William Shakespeare: Die Fremden

Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß der Gegensatz von Kunst nicht Natur ist, sondern gut gemeint.

Gottfried Benn

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Ein sehr dünnes Buch aus dem man sehr viel lernen kann, weniger über Shakespeare oder Mitgefühl oder Ethik, aber übers Marketing. Auch braucht man sich keine Sorgen um seine Allgemeinbildung zu machen, weil man nie zuvor von einem Stück Shakespeares mit dem Titel „Die Fremden“ gehört hat; das gibt es nicht und es ist auch nicht neuerdings entdeckt worden. Es handelt sich bei dem Büchlein vielmehr um den Versuch, aus dem bestehenden Mitgefühl vieler Deutscher Profit zu schlagen – die knapp 70 Seiten kosten immerhin 6,– € –und das lose Geld aus der Spendenbereitschaft vieler Deutscher dem notleidenden Verlag dtv zufließen zu lassen.

Was man im Kern erwirbt, wenn man das Büchlein kauft, sind 8 – in Worten: acht! – Seiten Shakespeare, allerdings sowohl im englischen Original als auch in der Übersetzung Frank Günthers, und zudem eine Menge von Ratschlägen, wie man denn den Text am besten zu verstehen habe. Das beginnt beim Untertitel „Für mehr Mitgefühl“, der in anderen Zeiten ebensogut „Für mehr staatsbürgerlichen Gehorsam“ hätte lauten können. Damit auch der letzte Depp noch in der Buchhandlung begreifen kann, von welch zentraler Bedeutung der Erwerb des Buches ist, prangt auf dem Umschlag ein roter Aufkleber mit den aufrüttelnden Worten:

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Das Buch beginnt dann mit einem erschütternden Vorwort von Heribert Prantl, der wie kein anderer prädestiniert ist, festzustellen, dass das Land einen neuen Thomas Morus braucht; zum Glück erwähnt er nicht, dass nicht nur die Rede, die Shakespeare Morus in den Mund gelegt hat, vollständig fiktiv ist, sondern er kümmert sich ebensowenig darum, dass Morus’ Auftreten beim Aufstand 1517 vollständig unwirksam war und die Krone die fremdenfeindlichen Ausschreitungen damals mit militärischer Gewalt unterdrücken musste.

Nachdem man von Prantl darauf vorbereitet worden ist, wie man den nachfolgenden Text zu verstehen habe, wird man eingeführt, nicht etwa in das Fragment des Theaterstücks über Thomas Morus, das ein Kollektiv von Autoren, die heute kaum einer mehr kennt, um das Jahr 1600 zu verfassen versuchte, aber am Widerstand der elisabethanischen Zensur scheiterte, sondern in ein Fragment dieses Fragments, nämlich der einzigen Szene dieses Stücks, bei der sich die Shakespeare-Forschung inzwischen darauf geeinigt hat, dass sie direkt aus der Hand des Stratforder Meisters stammt: (vielleicht) das einzige literarische Manuskript, das von Shakespeare erhalten geblieben ist.

Wir erfahren nun, was zuvor geschah: nämlich, dass die Fremden –es handelt sich um religiöse, politische und wirtschaftliche Flüchtlinge aus Frankreich und Flandern – gegenüber den einheimischen Londoner Händlern und Handwerkern übergriffig geworden sind, ihnen also nicht nur wirtschaftliche Konkurrenz gemacht, sondern sich auch so benommen haben, wie es Gästen nicht zusteht. Dies wird im Stück nicht als Gerücht oder üble Nachrede behandelt, sondern als tatsächliches Geschehen auf der Bühne vorgeführt. Schon das könnte einen Schatten auf die Interpretation werfen, die das Buch versucht, seinen Lesern zu verkaufen.

Doch nun kommen endlich die knapp acht Seiten Shakespeare: Die aufgebrachte Londoner Bevölkerung hat sich zusammengerottet und will sich auch nicht von den herbeigeeilten Adeligen beruhigen lassen. Allerdings sind die Bürger bereit, Thomas Morus, seines Amtes Sheriff, anzuhören. Morus beruhigt die Bürger im Wesentlichen mit zwei Argumenten: Ihr Aufstand sei ein Akt des Ungehorsams gegen den König und damit zugleich gegen Gott; und außerdem sei ihr Ziel unmoralisch, denn sie verstießen gegen den Grundsatz, dass man andere so zu behandeln habe, wie man selbst behandelt werden wolle. Er verspricht den Aufständigen sich für ihre Begnadigung einzusetzen, und diese antworten, wie es vernünftige Aufständige zu jeder Zeit getan haben: Wenn nur Thomas Morus ihnen nicht böse sein wolle und sich für sie verwende, so gingen sie liebend gern ins Gefängnis. Daraufhin lassen sie sich willig abführen. Wenn nur der braune Mob so nachgiebig wäre.

Auch im weiteren Stück geht es nicht um die Fremden im Lande, sondern um das Schicksal der Aufständigen: Diese werden allesamt nach gutem Recht zum Tode verurteilt, einer auch aus Versehen und um der dramatischen Wirkung willen schon einmal gehängt, als die Nachricht eintrifft, dass Morus sich beim König kniefällig für sie verwandt und ihre Begnadigung erlangt hat. Große Freude im Lande: Pegida ist doch gar nicht so schlimm!

Man muss Übersetzer Frank Günther zugute halten, dass er im Anhang zu diesem Nichts von einem Text zugesteht, dass es sich bei der humanitären Rede Morus’ um eine rein rhetorische Übung Shakespeares handelt. Auch wird dem Leser – wenn er denn bis dahin vordringt – mitgeteilt, dass die historischen Ereignisse des Jahres 1517 mit der Darstellung im Theaterstück von 1600 nicht so sehr viel gemein haben (bis vielleicht auf die Kleinigkeit, dass hier wie da die Fremden selbst Schuld sind an dem Zorn, der ihnen entgegenschlägt), ja sogar, dass der kurze Text kaum zu dem Zweck taugt, zu dem er hier instrumentalisiert wird. Aber was soll’s: Er ist von Shakespeare, und es ist ja immerhin gut gemeint! Und Geld bringt’s auch.

Ein Buch VON ERSCHÜTTERNDER AKTUALITÄT.

William Shakespeare: Die Fremden. Für mehr Mitgefühl. Aus dem Englischen von Frank Günther. dtv 14555. München: dtv, 2016.  Broschur, 69 Seiten. 6,– €.

Hazel Hutchison: Henry James

Hutchison-JamesWie an anderer Stelle bereits erwähnt, erfährt Henry James im Vorfeld der 100. Wiederkehr seines Todestages eine kleine Renaissance in Deutschland. Dazu gehört auch die Veröffentlichung einer kurzen, populären Biographie beim Parthas Verlag. Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Englischen, und das Elend mit dem Buch beginnt bereits im Impressum, dem nicht zu entnehmen ist, wann und wo das Original einst erschienen ist (London: Hesperus Press, 2012). Die Autorin Hazel Hutchison ist, so der Waschzettel, „spezialisiert auf die Literatur des 19. Jahrhunderts“, eine Behauptung, die ich nicht per se in Zweifel ziehen will, … Für diese kurze Biographie wenigstens hat sie annähernd genug gelesen. Insgesamt kann man unempfindlicheren Lesern das Buch durchaus in die Hand geben, bei sensibleren Naturen würde ich davon abraten.

Das Buch ist eine jener Komplettkatastrophen, die nur selten in dieser Reinheit zutage treten: Die Autorin verfügt entweder nicht über ausreichend Bildung für das, worüber sie schreibt, oder sie hat schlicht schlampig gearbeitet, das Deutsch der Übersetzerin ist schlecht und ihre Übersetzung zumindest an einigen Stellen schlicht falsch und schließlich liegt auch noch ein Totalversagen der Lektorin vor, deren Namen der Verlag – vielleicht zur Strafe? – im Impressum ausdrücklich anführt.

Beginnen wir mit der Autorin: Mag es gerade noch so angehen, William Makepeace Thackeray als „comic novelist“ zu charakterisieren, so ist es ganz sicher falsch, jenes Fort, dessen Beschießung den Beginn des Amerikanischen Bürgerkriegs markiert, Fort Summer zu nennen (das allerdings könnte auch auf die Kappe von Übersetzerin oder Lektorin gehen; ich habe die Originalstelle nicht ansehen können) und es nach North, statt richtig nach South Carolina zu verlegen. Auch die Behauptung, der 14-jährige Henry James habe Gemälde der Präraffaeliten in der Londoner National Gallery gesehen, bezeugt die weitgehende Ahnungslosigkeit der Autorin, was die allgemeine Kultur des 19. Jahrhunderts angeht. (Es mag durchaus sein, dass James bereits um 1857 Bilder der Schule angeschaut hat, aber wenn, dann in der Royal Academy; die Sammlung der National Gallery enthielt zu dieser Zeit noch gar keine zeitgenössischen Werke.) Auch, dass sie zu faul ist nachzuschlagen, wie alt Turgenjew im November 1875 war, als James ihn kennenlernte, und sich mit einem nicht nur ungefähren, sondern einfach falschen „um die fünfzig“ begnügt, wirft kein gutes Licht auf das Buch.

Es ist durch die Übersetzung nicht besser geworden: Bereits die Übersetzung der oben erwähnten Phrase vom „comic novelist“ mit „Komödiendichter“ ließ mich Arges befürchten, aber dies ist nur der Auftakt zu einer ganzen Bonanza von Rechtschreibfehlern, willkürlich gesetzten oder weggelassenen Kommas, fehlenden Apostrophen, adjektivisch gebrauchten Adverbien, grammatikalisch falschen Konstruktionen, falschen „dass“, unglücklichen Übersetzungen Falscher Freunde und gröbsten stilistischen Schnitzern, dass es bald aufhört, ärgerlich zu sein, und sich der Leser köstlich über die schiere Menge an Patzern zu amüsieren beginnt.

All dies hätte durch das Lektorat aufgefangen werden müssen, doch ist dies nicht nur nicht geschehen, die Lektorin hat ihren Beitrag zum Gelingen der vollständigen Katastrophe geleistet: So teilt uns etwa der Text mit, dass sich das Ehepaar Edith und Teddy Wharton 1905 ein Automobil zugelegt hatte, in dem herumkutschiert zu werden, Henry James offenbar großen Spaß bereitete. Auf der gegenüberliegenden Seite wird dies illustriert durch ein Bild, das das Ehepaar Wharton und Henry James angeblich 1904 in dem betreffenden Automobil zeigt. Auf S. 82 bekommen wir ein kleines Porträt-Bild von Constance Fenimore Woolson zu sehen, das sie im Jahre 1887 zeigt; ergänzend bringt S. 101 ein nahezu identisches Bild angeblich aus dem Jahr 1890. Hinzukommen falsche Worttrennungen, und sogar einer der heute so selten gewordenen Zwiebelfische hat es ins Buch geschafft.

Kurz gesagt: Mir ist seit Jahren kein so durch und durch schlampig gemachtes Buch mehr in die Hand gekommen. Mag sein, hier wurde ein neuer Standard begründet!

Hazel Hutchison: Henry James. Übersetzt von Ute Astrid Rall. Berlin: Parthas, 2015. Pappband, 224 Seiten. 24,80 €.

P.S.: Noch ein Detail am Rande: Das Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek unter dem falschen Autorennamen Hutchinson erfasst. Vielleicht wird es ja so gnädigerweise unauffindbar.

W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹

Zunächst war die sittliche Libertinage also eine Erfindung der Propaganda gegen heterodoxe Denker. Im 17. Jahrhundert untermauerten englische Sittenstrolche in der Tat ihre sexuellen Freizügigkeiten mit einer Verachtung herkömmlicher Religion, die sie als heuchlerisch und sinnenfeindlich anprangerten.

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W. Daniel Wilson gibt gern das Enfant terrible der Goethe-Forschung. Im Jahr 1999 gelang ihm mit „Das Goethe-Tabu“ der erste größere Erfolg in dieser Rolle, als er nachwies, dass es sich bei Goethe – einem Mann der immerhin ein knappes Jahrzehnt Minister und den Großteil seines Lebens Geheimer Rat in einem deutschen Kleinstaat gewesen war – nicht um das Vorbild eines liberalen Demokraten gehandelt hatte, sondern um einen ziemlich konservativen, staatserhaltenden und restriktiven politischen Kleingeist, der vor der Zensur freiheitlichen Gedankengutes auch nicht einen Augenblick zurückschreckte. Die meisten Goethe-Kenner gähnten angesichts dieser tiefen Einsicht, die ihnen schon vor etwa hundert Jahren einmal irgendwo über den Weg gelaufen war, aber immerhin ließ sich dadurch eine Ikone der akademischen Goethe-Verkennung wie Katharina Mommsen zu Dummheiten im Goethe-Jahrbuch hinreißen. In London poppten die Sektkorken!

Seitdem liefert Wilson mit schöner Regelmäßigkeit weitere schockierende Erkenntnisse über Goethe: Der habe – wenn auch vielleicht nicht selbst homosexuell – über Homosexualität nicht nur Bescheid gewusst (wer mag es ihm verraten haben?), sondern diese Kenntnisse sogar hier und da in seinen Schriften aufscheinen lassen. Ei, der Doppeldaus!

Und heuer: Goethes Erotica! Nun wäre das Sexuelle bei Goethe durchaus ein reizvolles Thema, galt der Weimarer Meister doch zahlreichen seiner Zeitgenossen als zu freizügig und seine Schriften als nicht unbedingt geeignet, um in die Hände eines unverheirateten Mädchens – schon damals die bedeutendsten und dankbarsten Rezipienten deutscher Klassik – gelegt zu werden. Dazu müsste man sich etwa mit dem „Faust“ beschäftigen, in dem die Sexualität als Mittel zur Lebensfreude eine bedeutende Rolle spielt:

Faust.
Ich bin ihr nah’, und wär’ ich noch so fern,
Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren;
Ja, ich beneide schon den Leib des Herrn,
Wenn ihre Lippen ihn indeß berühren.

Mephistopheles.
Gar wohl, mein Freund! Ich hab’ euch oft beneidet
Um’s Zwillingspaar, das unter Rosen weidet.

Faust.
Entfliehe, Kuppler!

Mephistopheles.
Schön! Ihr schimpft, und ich muß lachen.
Der Gott, der Bub’ und Mädchen schuf,
Erkannte gleich den edelsten Beruf,
Auch selbst Gelegenheit zu machen.
Nur fort, es ist ein großer Jammer!
Ihr sollt in eures Liebchens Kammer,
Nicht etwa in den Tod.

Im „Faust“ ist es immer wieder eher erstaunlich, was verlegerische und staatliche Zensur im Buch haben stehen lassen als die wenigen Zensurstriche, die dann doch erzwungen wurden.

Faust mit der jungen tanzend.
Einst hatt’ ich einen schönen Traum;
Da sah ich einen Apfelbaum,
Zwey schöne Aepfel glänzten dran,
Sie reizten mich, ich steig hinan.

Die Schöne.
Der Aepfelchen begehrt ihr sehr
Und schon vom Paradiese her.
Wie freudig fühl’ ich mich bewegt,
Daß auch mein Garten solche trägt.

Mephistopheles mit der Alten.
Einst hatt’ ich einen wüsten Traum;
Da sah ich einen gespaltnen Baum ,
Der hatt’ ein — — —;
So — es war, gefiel mir’s doch.

Die Alte.
Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt’ er einen — — bereit,
Wenn er — — — nicht scheut.

Auch hier passierten die weiblichen Brüste (wieder biblisch verbrämt) unbehelligt die Zensur, doch das ,ungeheure Loch‘, das aus dem Reimwort ,doch‘ und der für den Versrhythmus erforderlichen Silbenzahl eventuell erraten werden konnte, ist dann zuviel. Zusätzlich wird auch das Adjektiv ,groß‘ in der darauffolgenden Zeile gestrichen, um das korrekte Verständnis noch weiter zu erschweren. (Wer wissen will, was die Zensurstriche der letzten Strophe verbergen, soll ruhig einmal eine Goethe-Ausgabe zur Hand nehmen oder zumindest googlen).

Noch interessanter aber scheint mir, dass nur wenige Verse später eine geni(t)ale Anspielung dem wachsamen Auge der Zensoren entgangen ist:

Mephistopheles […] zu Faust der aus dem Tanz getreten ist.
Was lässest du das schöne Mädchen fahren?
Das dir zum Tanz so lieblich sang.

Faust.
Ach! mitten im Gesange sprang
Ein rothes Mäuschen ihr aus dem Munde.

Mephistopheles.
Das ist was rechts! Das nimmt man nicht genau.
Genug die Maus war doch nicht grau.
Wer fragt darnach in einer Schäferstunde?

Auch im Zweiten Teil der Tragödie fanden sich entsprechend schlimme, die Zeitgenossen erregende Stellen, so etwa der von den Ärschlein der Faust in den Himmel entführenden Engel sexuell erregte Mephistopheles (erstaunlich, dass wenigstens einer der Leser der Erstausgabe überhaupt bis zu dieser Stelle vorgedrungen ist). Weit süffigere aber hatte Goethe so gut versteckt, dass sie nicht einmal von den Herausgebern bemerkt worden waren:

Alt-Wälder sind’s! die Eiche starret mächtig,
Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.

Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.

Auch das darf mit Fug ein Schäferstündchen heißen!

Dann könnte man etwa über jenen ehelichen Geschlechtsverkehr und doppelten Ehebruch nachdenken, den Goethe in „Die Wahlverwandtschaften“ mit einer für seine Zeit außerordentlichen Deutlichkeit schildert und der ihm viel Kritik aus den Kreisen ordentlicher Bürger einbrachte. Denn merke:

Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
Was keusche Herzen nicht entbehren können.

Um den erotischen oder sexuellen Anteil an Goethes Werken richtig einschätzen zu können, wäre allerdings einiges an Vorarbeit zu leisten: So wäre zu sichten, was es an erotischer und pornographischer Literatur im 18. Jahrhundert gab, wie sie reproduziert und gehandelt wurde, wer mit wem darüber wie kommuniziert hat, ob und wie sich die Grenzbezeichnungen ,Unsittliches‘, ,Erotisches (Erotica)‘ und ,Pornographie‘ im allgemeinen Gebrauch der Zeit voneinander unterschieden (anstatt wie Wilson im aktuellen Duden (!) nachzuschauen, wie der Pornographie definiert), wie unterschiedlich antike und neuzeitliche Erotica bewertet und behandelt wurden, wie mit offen unsittlichen Autoren wie Shakespeare verfahren wurde, welche überaus differenzierten Unterschiede die Zeitgenossen Goethes zwischen privater und öffentlicher Rezeption und zwischen privatem und öffentlichem Urteil machten usw. usf. Das alles ist ein sehr weites Feld, auf dem nicht nur literarhistorische, sondern auch wichtige soziologische und hygienische Erkenntnisse über das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert zu heben wären.

Aber keine Sorge, Wilson macht nichts von alledem. Stattdessen konzentriert er sich im Wesentlichen auf zwei Gedichtzyklen Goethes nach antiken Vorbildern – die „Römischen Elegien“ und die „Venezianischen Epigramme“ – und deren Publikationsgeschichte; ganz am Ende kommt noch ein bisschen „West-östlicher Divan“ dazu, weil ihm wohl wer gesteckt hat, dass es auch da verborgene Sauereien gibt. Dabei konstruiert sich der Skandal in zwei Tatbeständen: Zum einen, dass beide Zyklen zu Goethes Lebzeiten (und auch später noch) nicht vollständig abgedruckt wurden, was Wilson gerne unter Zensur, nein, Entschuldigung: ,Zensur‘ bzw. ,Selbstzensur‘ verbucht haben möchte. Zum anderen, dass in den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ Stellen abgeschabt und ausradiert und später sogar ausgeschnitten wurden. Schauen wir uns die Teilskandale nacheinander an:

Schon bei der Niederschrift beider Gedichtzyklen war Goethe bewusst, dass an eine vollständige Veröffentlichung dieser Gedichte in ihrer ursprünglichen Form kaum zu denken war. Die „Römischen Elegien“ waren für Schillers Zeitschrift „Die Horen“ vorgesehen, eine Auswahl der „Venezianischen Epigramme“ für einen von Schiller herausgegebenen Musen-Almanach. In beiden Fällen nahm Schiller also seine Pflichten als Herausgeber wahr, las die Texte, besprach mit Goethe, was im Druck mitteilbar wäre, was man seiner Meinung nach streichen müsste bzw. welche der Epigramme für den Almanach überhaupt nicht in Frage kämen (das waren die explizit sexuellen und die antiklerikalen bzw. antichristlichen). Außerdem hatte Goethe die Elegien dem Herzog Karl August und Herdern vorgelesen, bei denen er damit rechnen konnte, dass sie die antikisierende Form goutieren und den dazu passenden Inhalt wie erwachsene Männer wahrnehmen konnten. Beide lobten die Gedichte, rieten von einer Veröffentlichung dennoch gänzlich ab, was Goethe aber nicht daran hinderte, die Elegien mit Ausnahme von vieren in den „Horen“ erscheinen zu lassen. Auf Schillers Vorschläge zur Einkürzung zweier Elegien reagierte er, in dem er diese komplett zurückzog; er wollte sie also lieber gar nicht als verstümmelt drucken lassen. Nichts von all dem ist skandalös, nichts hat mit Zensur oder Selbstzensur zu tun, ob nun in Anführungsstrichen oder nicht, sondern es stellt einen für fast alle Zeiten ganz normalen Publikationsprozess dar. Wilson dagegen möchte aus dem Vorgang um die Elegien eine große Enttäuschung Goethes konstruieren, die im Nachklapp fast noch zu einer Staatsaffäre geworden wäre, wenn man nur wüsste, ob und weshalb der Herzog ein späteres Gedicht Goethes im Geheimen Consilium hat besprechen lassen wollen. Doch: Dem Skandaliseur ist nix zu schwör: Mit Hilfe der Wörtchen ,wahrscheinlich‘, , sicherlich‘ und ,offenbar‘ (dies besonders gern an Stellen verwendet, an denen nun wirklich nichts, aber auch gar nichts offenbar ist) kann man immer einen Skandal dort erzeugen, wo nichts ist.

Beim zweiten Teilskandal handelt es sich um die Frage, wer für die Abschabungen bzw. das Ausschneiden aus den Handschriften der „Venezianischen Epigramme“ verantwortlich war. Hier ist hervorzuheben, dass sich Wilson wenigstens dafür stark macht, die Großherzogin Sophie vom Verdacht auszunehmen, aber ansonsten kann er auch hier nur ausführlich herumraten und vermuten, wer es nicht gewesen ist. Schließlich legt er sich im Ausschluss-Verfahren beim Abschaben auf Walther von Goethe und beim Ausschneiden auf Bernhard Suphan oder Carl August Hugo Burkhardt, ja, nun gerade nicht fest.

All das ließe sich auch auf 8 statt auf 180 Seiten sagen, macht aber dann kein rechtes Skandalon. Folgen noch einige gehaltlose Anwürfe gegen die Hamburger Ausgabe und ihren Herausgeber sowie ein wenig oberflächlich Angelesenes über den ,Libertin‘ (siehe oben das Motto über die „englischen Sittenstrolche“!) und ob Goethe einer war (eigentlich nicht, aber in einigen Zügen dann doch vielleicht eher oder auch naja soso). Um noch ein letztes Mal den Dichter selbst zu bemühen:

Getretner Quark
Wird breit, nicht stark.

Schlägst du ihn aber mit Gewalt
In feste Form, er nimmt Gestalt.

W. Daniel Wilson: Goethes Erotica und die Weimarer ›Zensoren‹. Hannover: Wehrhahn, 2015. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 256 Seiten. 19,80 €.

Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit

… – es macht keinen Unterschied.

Harari-Kurze-GeschichteEin so schlechtes Buch, dass es sich kaum lohnt, es überhaupt zu besprechen, außer in dem Sinne, dass es der einen oder dem anderen die Lektüre ersparen wird. Der Autor ist Historiker, was man dem Buch aber nicht anmerkt. Nach einem Überblick über die Frühgeschichte der Menschheit geht der Autor dazu über, sich sehr allgemein darüber auszulassen, wie die menschliche Gesellschaft seiner Meinung nach funktioniert. Seine Haupteinsicht besteht darin, dass es sich bei menschlichen In­sti­tu­tio­nen und Ü­ber­zeu­gun­gen um Fiktionen handelt, die nichtsdestowe­ni­ger wirksam sind. Zwar kann Harari weder erklären, wie solche Fik­tio­nen installiert werden (sie werden einfach von jemandem erfunden), noch warum sie perpetuiert werden, wenn sie ihre Nützlichkeit ver­lo­ren haben, was ihn aber in keiner Weise dabei stört, ein schlecht durch­dach­tes Beispiel ans andere zu hängen, ohne ein einziges Mal auf Strukturen der Macht zu sprechen zu kommen. Auch handelt es sich bei der Geschichtswissenschaft und den Naturwissenschaften offenbar nicht um solche Fiktionen; auch seine Theorie vom fiktiven Charakter der gesellschaftlichen Institutionen scheint von dieser Theorie aus­ge­nom­men zu sein – so ein Glück!

Es lohnt nicht, Hararis Geschwätz detaillierter zu beschreiben. Die Argumentation des Buches ist flach, dumm, ermangelt jeglicher Selbst­ref­le­xion und weitgehend der Sachrichtigkeit.

Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2013. Pappband, 526 Seiten. 24,99 €.

Drei Propheten

Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden, [/] Doch ihre Weine trinkt er gern.

Goethe

Klages-MenschEs ist nicht wirklich verwunderlich, dass es noch Menschen gibt, die den Wirrkopf Ludwig Klages lesen. Klages ist durch seine – na, Nähe zum wäre ein Euphemismus; sagen wir also: Verwickelung mit dem Nationalsozialismus in Misskredit geraten, dem er nur deshalb nicht komplett in die Fänge gegangen ist, weil Alfred Rosenberg in ihm eine ernstzunehmende Konkurrenz sah und ihn verbellt hat. Alles in allem ist Klages Position heute undiskutabel geworden: zuviel Mythengeraune, Völkisches, Rassistisches schwebt da allenthalben umeinander, als dass man ihn noch einmal auszugraben versuchen könnte.

Verwunderlich ist bei dieser Lage der Dinge aber, dass sein Vortrag „Mensch und Erde“ von 1913 regelmäßig wieder aufgelegt und offenbar auch gelesen wird. Das Jubiläumsjahr 2013 sieht diesmal sein Wiedererscheinen bei Matthes & Seitz, die so unverdächtig des falschen Gedankenguts sind, dass sie sich auch leisten können, wirre, rechte Rassisten zu drucken. Mit diesem Vortrag, den er bei einer jugendbewegten Gedenkfeier zum 100. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig gehalten hat, ist Klages zu einem der frühen Propheten der ökologischen Bewegung geworden. Zumindest wenn man den Text nur kursorisch liest, klagt Klages die wissenschaftliche Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Zerstörung der Arten und Lebensräume an. Vieles von dem, was er an Beispielen anführt, ist zwar eher der westlichen Luxus- und Massengesellschaft anzulasten als konkret dem Projekt der Durchtechnisierung  der Welt, aber da Klages ebenso den Verfall der Kultur, die Vernichtung der Naturvölker und Vertreibung der Wölfe aus Europa bedauert, kommt es so genau nicht darauf an. Wichtig sind nur zwei Dinge: Die Welt ist in einem üblen Zustand und Rettung wird kommen in einem mythischen Endkampf, in dem die Gerechten am Ende durch mindestens ein Wunder den Sieg davontragen.

Was sich in der Wiederauflage des Büchleins – und in dem hier und da affirmativen Zitieren Klages’ – allerdings deutlicher zeigt als in Klages Vortrag selbst, ist die fortschreitende Fragmentierung – fast hätte ich Eklektizismus geschrieben, aber das hieße das Brouhaha unserer Zeit schon überschätzen – unserer Kultur, also das, was in aller Hilflosigkeit Postmoderne genannt wird – Epigonentum am Epigonentum, wenn es je eines gegeben hat. Wer Klages war, was er tatsächlich gemeint haben könnte, all das ist völlig gleichgültig. Da er ein paar undeutliche Phrasen und Zusammenhänge zur Verfügung stellt, die irgendwie in unseren Kram passen, zitieren wir ihn fröhlich und kümmern uns einen Dreck um den Rest. Den kennt ja ohnehin keiner.

Ludwig Klages: Mensch und Erde – ein Denkanstoß. Berlin: Matthes & Seitz, 2013. Broschur, 62 Seiten (wovon der Vortrag selbst 30 Seiten umfasst). 10,– €.

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Emmott-Zehn-MilliardenGanz in dieselbe Kerbe, wenn auch mit einem anderen Beil, schlägt Stephen Emmotts Traktat „Zehn Milliarden“. Auch er beschwört den nahenden Untergang der Menschheit innerhalb des laufenden Jahrhunderts. Emmotts, der es für nötig hält zu betonen, dass er Wissenschaftler sei (S. 15), malt ein schwarzes Bild von einer Zukunft, in der nicht nur 10 Milliarden Menschen den Planeten bevölkern und ihn damit durch die Produktion von Lebensmitteln, den übermäßigen Verbrauch von Wasser und die Produktion von Abfall notwendig zerrütten, sondern er bezweifelt auch, dass noch ein gangbarer Weg existiert, den katastrophalen Untergang der menschlichen Spezies an den Folgen ihrer eigenen Existenz zu verhindern. Darin ist ihm zuzustimmen. So wird es kommen, und je eher je besser.

Doch leider kann seiner optimistischen Einschätzung vom Untergang der Menschheit nicht zugestimmt werden, da sich die Spezies, auch wenn sie etwas anderes glaubt, auch weiterhin als Teil eines natürlichen Systems darstellt, das sich erlauben wird, sie auf das Maß zusammenzustutzen, das bedauerlicherweise ihre weitere Existenz, unter welchen Bedingungen dann auch immer, ermöglichen wird. Aber davon haben andere anderswo ausreichend ausführlich geschrieben.

Die ironische Pointe an dem Büchlein von Emmott ist jedoch, dass auch sein Inhalt deutlich zu kurz ist, um allein eine für den Buchmarkt geeignete Verkaufseinheit zu bilden. Während Matthes & Seitz sich die Mühe macht, dem Klages ein etwa gleich langes Nachwort anzuhängen, greift Suhrkamp zu einem schon andernorts erprobten Mittel: Man nimmt einfach den PowerPoint-Vortrag des Autors und druckt ihn 1:1 ab; so geraten auf viele Seiten nur ein oder zwei Sätze, die dort einen ganz wundervoll einprägsamen Eindruck machen. Damit gelingt es Suhrkamp, das Textlein auf stattliche 200 Seiten auszuwalzen. Das ist natürlich eine grandiose Idee bei einem Buch, dessen Kern die Kritik der Verschwendung von natürlichen Ressourcen bildet. (Wer mag, kann sich auf der Seite des Suhrkamp Verlages mittels einer Leseprobe einen Eindruck von diesem Meisterwerk des Buchdrucks verschaffen.)

Stephen Emmott: Zehn Milliarden. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Berlin: Suhrkamp, 2013. Bedruckter Pappband, 206 Seiten. 14,95 €.

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Ein Kubikkilometer genügt

Ein Mathematiker hat behauptet,
daß es allmählich an der Zeit sei,
eine stabile Kiste zu bauen,
die tausend Meter lang, hoch und breit sei.

In diesem einen Kubikkilometer
hätten, schrieb er im wichtigsten Satz,
sämtliche heute lebenden Menschen
(das sind zirka zwei Milliarden!) Platz!

Man könnte also die ganze Menschheit
in eine Kiste steigen heißen
und diese, vielleicht in den Kordilleren,
in einen der tiefsten Abgründe schmeißen.

Da lägen wir dann, fast unbemerkbar,
als würfelförmiges Paket.
Und Gras könnte über die Menschheit wachsen.
Und Sand würde daraufgeweht.

Kreischend zögen die Geier Kreise.
Die riesigen Städte stünden leer.
Die Menschheit läge in den Kordilleren.
Das wüßte dann aber keiner mehr.

Erich Kästner
Gesang zwischen den Stühlen (1932)

Stefan Zweig: Schachnovelle

Es hat wenig Sinn, über die Partie zu berichten.

Zweig_SchachnovelleEs ist tatsächlich so, dass ich länger Schach spielen als lesen kann (die unerwiderte Liebe zu diesem Spiel habe ich – außer einem überdurchschnittlichen Gedächtnis – von meinem Vater geerbt; sonst war es nicht viel). Und seit ich vor mehreren Jahrzehnten zum ersten Mal Stefan Zweigs »Schachnovelle« gelesen habe, wollte ich immer mal etwas zu diesem Text schreiben, der wohl unter die überschätztesten der deutschsprachigen Literatur gerechnet werden darf. Insbesondere Menschen, die den Spinger hartnäckig Pferd zu nennen pflegen, zeigen sich begeistert über dieses angeblich feine Porträt eines intellektuellen Opfers nationalsozialistischer Gewalt, das zudem durch die Tatsache geadelt wird, dass der Autor als Exilant im fernen Südamerika über der Veröffentlichung verstorben ist.

Nun bietet eine neue Ausgabe bei dtv Anlass, diesen alten Vorsatz endlich umzusetzen. Die »Bibliothek der Erstausgaben« ist eine inzwischen gar nicht mehr so kleine Reihe, die gar nicht genug gelobt werden kann. Hier werden – entgegen dem derzeitigen verlegerischen Trend zur Anpassung, Glattschleifung und Vereinheitlichung der Literatur entlang der Vorgaben seelenloser Sprachbürokraten im Namen der sogenannten Lesbarkeit – deutschsprachige Bücher in der Form nachgedruckt, wie sie sich zum ersten Mal den Augen der Öffentlichkeit präsentierten, mit allen Manierismen, Verwerfungen und Fehlern, mit denen ein Text behaftet ist, von dem zu diesem Zeitpunkt noch niemand ahnt, dass er sich einmal zum Klassiker mausern wird. Als die Reihe in den 90er Jahren zuerst erschien, habe ich die erste Charge, so um die 50 Bände, komplett gekauft, und trotz inzwischen erheblichem Platzmangel in der Bibliothek stehen die Bände immer noch im Regal:

Bibliothek_der_Erstausgaben
Erstausgaben der »Bibliothek der Erstausgaben«

Nun ist gerade auch Stefans Zweigs »Schachnovelle« in der Reihe erschienen und zwar in der Fassung, die 1942 in Buenos Aires gedruckt wurde. Normalerweise wird, aus verständlichen Gründen, diejenige Ausgabe reproduziert, die 1943 in Stockholm im Exilverlag von Bermann-Fischer erschienen ist. Beide Ausgaben halten sich nicht zeichengetreu an die jeweiligen Typoskripte des Autors, wenn auch, wie der Herausgeber der neuen Ausgabe, Joseph Kiermeier-Debre, betont, die Unterschiede in Orthographie und Interpunktion nicht so erstaunlich sind, wie gelegentlich behauptet wird.

Ein Reiz der argentinischen Ausgabe liegt sicherlich in der unsicheren Rechtschreibung, etwa an Stellen wie dieser:

Bald sickerte das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben ausserstande war, in irgend einer Sprache einen Satz ohne ortographischen Fehler zu schreiben …

Zu schade, dass sich der Herausgeber an dieser Stelle genötigt fühlt, das fehlende »h«, zwar in eckigen Klammern, aber immerhin doch wieder in den Text einzufügen.

Doch kommen wir zum Inhalt der Erzählung: Wie über alles Maß bekannt sein dürfte, erzählt die »Schachnovelle« die Geschichte einer Schiffsreise von New York nach Buenos Aires im Jahr 1941. Als der Ich-Erzähler erfährt, dass sich der rezente Schachweltmeister Czentovic, dessen merkwürdige psychische Disposition den Erzähler fasziniert, an Bord befindet, will er zu diesem einen Kontakt herstellen, indem er versucht, ihm eine Falle zu stellen: Er platziert sich in einem Salon des Schiffes mit einem Schachbrett; zwar laufen ihm einige andere Schachspieler zu, aber der Weltmeister ignoriert diese Ansammlung von Patzern nicht einmal. Doch einer der Amateure zeigt schließlich, wie man das Interesse eines Weltmeisters erregt: Er bezahlt Czentovic ein ordentliches Honorar für eine Partie, die als Beratungspartie mit dem Weltmeister auf der einen, den vereinigten Patzern auf der anderen Seite gespielt wird.

Nachdem die Amateure die erste Partie rasch verloren haben, mischt sich in die Revanche unvermittelt ein neuer Teilnehmer ein, der diese zweite Partie ins Remis rettet und dadurch jene Einsicht in das Spiel verrät, die den anderen Herren offenbar fehlt. Vom Ich-Erzähler nach der Partie angesprochen, eröffnet ihm jener Dr. B. ohne Zögern und freimütig seine Lebensgeschichte: Wie er nach dem Anschluss Österreichs ans Reich als Treuhänder der Kirche von den Nationalsozialisten aufs Übelste festgehalten und befragt, dann aber schließlich laufen gelassen worden ist. Angesichts der monatelangen Gefangenschaft in einem Hotelzimmer, das auch noch von seinen Bewachern aufgeräumt wurde, konnte Dr. B. seine geistige Gesundheit nur dadurch bewahren, dass er sie verlor: Bei einer vom Autor günstigst erfundenen Gelegenheit stiehlt Dr. B. eine Partiensammlung von 150 Meisterpartien, wodurch sich Dr. B. infolge intensiven Studiums des Büchleins eine fiebrige Schachvergiftung zuzieht, die es ihm ermöglicht – ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode – den Verhören weitere Monate Trotz zu bieten. Offenbar beeindruckt von diesem intellektuellen Kabinettstückchen geben die Schergen des Bösen ihre niederträchtige Hotelzimmer-Folter auf und lassen den Zeugen ihrer überaus grausamen Praktiken ins Ausland reisen. Wie schrieb Bert Brecht so richtig über Schillers Dionys:

Und schließlich zeigte es sich ja auch dann:
Am End war der Tyrann gar kein Tyrann!

Nimmt man all das beim Wort, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass es sich bei Dr. B. um einen der unverschämtesten Lügner der Weltliteratur und beim Ich-Erzähler um einen der naivsten handelt, oder wir müssen eingestehen, dass uns eine so schlecht erfundene Geschichte in der sogenannten Weltliteratur selten untergekommen ist.

Doch all das wäre mir keine Zeile wert, wenn ich nicht Zeit meines Lebens von jenen, die vom Schachspiel nur wenig verstehen (so wie ich) und gehört haben, dass ich mich über das gewöhnliche Maß hinaus mit Literatur beschäftige (also überhaupt), darauf angesprochen wurde und werde, welche großartige Darstellung des Schachspiels doch die »Schachnovelle« sei. Eben darum handelt es sich nicht, sondern mit um das ahnungsloseste Geschreibsel, das jemals zu diesem Thema verfasst wurde.

Beginnen wir mit dem lügnerischen Dr. B.: Er will in seiner Gymnasialzeit bereits ein Schachspieler gewesen sein, aber erst das Auswendiglernen und monatelange Rekapitulieren von 150 Meisterpartien macht ihn plötzlich und unvorbereitet zu einem Spieler, der auch dem Weltmeister die Stirn zu bieten vermag, ja der sogar in der Lage ist, ihn im Tempo eines Blitzspielers vom Brett zu fegen. Selbst wenn wir glauben wollen, dass es möglich sei, dass ein schlummerndes, überragendes Talent für das Schachspiel auf diese Weise geweckt werden könnte, so ist das Auswendiglernen von 150 Partien in wenigen Monaten für den Laien zwar eine herkulisch anmutende Leistung, sie stellt aber nur ein Kratzen an der Oberfläche dessen dar, was ein Schachspieler tatsächlich aufwenden muss, um in der Weltspitze, auch in der Weltspitze von 1941, mitspielen zu können. Dies ist, man entschuldige die Phrase, wie sich der kleine Fritz die Genese eines Schachspielers denkt.

Noch schlimmer ist es mit dem sogenannten Weltmeister. Über den heißt es gleich zu Beginn:

Czentovic brachte es nie dazu, auch nur eine einzige Schachpartie auswendig – oder wie man fachgemäss sagt: blind – zu spielen. Ihm fehlte vollkommen die Fähigkeit, das Schachfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen. Er musste immer das schwarz-weisse Karree mit den vierundsechzig Feldern und zweiunddreißig Figuren handgreiflich vor sich haben; noch zur Zeit seines Weltruhmes führte er ständig ein zusammenlegbares Taschenschach mit sich, um, wenn er eine Meisterpartie rekonstruieren oder ein Problem für sich lösen wollte, sich die Stellung optisch vor Augen zu führen. Dieser an sich unbeträchtliche Defekt verriet einen Mangel an imaginärer Kraft und wurde in dem engen Kreise ebenso lebhaft diskutiert, wie wenn unter Musikern ein hervorragender Virtuose oder Dirigent sich unfähig gezeigt hätte, ohne aufgeschlagene Partitur zu spielen oder zu dirigieren.

Diese Passage zeigt, dass Zweig auch nicht den blassesten Schimmer hatte, worüber er schrieb: Es mag immerhin noch angehen, dass Czentovic nicht in der Lage ist, eine ganze Partie blind (also ohne Ansicht des Bretts und der Figuren) zu spielen, aber dass er nicht in der Lage wäre das Schachfeld in den unbegrenzten Raum der Phantasie zu stellen ist schlicht unmöglich. Er wäre dann nämlich nicht in der Lage, auch nur eine einzige Stellung zu visualisieren, die sich von der auf dem Brett vor ihm um einen oder gar mehrere Züge unterscheidet, kurz gesagt: Er könnte keine einzige Variante berechnen. Da man unter den möglichen Zügen aber nur dadurch erfolgreich auswählen kann, dass man die Stellungen beurteilt, die am Ende der mit ihnen eingeleiteten Varianten entstehen, wäre Czentovic aufgrund des ihm zugeschriebenen Unvermögens überhaupt unfähig Schach zu spielen. Dies mag als erzählerischer Kontrast zu Dr. B. gerade noch durchgehen; in der Sache ist es einfach nur Unsinn. Wie bemerkt Dr. B. so richtig:

Ich weiß nun nicht, bis zu welchem Grade Sie über die geistige Situation bei diesem Spiel der Spiele nachgedacht haben.

Zweig jedenfalls hat es nicht. Aber der ganze Rest ist sicherlich großartig!

Stefan Zweig: Schachnovelle. Buenos Aires 1942. dtv 2688. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2013. Broschur, 144 Seiten. 6,90 €.

Ian McEwan: Der Trost von Fremden

An den Haaren herbeigezogene Schauergeschichte von einem englischen Pärchen, das in Venedig (dessen Name an keiner Stelle fällt) einem psychopathischen Ehepaar in die Hände fällt. Wie für das Genre wohl üblich, passiert lange Zeit nichts, wohl um Spannung zu erzeugen (huuuuu). Antrieb für den ganzen Unfug ist natürlich Sex (oooooh), McEwan bleibt mit diesem dünnen Fähnchen aber so weit hinter etwa Arthur Schnitzlers »Traumnovelle« zurück, dass zumindest ich mit dem Kopfschütteln gar nicht mehr aufhören konnte. Wenigstens ist der Text kurz.

Von hier aus müsste man jetzt wahrscheinlich noch einmal »Am Strand« anschauen, um zu prüfen, ob die dort thematisierte Verklemmtheit tatsächlich die der Zeit und nicht die des Autors ist.

Ian McEwan: Der Trost von Fremden. Aus dem Englischen von Michael Walter. detebe 21266. Zürich: Diogenes, 1985. Broschur, 189 Seiten. 8,90 €.

Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern

Vanderbeke_DaslaesstBirgit Vanderbeke ist bei der Gesellschafts-Utopie angekommen. Bereits »Sweet Sixteen« ließ so etwas befürchten, aber nun ist es geschehen. Erzählt wird die Geschichte der Erzählerin, die aus einem betuchten bürgerlichen Haus stammt, und des Handwerkers Adam Czupek, die gegen den Widerstand der bürgerlichen Eltern ein Paar werden und mit zwei Kindern aufs Land ziehen, wo sie zusammen mit einem benachbarten Bauern und einer befreundeten türkischen Familie beginnen, sich ein autarkes Leben aufzubauen. Das Haus, indem sie wohnen, ist geerbt, das Geld von dem sie leben und das Haus renovieren, verdienen sie an Krankenkassenpatienten, der Filz für die autarke Jurte kommt per LKW aus der Türkei und wird mittels einer Telefon-Transaktion bezahlt, aber sonst ist man echt total unabhängig von der Gesellschaft, bis vielleicht auf die Wochenendgäste des Bauern, die man braucht, damit der seinen Hof nicht verkaufen muss. Aber sonst: total autark! Und die Philosophie zum Lebensentwurf liefern die Texte von »Ton Steine Scherben« und »Die Ärzte«. Zum Glück bekommt gerade keines der Kinder einen Hirntumor, denn bis man einen Positronen-Emissions-Tomografen auf dem Sperrmüll findet, das kann dauern.

Stilistisch ist das Buch entgegen den früher sehr disziplinierten und kargen Texten Vanderbekes (»Ich sehe was, was Du nicht siehst« ist wohl immer noch das Muster) ungewöhnlich geschwätzig, ja einzelne Phrasen wiederholen sich ohne jede Notwendigkeit. Den absoluten Tiefpunkt erreicht Vanderbekes Sprache auf Seite 98 beim Wort »Spannkraft«, ein Wort aus der Doppelherz-Reklame, nicht aus dem Ingenieurs-Handbuch.

Ein dummes, überflüssiges Buch aus der Kategorie gut gemeint. 

… solch einen Quark mußt Du mir künftig nicht mehr schreiben; das können die Andern auch.

Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern. München: Piper, 2011. Pappband, Lesebändchen, 147 Seiten. 16,95 €.

Philipp Blom: Böse Philosophen

[…] an unsere eigene Faulheit, an Gleichgültigkeit und intellektuelle Wirrheit.

978-3-446-23648-6Populär und bewusst parteiisch geschriebener biographischer Essay um einige Figuren der Hauptphase der französischen Aufklärung. Das Hauptgewicht der Darstellung liegt auf Denis Diderot, als eigentliches Zentrum der Darstellung benutzt Blom aber den Salon des Baron Holbach, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einer der wichtigen Orte der intellektuellen Auseinandersetzung in Paris darstellte. Leider erfährt der Leser zu wenig über die allgemeine Pariser Salonkultur dieser Zeit, so dass er sich kein Bild davon machen kann, wie typisch bzw. außergewöhnlich der Salon der Holbachs war. Aber das ist noch das geringste Manko des Buches.

Für ein Buch, das über Philosophen und ihre Ideen berichtet, ist es immer schon ein schlechtes Zeichen, wenn sein Autor die Bedeutung grundlegender philosophischer Termini offenbar nicht kennt: So bedeuten transzendent und transzendental sehr unterschiedliches und können nur in ganz seltenen Fällen synonym verwendet werden. Auch sonst bleibt Bloms Darstellung der philosophischen Inhalte meist völlig unkritisch, entweder getragen von einem begeisterten Pathos oder von scharfer Ablehnung, je nachdem wie es dem Geschmack des Autor gerade entspricht. So ist Bloms Kritik der Positionen Rosseaus, so richtig sie in der Sache auch sein mag, stets durchsetzt mit mokanten und polemischen Bemerkungen, die auf die psychische Verfassung oder die persönliche Lebensführung Rousseaus zielen:

Rousseau war fasziniert von der kindlichen Entwicklung (solange sie sich nicht in seinem Haus vollzog, möchte man hinzufügen)

Nein, man möchte es nicht nur hinzufügen, man fügt es hinzu, und das einzig und allein in polemischer Absicht. Im Gegensatz dazu ist alles, was Diderot tut, wohlgetan. Während Rousseaus Gesellschaftsutopie wegen ihrer diktatorischen Konsequenzen scharf angeprangert wird, werden vergleichbare Ansichten Holbachs und Diderots verharmlosend kommentiert: Befürwortung der Todesstrafe durch Diderot? Naja, er hatte eben kein echtes Interesse an der Frage, und ansonsten hat er auch bedauert, dass so etwas notwendig sei. Und sowieso seien 300 Hinrichtungen pro Jahr in Frankreich ja auch keine so bedeutende Sache gewesen. Immerhin wird Friedrich Melchior Grimms These, dass »das Recht des Stärkeren […] die einzige Legitimität« schaffe, zitiert, bleibt aber unkommentiert stehen, anstatt als gesellschaftspolitische Konsequenz jener Ethik der Lust begriffen und kritisiert zu werden, die Blom zuvor seitenweise in den höchsten Tönen als Alternative zur christlichen Tugendlehre gepriesen hat.

Das Buch scheitert letztlich an den atheistischen und antichristlichen Affekten des Autors. Anstatt die historische Lage Mitte des 18. Jahrhunderts als die wichtige Stufe in der Entwicklung der modernen ethischen Theorien zu begreifen, die sie darstellt, versucht er eine einzelne, höchst disparate philosophische Position dieser Zeit zu verabsolutieren. Dabei legt er höchsten Wert auf den Atheismus der Vertreter dieser Position; selbst David Hume, dem er einen gewissen Rang im philosophiegeschichtlichen Prozess nicht abstreiten kann, muss leider abgewertet werden, da er nur Agnostiker gewesen ist und den Atheismus aus erkenntnistheoretischen Bedenken heraus ablehnte. Es ist dann kein Wunder, dass das, was Blom über die kantische Ethik schreibt, blanker Unfug ist und er über Kant und Hegel ansonsten nur anzumerken weiß, sie seien »wie Heilige verehrt« worden. Weder findet sich eine Auseinandersetzung mit der Lessingschen Geschichtsauffassung – einer der wichtigsten deutschen Reaktionen auf die Ideen der Aufklärung – noch mit der Kantischen Bestimmung der Pflicht. Stattdessen wird dem Leser nahegelegt, eines der pornographischen Romänchen Diderots für eine emanzipatorische Kampfschrift

gegen die Verschwendung der Leben der hinter Klostermauern sequestrierten Frauen, gegen die unnatürliche und »nutzlose Tugend« des Zölibats, gegen unterdrückte Leidenschaft und kirchliches Dogma

halten zu sollen. Diderot hätte mit der Leidenschaft der von ihm imaginierten Nonnen sicherlich besseres anzufangen gewusst.

Auch geistesgeschichtlich bleibt Bloms Darstellung naiv: So scheint ihm jeglicher Sinn dafür zu fehlen, dass die im 18. Jahrhundert zum paradigmatischen Referenzbegriff werdende Natur nur eine Metapher mehr ist, aus der die sich emanzipierende bürgerliche Kultur ihre Berechtigung, ja, Überlegenheit abzuleiten versucht. Es handelt sich bei der Natur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eben nicht um einen objektiven Gegenstand empirischer Forschung, sondern um ein inhaltlich höchst flexibles metaphysisches Konzept, das dazu dient, das propagierte neue Menschenbild als unverfälscht und echt auszuzeichnen. In diesem Sinne hätte auch der Terminus Naturwissenschaft bzw. Wissenschaft historisch eingeordnet werden müssen, anstatt stillschweigend so zu tun, als bestehe zwischen unserem Konzept empirischer Forschung und dem des 18. Jahrhunderts eine ungebrochene Kontinuität.

Und nicht zuletzt muss Blom darin widersprochen werden, das Erbe dessen, was er radikale Aufklärung nennt, sei vergessen worden. Das eben ist es nicht, sondern es ist im Prozess der historischen Entwicklung zur Moderne aufgehoben worden. Dass es in seiner kompromisslosen Idealität und Radikalität für die heraufziehende bürgerliche Gesellschaft unbrauchbar war, erkennt sogar Blom an. Und der Glaube, dass die von Blom angepriesene Ethik der Lust praktisch überhaupt geeignet sei, eine funktionierende Gesellschaft zu begründen, setzt ein so illusionäres Menschenbild voraus, dass selbst Blom an jenen Stellen Bedenken zu hegen scheint, an denen sich seine radikalen Aufklärer in allzumenschliche Affären und Streitigkeiten verwickeln.

So bleibt Bloms Darstellung bei aller Detailkenntnis leider polemisch und geschmäcklerisch und kann außer für jene, die darin bestätigt finden wollen, was sie ohnehin schon immer denken, nicht empfohlen werden.

Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. München: Hanser, 2011. Pappband, Lesebändchen, 400 Seiten. 24,90 €.

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg

Gerhard war ein lieber, kluger Kerl, aber sie brauchte einen Mann, der sie mit Stumpf und Stiel ausrottete.

978-3-518-42244-1Beginnen wir mit dem Positiven: Natürlich ist es verdienstvoll, wenn eine der bekannteren jungen Autorinnen einen Roman einem der unbekannteren deutschen Philosophen widmet. Hans Blumenberg (1920–1996) ist eine wirkliche Berühmtheit als deutscher Philosoph, wie sie etwa Jürgen Habermas oder Hans Georg Gadamer erlangt haben (an Darsteller wie Peter Sloterdijk oder Rüdiger Safranski wollen wir hier gar nicht erst denken), erspart geblieben. Dazu war Hans Blumenbergs anthropologisches Denken wohl nicht recht geeignet, da sich aus seiner Position nur schlecht handfeste und eingängige gesellschaftliche Thesen ableiten ließen. Überhaupt behindert Blumenbergs tiefes Misstrauen gegen alle starken systematischen Zugriffe auf die Welt eine schlagwortartige Aufbereitung seines Denken, die ja in den meisten Fällen die Grundlage einer breiteren Popularisierung einer Philosophie bildet. Wer hat nicht schon alles vom Ding an sich, dem Weltgeist, der Dialektik der Aufklärung oder der Diskurs-Ethik geschwatzt, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, worum es dabei eigentlich geht.

Auf der anderen Seite handelt es sich bei Hans Blumenberg zugleich um einen der zugänglichsten deutschsprachigen Philosophen des 20. Jahrhunderts, da man bei ihm eine sehr niedrige Einstiegsschwelle zum Werk findet: Blumenberg hat zahlreiche kurze Texte für Tageszeitungen verfasst, sehr oft Miniaturen, die wenig Vorwissen und nahezu keine philosophische Vorbildung voraussetzen. Der Suhrkamp Verlag hat eine reiche Auswahl dieser Texte in der Bibliothek Suhrkamp wieder abgedruckt, die eine beinahe unverbindliche Bekanntschaft mit diesem originellen Denker ermöglichen. (Ich werde hier zeitgleich mit dieser Besprechung eine des Bändchens »Löwen« veröffentlichen.)

Lewitscharoffs Erzählung beginnt im Jahr 1982, also nur wenige Jahre bevor Hans Blumenberg emeritiert. Zu Anfang entdeckt Blumenberg nächtens in seinem Arbeitszimmer einen Löwen, der sich allerdings nicht weiter um ihn kümmert. Auch am nächsten Tag erscheint der Löwe bei einer Vorlesung, doch scheint ihn außer Blumenberg keiner wahrzunehmen. Als Blumenberg eines Tages einen auf den Tod kranken Freund besucht und ihn der Löwe dabei begleitet, trifft er auf eine Nonne, die den Löwen ebenfalls sehen kann und mit Blumenberg einige lobende Worte über ihn wechselt. Später sieht Blumenberg den Löwen wieder in seinem Arbeitszimmer. Er wagt es aber nicht, mit einem befreundeten Journalisten über die Erscheinung des Löwen zu sprechen. Noch später stirbt Blumenberg.

Blumenberg hat naturgemäß auch Studenten. Isa ist in Blumenberg verliebt und sitzt bei allen seinen Vorlesungen in der ersten Reihe. Sie hat eine Liebelei mit Gerhard. Isa springt von einer Brücke vor einen Laster. Keiner versteht warum; auch der Leser nicht. Gerhard wird Philosophie-Professor und stirbt an einem Schlaganfall. Wenigstens da kann man sich für einen Moment lang einbilden, man verstehe warum. Richard ist Gerhards Freund und macht eine kleine Erbschaft, die es ihm erlaubt, in Südamerika ermordet zu werden. Hansi ist niemandes Freund und schreibt Gedichte, die sich reimen und die er in Gaststätten vorträgt. Er schnappt über und bricht, als man ihn abführt, tot zusammen. Nachdem alle tot sind, treffen sie sich in einer Höhle (vielleicht sogar der platonischen?) wieder und die Autorin raunt noch ein paar weitere Seiten zusammen, bevor das Buch dann endlich aus ist.

Ich gebe zu, dass meine Zusammenfassung etwas knapp geraten ist. Immerhin erfährt der nicht eingeschlafene Leser noch, dass das Ehepaar Blumenberg mit einem befreundeten Ehepaar und deren Mercedes in Ägypten war. Und dass Blumenberg gern Auto fährt. Wer aber hofft, auch nur Rudimentäres über Blumenbergs Philosophie zu erfahren oder mehr als zufällige Fragmente seiner Biographie, der wird sich enttäuscht finden. Am Ende weiß man fast mehr vom Löwen als über die Figuren, von Hans Blumenberg ganz zu schweigen.

Kollege Mangold vermutet, das Buch berge ein Geheimnis, das es nicht preisgebe. Ich vermute, die Autorin hat nicht so recht herausgefunden, was sie denn eigentlich erzählen will und sich ins Raunen gerettet; wenn sie es wenigstens noch in gutem Deutsch getan hätte. Ganz am Ende des Buchs bittet die Autorin um »Nachsicht«; verbuche ich die 21,90 € also unter Milde Gaben.

Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Berlin: Suhrkamp, 2011. Bedruckter Pappband, 221 Seiten. 21,90 €.