Simon Raven: Fielding Gray

»Ich glaube … dass es mir um Wahrheit geht.«
»Ist das nicht eine Nummer zu groß?«
»Nicht von allem. Nur im Kleinen, nur für mich. In einem kleinen Eckchen werde ich versuchen, Wahrheit zu schaffen.«

Ein weiterer englischer Schulroman, den mir mein Buchhändler nahegelegt hat, als wir über Eine Frage der Erziehung gesprochen haben. Auch Simon Raven, der überhaupt ein äußerst produktiver Autor gewesen ist, liefert gleich einen Romanzyklus – Alms for Oblivion / Almosen fürs Vergessen –, der zehn Bände mit zusammen etwa 2.300 Seiten und die Zeit zwischen 1945 und 1973 umfasst. Im Gegensatz zu A Dance to the Music of Time wurden die Romane nicht entlang der inneren Chro­no­lo­gie geschrieben, so dass der Beginn der Ge­samt­hand­lung erst in dem hier besprochenen, 1967 veröffentlichten vierten Band der Dekalogie gemacht wurde. Die deutsche Übersetzung des gesamten Zyklus soll bis 2024 erscheinen, wobei sich der Verlag insgesamt an die innere Chronologie des Zyklus hält (nur die Bände 2 und 3 bilden eine Ausnahme).

Die Haupthandlung beginnt im Mai 1945, nachdem der Zweite Weltkrieg in Europa zum Ende gekommen ist. Der Ich-Erzähler Fielding Gray, als Offizier der britischen Armee in Griechenland stationiert, blickt aus dem Jahr 1959 zurück auf das letzte Jahr seiner Schulzeit: Er ist der Mus­ter­schü­ler seines Jahrgangs, sowohl akademisch als auch als Sportler (in diesem Roman wird selbstverständlich Kricket gespielt) erfolgreich und bei seinen Mitschülern offenbar beliebt. Gray hat, wenn auch nicht aus­schließ­lich, ho­mo­ero­ti­sche Neigungen, und in diesem Jahr ist er sogar eindeutig verliebt in seinen Mitschüler Christopher Roland, der diese Neigung einerseits zu teilen scheint, andererseits aber dann doch erschrickt und schließlich gänzlich aus der Fassung gerät, als es ein einziges Mal zwischen den beiden zu einer kurzen sexuellen Berührung kommt.

Als Gray in den Ferien nach Hause fährt, muss er erfahren, dass sein Vater, der immer schon gegen Fieldings Plan war, nach der Schule Latein und Griechisch zu studieren, nun konkrete Vorbereitungen trifft, ihn von der Schule zu nehmen und in Indien auf einer Teeplantage in eine kauf­män­ni­sche Ausbildung zu zwingen. Zwar stirbt der Vater ebenso spektakulär wie glücklich an einem Herzinfarkt, doch muss Gray feststellen, dass dies seine Situation wider Erwarten nicht verbessert. Während seine Mutter, solange der Vater am Leben war, ihn stets gegenüber dem Vater verteidigt hat, geht sie nun in das Lager des Feindes über und betreibt ebenfalls die Ver­hin­de­rung von Fieldings akademischer Laufbahn.

Fielding erreicht eine Art von Kompromiss: Während er seiner Mutter vorgeblich nachgibt und seinen Militärdienst antritt, weil ihn seine Schule hinauswirft, da inzwischen gerüchteweise seine Affäre mit Christopher bekannt geworden ist, der sich zwischenzeitlich das Leben genommen hat. Daneben betreibt Gray weiterhin heimlich seine Studienpläne, da einer seiner Lehrer bereit ist, ihm das Studium zu finanzieren. So scheint für einen Moment alles gut auszugehen, bis wenige Tage nach dem Antritt der Grundausbildung Fielding von seinem Freund und Mitschüler Peter Morrison mitgeteilt wird, dass sich auch diese Aussicht zerschlagen hat, da der betreffende Lehrer von dem Streit zwi­schen Fielding und seiner Mutter und dem Versuch Fieldings, seine Mutter über seine wahren Pläne zu täuschen, moralisch so abgestoßen ist, dass er sein Angebot eines Sti­pen­di­ums nicht weiter aufrecht hält. So entscheidet sich Gray für eine Karriere als Berufssoldat; eine letzte Begegnung mit Peter Morrison, den er 14 Jahre nicht gesehen hat und der inzwischen Berufspolitiker geworden ist, be­en­det das Buch und schließt den Rahmen der Erzählung.

Das Buch hat einen deutlich humoristischen Einschlag; sein Protagonist und Erzähler erweist sich immer erneut als im Sinne einer christlichen Moral indifferent, ja weitgehend gefühllos. Weder der Tod seines Vaters noch der Christophers gehen ihm nahe, er schlägt in Wut seiner Mutter ins Gesicht, ohne sich deshalb irgendwelche Vorwürfe zu machen, aber auch die Verhinderung seiner akademischen Karriere scheint ihn eher schul­ter­zu­ckend zurückzulassen. Seinen Nachnamen ererbt er nicht um­sonst von Oscar Wildes Dorian Gray, der auch noch, als sei es nicht auch ohne das deutlich genug, seine einzige moderne Lektüre darstellt. Wenn Fielding überhaupt einer Moral folgt, ist es die seiner Egozentrik; die wohl als Folie gedachte Antike, die sich in Grays Interesse für die antike Literatur widerspiegelt, hätte ihn für seine Indifferenz aber ebenso verurteilt wie seine Zeitgenossen.

Nicht alle Teile des Romans sind gleich gelungen; besonders die Dialoge sind eher schwach und erscheinen gekünstelt. Insbesondere dort, wo direkt über Moral gesprochen wird, sind sie flach und ermangeln der nötigen Reflexion. Aber das mag auch Absicht des Erzählers sein, um seine Verachtung für das moralisierende Geschwätz seiner Mitmenschen auszustellen.

Alles in allem ein Roman, der aus der Dutzendware des Jahrhunderts heraussticht, aber sicherlich nur auf seiner Position im Gesamtzyklus angemessen beurteilt werden kann.

Wird fortgesetzt …

Simon Raven: Fielding Gray. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Franke. Berlin: Elfenbein, 22020. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 262 Seiten. 22,– €.

Sophokles: Antigone

Er komme, komme!
Erscheine, der Tode Schönster,
Der den letzten Tag mir bringt,
Er, der Höchste! –
Er komme, komme! daß ich nicht
Den anderen Tag noch sehn muß!

[Wolfgang Schadewaldt]

Gefühlt die 20. Lektüre seit meiner Schulzeit, einmal mehr aus didaktischem Anlass, diesmal in der wohl recht neuen Übersetzung von Kurt Steinmann bei Reclam. Begegnet bin ich dem Stoff allerdings zuerst als laienschauspielender Schüler in der Bearbeitung von Jean Anouilh. Dann habe ich im Studium manche Stunde über der Hölderlinschen Übersetzung rätselnd zugebracht, zu der ich auch wieder erst über einen Umweg gekommen bin, nämlich der Brechtschen Bearbeitung von 1948, die versucht, den Stoff als Widerstandsstück gegen einen Unrechtsstaat zu lesen. Und schließlich bin ich dann – wie bei so vielen anderen Texten – bei Wolfgang Schadewaldt hängen geblieben, der Sophokles in einer ganz merkwürdigen Schwebe zwischen Lakonismus und Pathos zu halten versteht, dessen Übersetzungen aber wohl gerade untergehen, da ihr Verfasser in politische Ungnade gefallen ist.

Der Stoff des Mythos dürfte wohl bekannt sein oder kann wenigstens leicht an zahlreichen Stellen gefunden werden, deshalb hier nur eine ganz kurze Erinnerung: Antigone, die Tochter des König Ödipus, folgt dem Gebot der Götter und bestattet entgegen dem Verbot ihres Onkels Kreon ihren Bruder Polyneikes. Der ist bei dem Versuch, die Herrschaft über Theben seinem Bruder Eteokles gewaltsam zu entreißen, ebenso wie dieser auf dem Schlachtfeld geblieben. Während Eteokles als Beschützer der Stadt mit allen Ehren beigesetzt wird, soll Polyneikes nach dem Willen des neuen Herrschers Kreon als Staatsfeind Nr. 1 auf dem Schlachtfeld verrotten. Antigone wird bei der Wiederholung des Bestattungsrituals auf frischer Tat ertappt, verhaftet, verhört und zum Tode verurteilt. Um sich durch deren Hinrichtung nicht den Zorn der Götter zuzuziehen, mauert man sie bequem in eine Höhle vor der Stadt ein. Als sich Kreon endlich eines anderen – um nicht zu sagen: Besseren – besinnt, ist es zu spät: Antigone hat sich erhängt, Kreons Sohn, der mit Antigone verlobt war, versucht zuerst den Vater zu töten und stürzt sich dann zu Füßen der toten Braut in sein Schwert, woraufhin sich notwendigerweise auch Kreons Frau Eurydike umbringt. Auf der Bühne bleibt der dem Wahnsinn nahe Alleinherrscher zurück, der ebenfalls nur noch den Tod herbeisehnen kann. Man sieht: ganz großes Kino!

Schwierig aber wird es, das Stück zu interpretieren, und es wird je schwieriger, je länger man darüber nachdenkt. Was vergleichsweise noch als einfach erscheint, ist, die Intention des Autors zu verstehen: Sophokles beweist sich auch in seinen anderen Stücken als ein Konservativer, der seinen säkularen Zeitgenossen den moralisierenden Spiegel vorhalten und sie daran erinnern will, dass die Gebote der Götter denen der Menschen in einem absoluten Sinne vorgehen und sich derjenige sträflich verhält, der beim Erlass weltlicher Gesetze gegen die der oberen wie der unteren Götter verstößt.

Leider kann nun mit einigem Fug behauptet werden, dass dem so sein mag, wie es will, dass aber das Stück gerade das nicht zeigt. Dazu muss man sich klar machen, dass eine säkulare Diskussion über die Geltung religiöser Wertesysteme in Griechenland seit mindestens 100 Jahren geführt wurde – Xenophanes berühmte Feststellung, dass wenn die Pferde Götter hätten, sie wie Pferde aussehen würden, markiert die späteste Grenze, die wir für den Beginn einer solchen Diskussion ansetzen müssen –, als „Antigone“ auf der Bühne erschien. Leider können wir auch nicht die Ausrede gelten lassen, Sophokles behandle hier einen Mythos, also Ereignisse aus quasi prähistorischen Zeiten, da keiner der Interpreten des Stückes jemals bezweifelt hat, dass der Autor kein Historiendrama liefert, sondern unmittelbar zu seinen Zeitgenossen spricht. Die absolute Geltung der Gebote der Götter kann also weder für den Autor noch für sein Publikum fraglos vorausgesetzt werden.

Wenn dies aber der Fall ist, so unterminiert dies die vom Autor intendierte Verteilung von Schuld und Sühne im Stück, sprich: Die Protagonisten werden von Vertretern einer objektiven Werte- und Weltordnung auf Vertreter zweier diskursiv gegeneinander abzuwägender Glaubenssysteme reduziert. Und genau dieser Diskurs findet im Stück nicht statt. Im Gegenteil führt das Stück zwei zur Kommunikation miteinander unfähige Einzelne vor, von denen einer die faktische Macht über die andere hat und diese Macht auch ausübt. Daraus folgt denn auch, dass nichts an der Peripetie des Stückes überzeugt, da der Autor keine Gründe für den plötzlichen Umschwung in der Überzeugung Kreons anzuführen weiß: Ist Kreon in Vers 1063 noch der (wahrscheinlich vollständig korrekten) Überzeugung, die Warnungen des Sehers Teiresias seien von seinen, Kreons, politischen Gegnern finanziert worden, so ist er, ohne dass weitere Gründe hinzutreten würden, nur 32 Verse später in seinem Geist verstört‘. Von diesem Moment an bricht das rationale System Kreons weitgehend unmotiviert zusammen, und dieser Zusammenbruch wird mit Hilfe der zahlreichen Toten am Ende des Stücks bis an die Grenze des Wahns vorangetrieben. Das mag man dramaturgisch (und eventuell auch noch psychologisch) durchwinken wollen, es mogelt sich aber gerade um die zentrale Frage des Stücks herum, ob ein religiöses Wertesystem einen absoluten Vorrang vor einem staatsdienlichen hat oder haben soll.

Es muss der Verdacht bestehen, dass Sophokles diese Schwäche des Stücks – die sich letztendlich aus dem stofflichen Widerstand des Mythos gegen seine tagespolitische Zurichtung ergibt – durchaus erkannt hat. Nicht umsonst endet das Stück im Raunen (und geraunt wird immer dort, wo man etwas vorzeigen möchte, dies aber nicht vermag):

CHOR. Weitaus erste Bedingung des Glücks
ist das vernünftige Denken; man darf die Sphäre der Götter
niemals entheiligen; doch große Worte
der über die Maßen Stolzen lehren,
haben sie unter großen Schlägen gebüßt,
im Alter vernünftiges Denken. [Steinmann]

Das weitaus Erste an höchstem Glück
Ist Besonnensein. Und not auch ist,
Vor den Göttern nie zu verletzen die Scheu.
Doch große Worte Großprahlender,
Wenn mit großen Schlägen sie gebüßt,
Haben im Alter gelehrt die Besinnung. [Schadewaldt]

Von allen Gnaden die höchste doch bleibt
Der verständige Geist. Und der Götter Bereich
Entweihe man nicht! Doch gewaltiges Wort
Hoffärtiger büßt mit gewaltigem Sturz:
Draus lernt sich im Alter die Weisheit. [Reinhardt]

Hoch raget gewiß vor Gütergenuß
Die Bedachtsamkeit. Frevle drum nie
Gegen die Gottheit. Das gewaltige Wort,
In gewaltigem Schlag doch büßend einmal
Den Empörungsmut,
Lehrt endlich im Alter Besinnung. [Solger]

Um vieles ist das Denken mehr, denn
Glückseeligkeit. Man muß, was Himmlischer ist, nicht
Entheiligen. Große Blike aber
Große Streiche der hohen Schultern
Vergeltend,
Sie haben im Alter gelehrt, zu denken. [Hölderlin]

Χορός
πολλῷ τὸ φρονεῖν εὐδαιμονίας
πρῶτον ὑπάρχει. χρὴ δὲ τά γ᾽ εἰς θεοὺς
μηδὲν ἀσεπτεῖν. μεγάλοι δὲ λόγοι
μεγάλας πληγὰς τῶν ὑπεραύχων
ἀποτίσαντες
γήρᾳ τὸ φρονεῖν ἐδίδαξαν.

Sophokles: Antigone. Übersetzt von Kurt Steinmann. Reclam XL 19244. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 110 Seiten. 4,60 €.

P.S.: Ergänzend von Andre Gottwald:

J. M. G. Le Clézio: Der Afrikaner

978-3-446-20948-0 Als Jean-Marie Gustave Le Clézio im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er zumindest in Deutschland wohl einer der unbekanntesten Autoren der Weltliteratur. Einige Feuilletonisten machten sich über die Wahl Le Clézios ein wenig lustig, indem sie andere, ob ihrer Belesenheit berühmtere Feuilletonisten befragten, die ihre Unkenntnis wenn nicht des Autors so doch seines Werks so offen zugaben, als handele es sich dabei um ein Verdienst. Überrascht mussten dann alle zusammen aber feststellen, dass Le Clézios Schriften in einem so bedeutenden Umfang auf Deutsch vorlagen, dass es zu seiner Unbekanntheit in einem nahezu erschütternden Verhältnis stand.

Mir ist nun eher zufällig als erstes ein kleines autobiographisches Bändchen in die Hand geraten: Der Afrikaner ist ein Erinnerungsbuch an Le Clézios Vater, der den Hauptteil seines Lebens als Arzt in Afrika zugebracht hat. Er war durch den Zweiten Werltkrieg von seiner Frau und seinen beiden jungen Söhnen getrennt, die, als sie den Vater im Jahr 1948 endlich kennenlernten, in ihm einen strengen, autoritären Patriarchen fanden, den sie nicht zu lieben vermochten. Le Clézios Buch ist ein Dokument des späten Verständnisses, das der Autor für seinen Vater entwickelt hat. Es schildert das einsame und verzehrende Leben des Vaters in Afrika, geboren aus einer Ablehnung der englischen Gesellschaft und ihres Kolonialismus. Und auch nach seiner Rückkehr nach Europa bleibt der Vater ein isolierter Mann, da ihm seine afrikanischen Erfahrungen eine Eingliederung in die europäische Gesellschaft verstellt.

Ein lesenswertes kleines Buch eines Sohnes, der aus seinem Zorn und seiner Enttäuschung dem Vater gegenüber herausfindet und sein schwieriges Verhältnis zu ihm überwinden kann. Sicher wäre auch manch anderen eine solche Annäherung an den eigenen Vater zu wünschen.

Als Obskurität ist anzumerken, dass sich die Vornamen des Autors nur auf dem Waschzettel, nicht aber im Buch finden lassen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. München: Hanser, 22008. Pappband, 136 Seiten. 14,90 €.

John Irving: Until I Find You

177650619_1b09ae6f38John Irvings elfter Roman erinnert in einigen Aspekten an seinen vierten, »The World According to Garp«, mit dem er weltberühmt wurde. Das ist nicht verwunderlich bei einem Autor, der ganz allgemein dazu neigt, bestimmte Motive, Themen und Situationen in seinen Büchern beinahe obsessiv zu wiederholen.

Auch »Until I Find You« ist die Geschichte eines vaterlosen Jungen: Jack Burns allerdings wächst ohne Vater auf, weil seine Mutter versucht, ihn als Geisel zu benutzen, um die Liebe seines Vaters zu ihr zu erzwingen. Sie ist Tochter eines Tattoo-Künstlers aus Edinburgh und hat eine kurze, folgenreiche Affäre mit einem jungen, gutaussehenden Organisten. Da Jacks Vater, William Burns, Edinburgh noch vor Jacks Geburt in Richtung Kanada verlassen hat, entschließt sich Jacks Mutter ihm nachzureisen. Jack wird nach der Ankunft in Halifax (Nova Scotia) geboren und verlebt mit seiner Mutter Alice die ersten vier Lebensjahre in Toronto. Dann macht sich Alice erneut auf, Jacks Vater zu suchen, der sich inzwischen in Europa aufhält. Diese Suche gerät zu einer kleinen Odyssee durch die skandinavischen Länder und endet schließlich in Amsterdam. Alice arbeitet an allen Orten in dem Beruf ihres Vaters und bildet sich in dieser Zeit zu einer angesehenen und gesuchten Tattoo-Künstlerin aus. Ihr eigentliches Ziel aber, das zu dieser Zeit weder Jack noch der Leser kennen, erreicht sie nicht. Schließlich macht sie sich von Rotterdam aus zurück auf den Weg nach Kanada, und Jacks Vater scheint für immer aus Jacks Leben zu verschwinden.

Nach dieser Ouvertüre erzählt Irving Jacks Leben: Ausbildung, Ringen (eine Wiederholung mehr aus »Garp«), Schauspielerkarriere, gescheiterte Liebe, den Tod seiner vertrautesten Freundin und schließlich auch den seiner Mutter. Erst nach dem Tod von Alice geht Jack Burns erneut auf die Suche nach seinem Vater. Er bereits noch einmal alle Stationen, die er als Vierjähriger mit seiner Mutter durchlebt hat und stellt zu seiner Überraschung fest, dass kaum etwas von dem, was er erinnert, den tatsächlichen Ereignissen entspricht, die er nun rekonstruiert. Jack bekommt ein vollständig neues Bild seiner beiden Eltern, seiner Reise mit seiner Mutter, seines Lebens überhaupt. Natürlich wissen wir hier längst, dass die große Apotheose des Romans die Begegnung Jack Burns’ mit seinem Vater sein wird, aber auch hier baut Irving noch einmal eine retardierende Schleife ein, bevor er zum Finale kommt.

Der Roman ist ein normaler Irving, so wie ihn seine Leser inzwischen mit einiger Zuverlässigkeit erwarten können. Er hat mich emotional nicht so bewegt wie etwa »Garp« oder »Widow for One Year«, aber ich habe ihn z. B. lieber gelesen als »A Prayer for Owen Meany«. So sucht sich jeder Irving-Leser seine Lieblinge heraus. Gänzlich unangemessen erscheinen mir dagegen die Verrisse, die es zu diesem Buch gesetzt hat: Matthias Altenburgs Kritik in der »Zeit« ist dem Buch gänzlich unangemessen und beweist einmal mehr, dass schlechte Kritiken nicht immer auf schlechte Bücher, sondern in einigen Fällen auf schlechte Leser hinweisen. Auch die überaus überlegenen Betrachtungen von Annette Zerpner für die »F.A.Z.« beweisen nur, dass es ihr auch nicht für einen einzigen Augenblick gelungen ist, sich für den Menschen Jack Burns zu interessieren. Dagegen hat Gerrit Bartels den Roman für die »TAZ« genauer gelesen: Er lobt die Stringenz des Romans und hat im Gegensatz zu seinen Kollegen verstanden, dass dem Roman eine genau kalkulierte Komposition zugrunde liegt.

Dass nicht alle Leser die nötige Geduld für dieses Buch aufbringen werden, versteht sich von selbst. Aber das bedeutet nicht, dass der Roman misslungen ist, sondern es zeitigt nur einmal mehr die alte Einsicht, dass nicht jedes Buch für jeden Leser geschrieben ist.

Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?

Lichtenberg

Irving, John: Until I Find You
New York: Random House, 2005. ISBN: 1-4000-6383-3
Pappband – 827 Seiten – ca. 14,00 Euro

Deutsche Ausgabe:
Irving, John: Bis ich dich finde
Diogenes, 2006. ISBN: 3-257-06522-1
Leinen – 1152 Seiten – 18,4 × 11,6 cm – 24,90 Eur[D]