Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom

Wen sollte meine Musik erfreuen? Sollte sie überhaupt erfreuen? Sie sollte beunruhigen. Sie würde keinen hier beunruhigen.

Furioser Abschluss der Trilogie des Scheiterns, 1954, also nur ein Jahr nach »Das Treibhaus« erschienen. Der Titel ist eine offensichtliche Anspielung auf die Erzählung »Der Tod in Venedig« von Thomas Mann. Bei Koeppen ist der Protagonist jedoch kein Schriftsteller, sondern »Tonsetzer«, der junge Komponist Siegfried Pfaffrath, der allerdings nur eine ausgezeichnete Position in einem Figurenensemble einnimmt. Mit »Der Tod in Rom« kehrt Koeppen erzähltechnisch zum ersten Teil der Trilogie zurück: Auch diesmal verfolgt er zahlreiche Figuren über den Verlauf von gut 48 Stunden, wobei zwei seiner Figuren allein durch die schiere Textmenge, die ihnen zugeordnet ist, ausgezeichnet werden: der schon erwähnte Siegfried Pfaffrath und sein Onkel Gottlieb Judejahn. Siegfried wird darüber hinaus auch noch dadurch herausgehoben, dass über ihn nicht nur personal erzählt wird, sondern er in zahlreichen Passagen auch als Ich-Erzähler auftritt.

Erzählt wird die Begegnung der Mitglieder einer deutschen Familie in Rom Anfang Mai 1954. Friedrich Wilhelm Pfaffrath, Oberbürgermeister einer deutschen Stadt, in der er bereits im Dritten Reich eine entsprechende hohe Verwaltungsposition inne hatte, ist mit seiner Frau, deren Schwester und seinem jüngsten Sohn Dietrich, einem Jura-Studenten, in Rom, um den mit seiner Schwägerin Eva verheirateten Gottlieb Judejahn zu treffen: Judejahn war SS-General und zumindest zeitweilig in dieser Funktion auch in Rom stationiert; zurzeit ist er Militätberater im Nahen Osten, eine Tätigkeit, die er als Fortsetzung seines Kampfes gegen die Juden versteht. Judejahn ist in Rom, um für seine Auftraggeber Waffen zu kaufen.

Pfaffraths älterer Sohn Siegfried ist zur gleichen Zeit in Rom, da anlässlich eines Musik-Kongresses eine seiner Kompositionen uraufgeführt werden soll. Dirigent ist der Siegfried väterlich zugetane Kürenberg, der vor dem Machtantritt der Nazis in der Stadt Pfaffraths tätig war und dessen Frau Ilse eine geflüchtete Jüdin aus eben dieser Stadt ist. Ilses Vater wurde von den Nazis wohl unter direkter Verantwortung Judejahns umgebracht, das Kaufhaus der Familie niedergebrannt. Kürenbergs sind nach England geflüchtet, wo Siegfried später als Insasse eines Gefangenenlagers mit Kürenberg Kontakt aufgenommen hat. Weder Siegfried noch die Kürenbergs ahnen zu Anfang des Romans etwas von den schicksalhaften Verwicklungen ihrer Familien.

Ebenfalls in Rom hält sich Adolf, der Sohn von Judejahn und Eva, auf: Wie Siegfried hat auch er in einer Ordensburg die Erziehungsmaschinerie der Nationalsozialisten durchlaufen, ist dann zu Kriegsende fortgelaufen und hat sich der katholischen Kirche zugewandt. Er ist noch in der Ausbildung zum Priester, was bei seinen beiden Elternteilen massive Verachtung auslöst. Aber auch Siegfried, der seine eigene Homosexualität als eine Folge der Erziehung in der Ordensburg begreift, lehnt den von Adolf gewählten Weg ab: Für ihn ist eine Sinngebung der menschlichen Existenz durch die christliche Religion nicht mehr glaubwürdig. Allerdings kann auch seine in der Hauptsache aus seiner Verzweiflung gespeiste Musik diese Funktion nicht erfüllen. Siegfried ist ganz im Sinne der zeitgenössischen Literatur als existenzialistische Figur entworfen.

Während Koeppens Darstellung des Großbürgertums der unmittelbaren Nachkriegszeit am Beispiel der Familie Pfaffrath eine gewisse resignative Gleichgültigkeit gegenüber der neuen Demokratie und eine sentimentale Trauer um die gute, alte Zeit Großdeutschlands zeigt, gerät ihm Judejahn zum Beispiel eines ungebrochen weiter der Ideologie des Nationalsozialismus anhängenden, unbelehrbaren Fanatikers. Judejahn bereut keine seiner Handlungen während des Dritten Reichs, betont sogar mehrfach, dass der Fehler darin bestanden habe, nicht genug Leute umgebracht zu haben, verwendet weiterhin ungebrochen die Phrasen des Nationanalsozialismus und hat nichts von seiner umfassenden Verachtung alles und aller Nichtdeutschen verloren. Judejahn ist nicht nur immer noch ein williger Handlager des Todes, er selbst ist der Tod in Rom, ohne Menschlichkeit und Mitleid, ohne jegliche Kultur, ungebildet, hasserfüllt und voller Ressentiment. In dieser Figur rechnet Koeppen nicht nur mit der unmenschlichen Ideologie des Dritten Reichs ab, er macht auch deutlich, dass sich Vertreter dieses Denkens immer noch auf freiem Fuß befinden und nur darauf warten, nach Deutschland zurückzukehren, um dort wieder die alten Verhältnisse herbeizuführen. Es wird schwer sein, eine solch intensive Darstellung der Unmenschlichkeit nationalsozialistischen Denkens in einer einzigen Figur in der deutschsprachigen Literatur noch einmal zu finden.

Mit diesem Roman hat leider auch das Romanwerk Koeppens seinen Abschluss gefunden. Es ist sehr bedauerlich, dass dieser Autor, der offensichtlich eine der großen erzählerischen Begabungen der Nachkriegsliteratur war, die Geschichte der Bundesrepublik nicht weiter begleitet hat. Es ist allerdings, nimmt man seine Einschätzung von der Wirkungslosigkeit der Kunst ernst, auch nur zu verständlich.

Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom. In: Gesammelte Werke 2. Romane II. st 1774. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1990. Broschur, S. 391–580 von insg. 581 Seiten.

Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus

Wirklich, die Gründerjahre waren wiedergekehrt, ihr Geschmack, ihre Komplexe, ihre Tabus.

Liest man diesen zwei Jahre nach »Tauben im Gras« erschienenen zweiten Teil der Trilogie des Scheiterns unmittelbar im Anschluss, so fällt zuerst die weit traditionellere Erzählposition des Romans auf. Das liegt wohl vor allem daran, dass Koeppen in diesem Buch von einem einzigen Protagonisten erzählt und alle anderen Figuren deutlich als Randfiguren behandelt werden. Zwar finden sich auch hier immer wieder unvermittelt Übergänge zwischen Beschreibungen der Wirklichkeit und der Gedankenwelt der Figuren, die radikalen Perspektivwechsel aber, die »Tauben im Gras« prägen, treten hier nur vereinzelt auf.

Erzählt werden zwei Tage aus dem Leben des MdB Felix Keetenheuve im Jahr 1953. Keetenheuve gehört der SPD-Fraktion an, gilt seinen Kollegen aber aufgrund seiner Abneigung gegen den Fraktionszwang als unsicherer Kantonist. Dennoch wurde er dafür ausgewählt in einer Bundestagsdebatte zur Außenpolitik die Position der SPD zu vertreten. Keetenheuve, ein literarisch interessierter Intellektueller, flüchtete während der Jahre des Nationalsozialismus ins Ausland, nach Kanada und anschließend nach England, und hat von dort aus über den Rundfunk gegen die Nazis opponiert. Er kehrte nach Kriegsende nach Deutschland zurück und geriet durch sein Engagement gegen Hunger und Elend in die Politik. Er ist radikaler Pazifist und Gegner der Wiederbewaffnung, weshalb er sich in der Debatte gegen die Ratifizierung des EVG-Vertrages aussprechen wird.

Persönlich durchläuft Keetenheuve eine schwere Krise: Seine deutlich jüngere Frau, Tochter eines NS-Gauleiters, ist gerade, wohl an den Folgen ihres Alkoholismus, gestorben und Keetenheuve macht sich schwere Vorwürfe, sie zugunsten seiner politischen Arbeit vernachlässigt zu haben. Folge dieser Schuldgefühle ist eine massive Identitätskrise, die sich im Roman in immer erneuten, schlagwortartigen Rollenzuordnungen niederschlägt. Keetenheuves Zweifel am Sinn seiner politischen Arbeit werden von Stunde zu Stunde radikaler und gipfeln schließlich während seiner Bundestagsrede in der Einsicht, dass all dies nur ein Schauspiel ist, das für eine desinteressierte Öffentlichkeit gespielt wird und in dem keiner der Akteure ihm überhaupt noch zuhört. Alles scheint ihm längst entschieden zu sein, er empfindet sich als isoliert und ohne jeglichen Einfluss. Am Abend des selben Tages beendet Keetenheuve wahrscheinlich sein Leben durch einen Sprung von der Beueler Brücke, die damals noch nicht Kennedybrücke hieß, in den Rhein:

Der Abgeordnete war gänzlich unnütz, er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von dieser Brücke machte ihn frei.

Der Roman ist dicht gespickt sowohl mit zeitgeschichtlichen Details als auch mit literarischen Anspielungen. Er dürfte wegen seiner frühen und radikalen Kritik am bundesdeutschen politischen System, ja am Parlamentarismus überhaupt, der bis heute am meisten gelesene Teil der Trilogie sein.

Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus. In: Gesammelte Werke 2. Romane II. st 1774. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1990. Broschur, S. 221–390 von insg. 581 Seiten.

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras

»Große Glaubenskriege werden kommen«, sagte Philipp.

Mit diesem 1951 erschienenen ersten Teil seiner Trilogie des Scheiterns begründete Wolfgang Koeppen seinen anhaltenden Ruhm als einer der wichtigsten Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Koeppen gelang es mit diesem Roman, sowohl an die erzählerische Tradition der europäischen Moderne anzuknüpfen und deren Techniken souverän einzusetzen, als auch die gesellschaftliche und ökonomische Realität Deutschlands in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg prägnant und detailgenau einzufangen.

Erzählt werden Vorgänge und Ereignisse eines einzigen Tages wahrscheinlich des Jahres 1951 in einer großen süddeutschen Stadt, deren Vorbild offensichtlich München war. Koeppens Erzählung folgt etwa einem Dutzend Haupt- und zahlreichen Nebenfiguren, wobei es sich zumeist um bürgerlich situierte Figuren handelt. Hervorstechend sind zwei Schriftsteller, Philipp (erfolglos und mit Schreibblockade) und Edwin (berühmt, aber voller Zweifel); Emilia, Philipps Freundin aus einer ehemals reichen und einflussreichen, nun aber heruntergekommenen Familie; die Frau eines erfolgreichen Schauspielers mit dem sprechenden Namen Messalina; deren bigottes Kindermädchen Emmi, das in seiner Einfalt versucht, die kleine Tochter Messalinas, Hillegunde, von der Erbsünde zu erretten; zwei schwarze US-amerikanische Soldaten, von denen einer merkwürdiger Weise den deutschen Namen Odysseus trägt und den ganzen Tag über zusammen mit dem Dienstmann Joseph die Stadt durchstreift, der andere eine schwangere weiße Freundin namens Clara hat, die erfolglos versucht, das Kind abtreiben zu lassen; Dr. Behude, ein frei praktizierender Psychologe, bei dem unter anderem auch Philipp in Behandlung ist; und nicht zuletzt eine Gruppe US-amerikanischer Lehrerinnen, die sich auf einer Bildungsreise befinden und für die alte europäische Kultur schwärmen, ohne recht zu begreifen, dass sie gerade in jeglichem Sinne in deren Trümmern stehen.

Zu diesen Figuren gehören jeweils eigene Erzählstränge, die einander im Laufe der Handlung kreuzen, überlappen, miteinander verwoben werden: So ist etwa Philipp an diesem Tag eigentlich unterwegs, um im Auftrag einer Zeitung den Dichter Edwin zu interviewen; er trifft ihn auch, wenn auch eher zufällig, wagt es dann aber nicht, ihn anzusprechen. Doch besucht er dann am Abend Edwins Vortrag, wo er auf zahlreiche der anderen Haupt- und Nebenfiguren trifft. Im Laufe des Tages lernt er Kay, eine der Lehrerinnen kennen, die zuvor in einem Juweliergeschäft bereits Emilia begegnet war, die dort versuchte, alten Familien-Schmuck zu verkaufen. Kay und Emilia wiederum treffen in einer Bar auf Messalina, die mittags Philipp im Hotel Edwins begegnet war, und die zusammen mit ihrem Mann ebenfalls abends den Vortrag von Edwin aufsucht.

Die Erzählung ist aufgeteilt in etwas mehr als hundert große Abschnitte, wobei nicht jeder Abschnitt ausschließlich einem einzigen Handlungsstrang gewidmet ist. Oft finden Wechsel zwischen den Handlungssträngen auch ohne weitere Kennzeichnung von einem Satz zum nächsten statt, wobei Koeppen allerdings die Schnittstellen zumeist deutlich motivisch markiert. Auch werden die meisten Übergänge entweder assoziativ oder durch die Wortwahl vermittelt. Offensichtliche Vorbilder für diese Art des Erzählens sind die Romane Döblins bzw. der »Ulysses« von James Joyce. Dabei überrascht den Leser weniger Koeppens Anknüpfen an diese Tradition, als vielmehr sein anscheinend müheloser Umgang mit deren Techniken. Koeppens zeigt mit diesem Text sein erstaunlich exaktes Gespür dafür, was unbedingt zu erzählen ist bzw. was weggelassen werden kann, wo die Übergänge zwischen den Erzählsträngen zu setzen sind und wie trotz diesem komplexen Erzählmuster Spannungsbögen erzeugt werden können. Es ist nicht so, dass wirklich alle Abschnitte das hohe erzählerische Niveau der ersten 100 oder 150 Seiten halten können, doch insgesamt entsteht aus den Einzelelementen ein gerundetes und überzeugendes Gesamtbild. Es ist angesichts dieses virtuosen Erzähltalents äußerst bedauerlich, dass Koeppen nach den drei Romanen Anfang der 50er Jahre keine weiteren mehr veröffentlicht hat.

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. In: Gesammelte Werke 2. Romane II. st 1774. Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1990. Broschur, S. 7–219 von insg. 581 Seiten.

P.S.: Bei dieser Gelegenheit sei auf die kleine Erzählung »Nichts als eine schwarze Fahne« von Herbert Rosendorfer hingewiesen, in deren Zentrum Wolfgang Koeppen steht und die unter anderem die ebenso wahre wie wundervolle Anekdote nacherzählt, wie einmal Marcel Reich-Ranicki Koeppen um eine persönliche Widmung in eine Erstausgabe gebeten hat.