prätentiös und seitenschindend: Auf jeder Doppelseite stehen sich links die Reproduktion einer Karteikarte und rechts die Übersetzung dieser Karte gegenüber. Nicht nur hätte man ohne Verlust zwei Karten pro Seite wiedergeben, sondern auch die Übersetzung zumindest der ersten Hälfte der Karten als Fließtext präsentieren können. Von der manieristischen Idee, dem Leser die Karteikarten zusätzlich als Kartenset zum Selbstmischen zu liefern, wollen wir hier ganz schweigen.

Insgesamt eine enttäuschende Publikation angesichts der Erwartungen, die seit Jahrzehnten von den Nabokov-Forschern, die Einsicht in das Manuskript hatten, geschürt wurden. Nicht, dass ich dafür plädieren würde, dass man doch besser dem Wunsch Nabokovs nachgekommen wäre, aber den Zirkus, der seit Jahren um diesen Nachlass gemacht wurde, hätte man den Lesern Nabokovs ohne weiteres ersparen können. Parturient montes, nascetur ridiculus mus.

Valdimir Nabokov: Das Modell für Laura. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer und Ludger Tolksdorf. Reinbek: Rowohlt, 2009. Pappband, Lesebändchen, 319 Seiten. 19,90 €.