Allen Lesern ins Stammbuch (54)

Und so einer zu mir etwa sagen wollte, dass man aus dem Lesen der Historien die beste Weisheit erlangen könnte, so will ich ihm dieses nicht ganz und gar verleugnen, wenn er mir nur auch dieses zugibet, dass man daraus auch den grössten Schaden, ja oft den Untergang selbst schöpfen kann.

Agrippa von Nettesheim

Allen Lesern ins Stammbuch (53)

Da das Lesen Mr. Pivner zufolge in jedem Fall eine ernst zu nehmende Beschäftigung war (und zwar das Lesen an sich, ganz gleich ob Werbung oder das Alte Testament), ersparte er sich den gefahrvollen Weg zur Erleuchtung und begab sich stattdessen auf den gut erleuchteten Pfad zur vollständigen Verblödung.

William Gaddis
Die Fälschung der Welt

Allen Lesern ins Stammbuch (52)

Der Doktor Richard hatte ein neues wissenschaftliches Werk gepriesen; »dieses Buch müssen Sie unbedingt lesen«, schloß er, zu dem teilnahmslos dasitzenden Viktor gewendet. Schäumend sprang dieser in die Höhe: »Wie unterstehen Sie sich, mir Befehle zu erteilen?« Und den ganzen Abend ging es: »Herr Doktor, Sie müssen unbedingt diesen Bleistift in den Mund nehmen«, »Herr Doktor, Sie müssen mir unbedingt mein Schnupftuch aus dem Überzieher holen«, »Herr Doktor, Sie müssen jetzt unbedingt sofort nach Hause.«

Carl Spitteler
Imago

Allen Lesern ins Stammbuch (51)

Denn sie wissen Bescheid von allem und ihre Sprache hat eben noch den Zweck, ihnen Bescheid zu sagen. Kein Volk lebt so weit wie dieses von der Sprache als der Quelle seines Lebens. Es schreibt heute das abgestutzte Volapük des Weltkommis und wenn es die Iphigenie nicht gerade ins Esperanto übersetzt, so überläßt es das Wort seiner Klassiker der schonungslosen Barbarei aller Nachdrucker und entschädigt sich in einer Zeit, in der kein Mensch mehr das Schicksal des Wortes ahnt und erlebt, durch Luxusdrucke und ähnliche Unzucht eines Ästhetizismus, der das echtere Stigma des Barbarentums ist als das Bombardement einer Kathedrale, und wäre sie selbst kein militärischer Beobachtungsposten. Denn die ganze Menschheit ist einer; und sie lügt, wenn sie glaubt, ihre Bildung sei ein Beweis gegen ihre Grausamkeit und nicht für diese.

Karl Kraus

Allen Lesern ins Stammbuch (50)

Am besten an der Anwendung zu kennen.

Sind ihrer Manche, die vielerlei Reguln und Richtschnuren fertigen, wie der Dichter es solle machen, wenn er dichtet. Sind ihrer aber eben so Wenige, die das Ding mit den Richtschnuren recht inne haben, als klein guter Dichter Zahl ist. Da setzen sich nun die Regulgeber hin, und meinen’s auszugrübeln, was da Natur sey, und kennen doch keine Erfahrung; und ertappen sie ja ’mal was, das nach Natur aussieht, so können sie doch nicht damit umgehn, stellen’s schief hin, werfen’s durch ’nander, und wenn’s nun gar recht zu dem geht, worauf’s allein ankommt, so wissen sie vollends weder aus noch ein. Da sieht man’s wenn sie sich selbst was unterfangen, und mit ihrem Schifflein aufs weite Meer hinausfahren, da bleiben sie auf allen Sandbänken sitzen, und ist kein Fels wo, auf den sie nicht stoßen.

Friedrich Gottlieb Klopstock
Die deutsche Gelehrtenrepublik

Allen Lesern ins Stammbuch (49)

Aber nun gar die Schaar der Dilettanten! Wie wenig Sinn und Liebe für die Sache, wie erschreckend der Mangel alles Verständnisses, wie so ganz abhängig von gemachter Mode und prunkendem Schein, – und doch dieser dilettantische Andrang zu den Künsten und Wissenschaften! Das Räthsel löst sich so: nicht um ihrer selbst willen werden die Künste gesucht, sondern als bunter Flittertand, um seine liebe Person damit auszuputzen. Die ebenso unverständigen Beurtheiler sind über den Putz entzückt, wenn ihnen die Person gefällt und verachten ihn, wenn sie keinen sonstigen Grund haben, der Person zu schmeicheln.

Eduard von Hartmann
Philosophie des Unbewußten

Allen Lesern ins Stammbuch (48)

»Höchstes Glück der Erdenkinder?« fragte er haßvoll: »Nennen Sie mir einen anständigen Schriftsteller, der gern geschrieben hätte: lieber zeitlebens Scheiße schippen! –: Sind Sie Ihrer Individualität noch nie müde geworden?« Ich senkte den Kopf; ich nickte; es ging ihn zwar nischt an, aber: ja. Täglich etwa zweimal. »Na sehen Sie,« sagte er versöhnt.

Arno Schmidt
Tina oder über die Unsterblichkeit