Neuigkeiten vom Großen weißen Wal

Ich will einen heidnischen Freund probieren, dachte ich, denn christliche Freundlichkeit hat sich als hohle Höflichkeit und sonst nichts erwiesen.

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Die Neuübersetzung von Herman Melvilles „Moby-Dick“ (nur echt mit dem Bindestrich) war zu Anfang des Jahrhunderts eine der wenigen Kontroversen um eine Übersetzung, die auch von einer breiteren, literarisch interessierten  Öffentlichkeit wahrgenommen wurde: Im Jahr 2001 erschien beim Hanser Verlag zum Auftakt einer geplanten breiteren Werkauswahl Melvilles (von der faktisch bei heute drei Romane und ein Band mit biographischem Material erschienen sind; inzwischen ist „Pierre“ (2002) bei Hanser schon nicht mehr lieferbar und seit 2009 kein weiterer Band mehr erschienen), – als Auftakt also erschien eine Neuübersetzung des Romans „Moby-Dick“ aus der Feder von Matthias Jendis. Diese Übersetzung war eine Überarbeitung einer älteren, bis dahin ungedruckten Übersetzung Friedhelm Rathjens, die dieser in den Jahren 1991 bis 1993 erstellt hatte.

Unter den damaligen Herausgebern in spe des Hanser-Melvilles Norbert Wehr, Paul Ingendaay und Hermann Wallmann kaufte der Verlag 1994 die Übersetzung Rathjens, doch kam es nicht zu der geplanten Veröffentlichung. 1996 stiegen die drei Herausgeber aus dem Projekt aus und Hanser begann nach einem neuen Herausgeber zu suchen, der aber mit Daniel Göske erst 1998 gefunden wird. Göske nun war mit Rathjens Übersetzung nicht recht zufrieden und regte eine Überarbeitung an, mit der sich Rathjen nach Festlegung einer Reihe von Richtlinien auch einverstanden erklärte; die Überarbeitung übernahm Matthias Jendis. Als Rathjen Anfang 2001 diese Überarbeitung zu sehen bekommt, hält er die Eingriffe für so gravierend, dass er den neuen Text nicht unter seinem Namen veröffentlicht haben möchte, da es sich nicht mehr um seine Übersetzung handele. Da sich eine Einigung zwischen altem Übersetzer und neuem Herausgeber und Übersetzer als nicht möglich erwies, einigte sich Rathjen mit dem Hanser Verlag auf folgende, durchaus großzügige Regelung: Der Vertrag von 1994 wird aufgelöst, Rathjen erhält die Rechte an seiner ursprünglichen Übersetzung zurück und verzichtet im Gegenzug auf alle Urheberrechte an der Überarbeitung durch Matthias Jendis. Angedeutet wird dies alles in der Hanser-Ausgabe des „Moby-Dick“ (2001) durch folgende Sätze in der Danksagung:

Eine erste Übersetzung des Moby-Dick wurde von Friedhelm Rathjen erstellt, welcher der Übersetzer und der Herausgeber zahlreiche und wichtige Anregungen verdanken. Beide und der Verlag danken Friedhelm Rathjen für seine überaus konstruktive und kollegiale Zusammenarbeit […] (S. 910)

Dies geschieht allerdings nicht, ohne dass zwei Seiten zuvor in einer „Editorischen Notiz“ der zu erwartenden Debatte um die Übersetzung vorgegriffen wird, indem der erste Übersetzer und die Grundsätze seiner Übersetzung vorsorglich wie folgt eingeschätzt werden:

Die häufig angemahnte und beanspruchte Originaltreue einer literarischen Übersetzung ist, wenn sie nicht genau spezifiziert wird, immer eine naive und kurzschlüssige Vorstellung. Im Fall des Moby-Dick ist die Idee eines quasiheiligen Originals besonders absurd, denn weder Melvilles Manuskript noch die korrigierten Fahnenabzüge des Romans sind erhalten.

Zu Deutsch: Ein Übersetzer, der sich zu genau an den philologisch gesicherten Text hält (denn Rathjen übersetzte ja nicht etwa aus der Erstausgabe oder sonst einem „quasiheiligen Original“, sondern aus der philologisch erarbeiteten Ausgabe der Northwestern University Press von 1988), hat nicht verstanden, dass Herausgeber und Übersetzer immer schlauer sind als der Text und ihm dort, wo er dunkel, grammatikalisch schwierig oder gar falsch ist, aufhelfen müssen. Überhaupt sind das Schlauersein der Nachgeborenen und die sogenannte Lesbarkeit des Textes die wichtigsten Kriterien an denen sich Neuausgaben und -übersetzungen klassischer Texte zu orientieren haben. Die aber, die meinen, ein übersetzter Text müsse möglichst eng am Original geführt werden, sind „naiv und kurzschlüssig“.

Fahrt nahm die Debatte dann noch einmal im Jahr 2004 auf, als bei 2001 in einer großen, illustrierten Ausgabe die ursprüngliche Übersetzung Friedhelm Rathjens erschien und man nun direkt vergleichen konnte. Die wenigstens Kritiker allerdings machten sich tatsächlich die Mühe, die beiden Texte miteinander oder gar mit dem Original abzugleichen, sondern urteilten entlang sehr allgemeiner Eindrücke, oft auch nur entlang der übersetzerischen Programme, wie sie den Anhängen der Bücher zu entnehmen waren. Seitdem liegen mehr oder weniger kontinuierlich parallel zwei deutsche Übersetzungen des „Moby-Dick“ vor: Die sehr nah am Original mit all seinen Ecken, Kanten und Verwerfungen entlang geführte Übersetzung Rathjens (bei 2001 und im Fischer Taschenbuch) und die einmal mehr geglättete und konsumierbar gemachte Überarbeitung von Matthias Jendis (bei Hanser und btb).

Anlass, all dies nochmals zu erzählen, ist eine Neuausgabe der Übersetzung Friedhelm Rathjens bei Jung und Jung. Wer bis dato keine Gelegenheit hatte oder unentschlossen war, sich dem großen Wal zu nähern, hat hier einmal mehr die Möglichkeit eine Übersetzung dieses ungeheuerlichen, wilden, vulkanischen Romans zu lesen, die sich so weit dem Original annähert, wie es wohl überhaupt nur geht. Niemand sollte sich von den Gerüchten von der Unlesbarkeit oder Schwierigkeit dieser Übersetzung abschrecken lassen (und wer einen Beweis benötigt, wie gut diese Übersetzung sprachlich funktioniert, höre sich deren Lesung durch Christian Brückner an), sondern sollte sich auf das Abenteuer einer Lektüre einlassen, die so vielgestaltig und exotisch ist, wie die See, das Geschäft auf ihr und der weiße Wal in ihr, die der Roman in Worte zu fassen versucht. Melvilles Roman ist in seiner Wucht erst verstanden worden, als die wichtigsten Schritte in der modernen Literatur bereits gemacht worden waren; dann erst konnte man begreifen, wie sehr Melville mit diesem Buch seiner Zeit voraus gewesen ist, wie sein Gemisch aus Abenteuer-Erzählung, biologischem Traktat, ökonomischer und gewerblicher Darstellung, existenziellem Essay und Kritik rassistischer und religiöser Voreingenommenheiten Dimensionen des Romans ausgelotet hatte, von denen kaum ein zweiter seiner Zeitgenossen auch nur eine Ahnung gehabt hat.

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Wie sehr Melville selbst mit diesem Buch gerungen hat, wie unsicher einerseits und getrieben andererseits er war, lässt sich einem zweiten Buch, das nahezu zeitgleich mit dieser Neuausgabe herausgekommen ist, entnehmen. In „Zwiesprache mit Hawthorne“ fasst Friedhelm Rathjen im eigenen Verlag alle seine Übersetzungen von Texten Melvilles aus dem näheren und weiteren Umfeld der Entstehung des „Moby-Dick“ zusammen: Briefe, Notizen, Rezensionen, Gedichte und eine Erzählung, die aus verschiedenen Perspektiven Blitzlichter auf den Roman und seine Enstehung werfen. Dieses Buch, das in einer Kleinauflage von nur 99 nummerierten und signierten Exemplaren aufgelegt wurde, sei allen empfohlen, die einen Eindruck davon gewinnen wollen, wer Melville war und warum er sich gedrängt gefühlt hat, einen Roman zu verfassen, von dem er zu Recht fürchten musste, dass ihn nur wenige seiner Zeitgenossen goutieren würden.

Herman Melville: Moby-Dick oder: Der Wal. Deutsch von Friedhelm Rathjen. Mit Illustrationen von Raymond Bishop. Salzburg u. Wien: Jung und Jung, 2016. Bedruckter Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 932 Seiten. 45,– €.

Herman Melville: Zwiesprache mit Hawthorne. Aus der Werkstatt des Moby-Dick. Hg. u. übersetzt von Friedhelm Rathjen. Südwesthörn: Ǝdition RejoycE, 2016. Bedruckter Pappband, limitiert auf 99 Exemplare, 145 Seiten. 35,– €. Bestellung per E-Mail direkt beim Verlag.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil

Zwar war Mr. Collins nicht gerade mit Geistesgaben gesegnet; seine Gesellschaft war ermüdend und seine Liebe zu ihr war wohl nur Einbildung. Aber immerhin war er bald ihr Ehemann. Von Männern und Ehe hatte sie nie viel gehalten; alles was sie wollte, war verheiratet sein.

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Dieser der Veröffentlichung nach zweite Roman Jane Austens gilt im englischen Sprachraum zu Recht als ihr Meisterwerk. Auch dieses Buch war in einer frühen Fassung bereits lange vor seiner Veröffentlichung 1813 entstanden; erst der Erfolg von „Verstand und Gefühl“ (1811) führte zum Druck, obwohl das Buch bereits 16 Jahre zuvor einem Verleger angeboten worden war. Die Handlung ist deutlich komplexer gebaut als in den anderen Romanen Austens, ohne dass dies zu einem Ausufern des Personals geführt hätte.

Im Mittelpunkt der etwas mehr als ein Jahr umfassenden Fabel steht die Familie Bennet, die auf dem Landsitz Longbourn lebt. Das Ehepaar Bennet hat fünf Töchter, aber keinen Sohn, was zu der damals durchaus üblichen, für die Familie aber unangenehmen Lage führt, dass der Land- und Geldbesitz der Familie bis auf 5.000 £ nach dem Tod des Vaters einem Sohn seines Bruders – Mr. Collins – zufällt. Die 5.000 £ müssen zur Versorgung von Mutter und Töchtern und für die Aussteuer der fünf Mädchen genügen. Die Töchter der Familie Bennet sind also keine gute Partien, und können nur darauf hoffen, dass sich jemand in sie verliebt, der auf eine hohe Mitgift keinen Wert legt oder legen muss.

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Die Aufregung unter den weiblichen Angehörigen der Familie Bennet ist daher groß, als in der Nachbarschaft ein reicher Junggeselle für den Sommer einen Landsitz mietet. Mr. Bingley kommt zudem nicht allein, sondern bringt seinen noch wohlhabenderen, ebenfalls noch unverheirateten Freund Fitzwilliam Darcy mit. Außerdem begleiten ihn seine beiden Schwestern, deren jüngste auf eine Ehe mit Darcy spekuliert, und sein Schwager. Aus dieser Grundkonstellation entsteht unvermeidlich die bei Austen stets vorhandene Eheanbahnungshandlung: Bingley und Jane, die älteste Bennet-Schwester, verlieben sich ineinander, doch bevor die Affäre ernst werden kann, verschwindet Bingley wieder nach London. Jane reist, von Onkel und Tante eingeladen, ihm dorthin nach, wird aber von Bingleys Schwester geschnitten und trifft Bingley vorerst nicht wieder.

Elizabeth Bennet, die zweitälteste Schwester und eigentliches Zentrum des Romans, entwickelt derweil eine starke Abneigung gegen Mr. Darcy und eine Vorliebe für den Miliz-Offizier Mr. Wickham, dem von Darcy angeblich vor einigen Jahren übel mitgespielt wurde. Im Wesentlichen dient der Roman dazu, diese beiden Verwerfungen zu überwinden und am Ende dem lesenden Publikum zwei glückliche Ehepaare zu liefern. Den ironischen Gegensatz zu dem an sich schon nicht ganz lupenreinen Happy End des Romans liefert bereits sein erstes Kapitel, in dem uns das glückliche Ehepaar Bennet vorgeführt wird: ein stoischer Philosoph, der nur an einer Stelle des Romans überhaupt in wirkliche Aufregung gerät, als er sich seinem Schwager gegenüber in Schulden wähnt, und seine stets überschwängliche, grunddumme Gattin, deren einziges und wenig subtil betriebenes Geschäft es ist, ihre Töchter unter die Haube zu bringen. Und sie sind nicht das einzige Beispiel glücklicher Ehepaare im Roman.

Es ist die die Romane bestimmende souverän-ironische Grundhaltung der Erzählerin, die ihren anhaltenden Erfolg begründet: Einerseits hat Austen nicht mehr zu erzählen als die empfindsamen Romane ihrer Zeit, andererseits verfügt sie über einen weit realistischeren und zugleich humorvolleren Blick auf die Gesellschaft ihrer Lebenssphäre, die englische Gentry. Wo man heute Richardson nur noch aus historischer oder sentimentaler Perspektive heraus goutieren kann, leben Austens Figuren immer noch mit den Lesern mit.

Wenn man sonst nichts von Austen kennt, sollte man wenigstens diesen einen Roman lesen! Er ist eines der wichtigen Vorbilder für die großen Romane des 19. Jahrhunderts.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. Reclam Tb. 20408. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 478 Seiten. 7,95 €.

Charlotte Brontë: Jane Eyre

»Oh, da habe ich keine große Wahl! In der Regel geht es um ein und dasselbe Thema – das Freien; und mit der Aussicht auf die eine Katastrophe – die Ehe.«

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Die Brontë-Schwestern sind in Deutschland nicht zuletzt durch Arno Schmidts Essay „Angria & Gondal“ (entstanden 1959/60, Erstdruck 1969) bekannt geworden. Schmidt hatte den damals in Deutschland wohl nur einigen Fachleuten geläufigen Korpus der jugendlichen Erzählungen der vier Geschwister Brontë um zwei nach Afrika hineinerfundene Phantasiereiche ins Zentrum gestellt und von dort aus Linien in die bekannteren Romane der drei Brontë-Schwestern gezogen. Es folgte dann in der zweiten Hälfte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts eine kleine Welle von Publikationen, zu denen nicht nur erste Übersetzungen aus den Angria-&-Gondal-Erzählungen, sondern auch eine weithin beachtete Biografie der drei Schwestern aus der Feder von Elsemarie Maletzke gehörte.

Im vergangenen Jahr nun hat der Insel Verlag eine Neuübersetzung von „Jane Eyre“, dem wohl bekanntesten Roman Charlotte Brontës, durch die sehr sorgfältig arbeitende Übersetzerin Melanie Walz (hier wurde zuletzt ihre „Orlando“-Neuübersetzung besprochen) vorgelegt. Der Roman ist 1847 unter dem männlichen Pseudonym Currer Bell als erster Roman der Autorin erschienen und war so erfolgreich, dass bereits ein Jahr später eine erste deutsche Übersetzung vorlag. Erzählt wird das Schicksal des Waisenkindes Jane Eyre aus ihrer eigenen Erinnerung heraus. Die Erzählung beginnt um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert: Jane Eyre lebt als ungeliebtes, zehnjähriges Kind im Haushalt ihrer angeheirateten Tante zusammen mit deren verwöhnten drei leiblichen Kindern. Jane ist nach dem frühen Tod der Eltern vom Bruder ihrer Mutter in sein Haus aufgenommen worden, der allerdings auch bald darauf verstarb. Sie ist ein widerspenstiges Kind, das sich gegen die Ungerechtigkeiten ihrer Pflegefamilie mehr und mehr aufzulehnen beginnt und deshalb von ihrer Tante in ein Internat abgeschoben wird. Hier erhält Jane eine zwar von Ärmlichkeit geprägte, aber dennoch gute Ausbildung; sie ist eine so gute Schülerin, dass sie nach dem Ende der Schulzeit sogar noch zwei Jahre als Lehrerin in dem Institut verbleibt.

Mit etwa 18 Jahren sucht sich Jane eine Stelle als Gouvernante und wird in einen etwas entlegenen Haushalt aufgenommen, wo sie eine junge Französin, das Pflegekind des Hausherrn – möglicherweise eine von ihm unehelich gezeugte Tochter –, zu unterrichten hat. Es kommt, wie es in Frauenromanen des 19. Jahrhunderts kommen muss: Der Hausherr verliebt sich in sie und will sie trotz ihrer Mittellosigkeit (die sich am Ende als so mittellos gar nicht herausstellt) ehelichen. Aber natürlich hat er ein dunkles Geheimnis, das erst am Altar enthüllt wird und zu einem weiteren Umweg im Leben der Protagonistin führt. Wie es weiter und zu Ende geht, muss hier nicht erzählt werden, der Leser sollte aber nichts zu Ausgefallenes erwarten.

Für den heutigen Geschmack ist der Roman deutlich zu lang geraten. Insbesondere die Dialoge sind von einer lästigen und sich wiederholenden formelhaften Umständlichkeit; auch die immer wiederkehrenden längeren moralisierenden Einschübe, die einerseits weit über den Horizont der Erzählerin hinausgehen und andererseits die tatsächliche moralische Komplexität der Erzählung grandios unterlaufen, sind von Mal zu Mal schwerer auszuhalten. Hinzukommt eine je länger je penetranter werdende christliche Frömmelei des Romans, die die Sache nicht wirklich besser macht.

Zugutehalten muss man der Autorin, dass sie die vollständige Erfüllung der literarischen Klischees der trivialen Liebes- und Eheromane des 19. Jahrhunderts immer gerade so zu vermeiden vermag. Sie gerät an einigen Stellen gefährlich nahe an den literarischen Kitsch ihrer Zeit heran, kann aber immer noch das Schlimmste verhindern. Eine wirklich genüssliche Lektüre ist wahrscheinlich nur aus einer historisierenden Perspektive heraus möglich; den Längen und Umständlichkeiten des Romans kann leider auch diese sorgfältige Neuübersetzung nicht aufhelfen.

Charlotte Brontë: Jane Eyre. Eine Autobiographie. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Lizenzausgabe. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg, 2015. Bedruckter Leinenband, Lesebändchen, 653 Seiten. 25,– €.

William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung

Heiraten oder Hängen bleibt sich gleich.

Shakespeare-Guenther-13Auch eines der Stücke Shakespeares, mit denen sich die moderne Kritik schwer tut, endet es doch ausnahmsweise mit einer so unübersehbaren, platten und chauvinistischen Moral, dass es für den kritischen Menschen von heute das ganze Stück ruiniert. Da ist es doch einmal besser, kein Intellektueller zu sein und es so zu machen, wie das Publikum, das sich an der gut gemachten Komödie erfreut und Kätchens das Stück beschließende Predigt schlicht achselzuckend auf sich beruhen lässt. Denn gut gemacht ist das Stück:

Shakespeare exzelliert hier in der Parallelführung zweier Handlungsstränge. Zum einen geht es um das Liebeswerben Lucentios um Bianca, zum anderen um die Erziehung ihrer eigensinnigen Schwester Katharina durch den ihr frisch angetrauten Petruchio. Lucentio ist ein junger Mann aus Pisa, der nach Padua zum Studium kommt. Gleich und auf Anhieb verliebt er sich aber in Bianca, die Tochter Baptistas, und um sie umschmeicheln zu können, lügt er sich als Lehrer verkleidet in Baptistas Haus. Baptista allerdings hat ein dringenderes Problem, als die liebliche Bianca an den Mann zu bringen: Biancas ältere Schwester Katharina ist als unverträgliche Zanknudel verschrieen. Um sie aus dem Haus zu bekommen, verhängt Baptista das Gebot, dass Bianca erst nach der Vermählung Katharinas an die Reihe komme.

Da trifft es sich gut, dass bei einem der Bewerber um Biancas Hand ein alter Freund eintrifft: Petruchio, gerade Erbe des väterlichen Reichtums geworden, sucht eine Frau zur Ergänzung seines Vermögens und Haushalts. Ihm ist nicht bange vor Katharina und ihren Launen und der Überzeugung, schon Schlimmeres durchgestanden zu haben als ein bisschen Zank. So wirbt er um Katharina bei ihrem Vater, teilt dann seiner Braut in spe in einem kurzen Wortgefecht seine Absichten mit und verabschiedet sich in Geschäften nach Venedig. Am nächsten Sonntag taucht er erst kurz vor der Trauung in einem unmöglichen Aufzug auf, lässt sich unter unmöglichem Benehmen trauen und verschwindet mit seiner Frau umgehend aus Padua.

Während nun in Padua für die Bewerber Biancas der Weg frei ist, wird uns im Hause Petruchios Katharinas Erziehung vorgeführt: Der Ehemann benimmt sich ärger als seine Frau es je könnte und traktiert sie gleichzeitig durch Essens- und Schlafentzug. Dies Spielchen treibt er solange, bis Katharina sich in die Machtverhältnisse fügt, zu allem Ja und Amen sagt und als die Klügere ihrem Ehemann, dem sie nun einmal ausgeliefert wurde, endlich nachgibt. Die letzte Probe liefert dann ein Fest, das zugleich drei Hochzeiten feiert: Die Katharinas und Petruchios, die Biancas und Lucentios und eine weitere, die der Symmetrie wegen benötigt wird. Hier führt Petruchio seinen Sieg über Katharina öffentlich vor, indem er – im Gegensatz zu den anderen Ehemännern – in der Lage ist, seiner Ehefrau geradewegs Befehle zu erteilen, ohne irgendeinen Widerstand bei ihr zu erregen. Das ganze gipfelt in eben jener schon erwähnten Moralpredigt Katahrinas über die Rolle der Ehefrau als gehorsame Untertanin und Dienerin ihres Ehemannes.

Man kann nun versuchen, mit diesem Schluss auf ganz verschiedene Weise fertig zu werden: Man kann ihn ironisieren – was nicht das Schlimmste ist, was die Tradition mit Shakespeares Stücken so getrieben hat –, man kann ihn kritisieren – was etwa auch der Übersetzer Frank Günther tut –, man kann ihn als dramaturgische Notwendigkeit begreifen – schließlich ist es die Aufgabe des Dramas, die Harmonie der Bühnengesellschaft wiederherzustellen – oder man kann ihn schlicht auf sich beruhen lassen – was klugerweise die meisten Zuschauer tun. Und doch ist es bemerkenswert, dass Shakespeare, dessen Stücke in den meisten Fällen von platten moralischen Belehrungen so angenehm frei sind, gerade dort, wo er einmal auf gut einer Seite die offizielle Moral seiner Zeit unverstellt zu Wort kommen lässt, uns gleich ganz und gar unmodern erscheint. Ob er überhaupt berühmt wäre, wenn er geschrieben hätte, was er wirklich dachte?

William Shakespeare: Der Widerspenstigen Zähmung. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 13. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 304 Seiten. 33,– €.

William Shakespeare: Wie es euch gefällt

Ich bin Verstandesmensch so gut wie er, aber ich schau dankbar auf zum Himmel und trag’s nicht vor mir her.

Shakespeare Guenther 12Eine weitere leichte Komödie Shakespeares. Den dramatischen Anlass bildet ein doppelter Bruderzwist: Orlando wird ungerecht behandelt von seinem Bruder Oliver, der ihn als billige Arbeitskraft auf dem ererbten Hof verschleißt anstatt ihm eine höhere Ausbildung angedeihen zu lassen, wie der Vater es gewollt hatte, und der ältere Herzog ist von seinem Bruder Frederick aus Amt und Würden vertrieben worden und lebt nun fröhlich „wie Robin Hood“ mit einem Teil seines Hofstaats im Wald von Arden. Zu ihm gesellen sich nun auch Orlando und – in etwas größerer Distanz  – Rosalinde und Celia, die Töchter des alten und des neuen Herzogs, wobei sich Rosalinde als Mann verkleidet hat, um die Sicherheit der beiden Damen zu erhöhen. Bevor man in den Wald verschwindet, wird kurz noch Gelegenheit gemacht, dass Rosalinde und Orlando sich ineinander verlieben können: Orlando gewinnt einen Catch-Wettbewerb am Hofe Fredericks und kann so seine Männlichkeit strahlen lassen.

Im Wald leben alle fröhlich und harmonisch, nur die Liebe bringt Verwicklungen mit sich, die weidlich ausgekostet werden: Rosalinde, jetzt als Ganymed in Hosen, überredet Orlando an ihr/ihm sein Liebeswerben um Rosalinde zu üben (eine Posse, die in Shakespeares Theater noch dadurch zugespitzt wurde, dass alle Frauenrollen ohnehin von Männern gespielt wurden), eine Schäferin namens Phoebe verliebt sich in Ganymed/Rosalinde und wird wiederum vom Schäfer Silvius begehrt. Probstein, der Narr des alten Herzogs, verliebt sich sterblich in Käte, eine hässliche Ziegenhirtin, die ihm auch gern zu Willen ist, und schließlich werden sich auch Celia und der seinen Bruder suchende Oliver in rasender Geschwindigkeit einig. Am Ende hagelt es Hochzeiten, der junge Herzog bekehrt sich urplötzlich zum Besseren und wird Eremit, und alle laufen fort zum Fest und lassen das Publikum nach Hause gehen.

Höhepunkte des Stücks sind einerseits Lord Jaques selbst aus dem Hofstaat des alten Herzogs, ein melancholischer Philosoph –

Gut, gut, wenn ich jemals jemand danke schön sage, sag ich’s Ihnen; aber was Höflichkeiten tauschen heißt, kommt mir vor, als wenn sich zwei Nasenaffen am Hintern riechen.

– und andererseits seine vielzitierte “All the world’s a stage”-Metapher, die beide dem Stück gelegentlich ein wenig Tiefgang verpassen, ohne dass der ansonsten getriebene allgemeine Unfug groß gestört wird – der blankste Realismus, wie man sieht!

Dies ist eines jener Stücke, an denen man gut erkennen kann, dass Shakespeare Teil eines kommerziellen Unterhaltungsbetriebs war, in dem es darum ging, einem möglichst bunten und breiten Teil des vorhandenen Publikums Vergnügen zu bereiten und ihm damit das Geld aus der Tasche zu ziehen. Man wird diese Art des gehobenen Klamauks dann viel später etwa bei Nestroy wiederfinden, der in einer ganz ähnlichen Lage schrieb wie der Stratforder Meister.

William Shakespeare: Wie es euch gefällt. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 12. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 282 Seiten. 33,– €.

William Shakespeare: König Richard III.

Ich fürcht, ich fürcht, ’s wird rundgehn mit der Welt.

Shakespeare Guenther 11König Richard III. ist bekanntlich jener dialektische Tyrann, den es brauchte, um den englischen Sturz aus der politischen Unschuld in den Rosenkrieg so auf die Spitze zu treiben, dass er überwunden werden konnte. Nach ihm erschien jede Herrschaft annehmbarer und sei es die eines Heinrich VII. Und so sind Richards Tyrannei, seine moralische wie körperliche Verwachsenheit zentrale Elemente jenes Tudor-Mythos, der zur Rechtfertigung und Sicherung der Herrschaft seiner Nachfolger diente. Und Shakespeares Stück ist nur eine theatralische Verlängerung und dramaturgische Verwertung jenes Mythos.

Selbstverständlich ist eine durch und durch böse Figur von besonderem Reiz, zeigt sie doch die Vorzüge der Macht einmal unverstellt und beflügelt so die Phantasie derer, die selbst heimlich oder unheimlich von ihr träumen. Und so gerät Richard denn auch: Beredt, charmant, beliebt bei Kindern, erfolgreich selbst bei Frauen, deren Ehemänner er kurz zuvor noch ermordet hat, öffentlich fromm, privat gottlos, Solidaritäten einfordernd, selbst aber verweigernd – und alle, die ihm widersprechen, werden einfach hingerichtet. Was für ein angenehmes Leben!

Natürlich kann man solche unverstellte Selbstherrlichkeit nicht auf sich beruhen lassen, und das Schicksal schreitet rasch: Einige entkommen dem Zugriff des Tyrannen und wollen selbst Kalif sein anstelle des Kalifen. Was macht man unter Männern, wenn man sich über den Zugang zur Macht nicht einig wird? Man führt Krieg. Und in dem hat Richard das Pech, erschlagen zu werden und so sein historisches Porträt von den Siegern geschrieben zu bekommen. Wahrscheinlich war er in Wirklichkeit nicht bucklig, nur halb so bös und kaum viertels so beredt.

Shakespeare hat in „König Richard III.“ hauptsächlich mit einem Mangel an echter Handlung und Entwicklung zu kämpfen. Die Handlung setzt kurz vor dem Tod Edward IV. ein: Richard beseitigt seinen Bruder George, der ein möglicher Konkurrent bei der Thronfolge wäre, aber leider gelingt dies ohne viel Aufwand. Edward stirbt kurz darauf von selbst und anschließend muss nur der Thronerbe in den Tower gesperrt werden, damit die eigene Thronfolge mit geringem Aufwand inszeniert werden kann. Richards Streben nach der Macht wird zwar oft und wortreich beklagt, aber niemand leistet effektiven Widerstand. Der letzte Akt liefert dann endlich eine Schlacht, aber bis dahin ist nur wenig zu tun.

Auch kann von keiner Entwicklung des Protagonisten gesprochen werden: Seine Intentionen sind von der ersten Szene an so eindeutig und langweilig offenbar, dass von daher kaum irgendeine dramaturgische Bewegung erhofft werden kann. Shakespeare hilft sich heraus, indem er zahlreiche Szenen einbaut, in denen andere über Richard und die fatalen Folgen seines Strebens zur Macht klagen. Es ist ihm dabei zugute zu halten, dass es unter all denen, die Richard beschuldigen, keinen gibt, die oder der selbst frei von Schuld wäre; hier sitzt ein jeder, der Steine wirft, im eigenen Glashaus. So geht’s halt zu bei Königs daheim.

Ein Stück, das nahezu ausschließlich von der Faszination am unverstellten Bösen und dem Charakter des Protagonisten lebt. Wer Tyrannen, ihr Wirken, Meinen und Leiden eher nebensächlich oder weniger interessant findet, mag sich langweilen. Für alle, die glauben, die Macht könne sie oder gar uns erretten, eine Art Lehrstück. Am wirkungsvollsten in Diktaturen aufzuführen.

William Shakespeare: König Richard III. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 11. Cadolzburg: ars vivendi, 2002. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 376 Seiten. 33,– €.

Virginia Woolf: Orlando

Nicht Orlando sprach, sondern der Geist der Epoche. Doch wer es auch war, niemand antwortete.

Es muss in der zweiten Hälfte der 80er Jahre gewesen sein, als ich unter großen Vorbehalten zwei oder drei Bücher von Virginia Woolf gelesen habe; „Orlando“ war darunter und „Die Wellen“ und wahrscheinlich noch ein weiterer Roman, wobei ich mich weder an Titel noch Inhalt irgendwie erinnern kann. Meine Vorurteile Woolf gegenüber entstammten in der Hauptsache zwei Quellen: ihrer Rezeption des Joyceschen „Ulysses“ und einer Gruppe von ideologischen Leserinnen Woolfs, die mir damals, während des Studiums, unschwer auf die Nerven gingen.

Nun hat Melanie Walz im Insel Verlag vor einigen Jahren die inzwischen vierte deutschsprachige Übersetzung des „Orlando“ vorgelegt und allein aufgrund der Übersetzerin war ich geneigt, das Buch noch einmal zu lesen. Walz’ Übersetzung ist die erste, die auch das formale Spiel Woolfs mit dem Genre der Biographie im Deutschen wiedergibt. Im englischen Sprachraum folgt die akademische Biographie oft einem festen formalen Schema: Vorwort, Inhaltsverzeichnis, Abbildungsverzeichnis, Text und Register. Da aber deutschen Lesern dieses Schema weitgehend unbekannt sein dürfte, haben alle früheren Ausgaben auf dessen Reproduktion verzichtet, so dass Walz’ Übersetzung als die erste tatsächlich vollständige bezeichnet werden kann. Und auch wenn es das fatale Marketinglabel „Roman“ wieder auf den Umschlag des Buches geschafft hat, so steht doch wenigstens auf seinem Titelblatt korrekt die irreführende Gattungsbezeichnung: „Eine Biographie“.

Selbstverständlich handelt es sich bei „Orlando“ nur um ein Spiel mit der Form und den Gepflogenheiten biographischen Schreibens. Der Protagonist bzw. die Protagonistin Orlando wird um 1580 geboren und ist im Jahr des Erscheinens ihrer Biographie noch immer am Leben; wahrscheinlich hat sie vor lauter Beschäftigung einfach vergessen zu sterben. Kurz zusammengefasst findet sich Orlandos Lebenslauf im Register des Buches:

Orlando – als Knabe 14; verfasst sein erstes Schauspiel 15; besucht die Königin in Whitehall 20; wird zum Schatzmeister und Großhofmeister ernannt 23; seine Liebschaften 26; und die russische Fürstin 34–39; seine erste Trance 59; zieht sich in die Einsamkeit zurück 63; seine Liebe zur Lektüre 65; seine romantischen Dramen 15 [sic!]; seine literarischen Ambitionen 67, 68, 152; und Greene 74–90; seine Urgroßmutter Moll 76; erwirbt Elchhunde 84; und sein Poem Die Eiche 99, 129, 152, 272; und sein Haus 93–96; und die Erzherzogin Harriet 101–193; als Gesandter in Konstantinopel 106–117; wird zum Herzog ernannt 113; zweite Trance 117; Heirat mit der Zigeunerin Rosina Pepita 118; wird zur Frau 122; bei den Zigeunern 125–134; kehrt nach England zurück 135; Gerichtsverfahren 148; und Erzherzog Harry 158; in der Londoner Gesellschaft 169; bewirtet die Esprits 191 [sic!]; und Mr. Pope 179; und Nell 191; mit ihrem Cousin verwechselt 193; kehrt in ihr Haus auf dem Land zurück 203; bricht sich den Knöchel 217; wird zur Frau erklärt 220; Verlobung 291; Heirat 228; Geburt des ersten Sohnes 259

Wie man sieht, ein durchaus erfülltes Leben, für das eben 350 und einige Jahre erforderlich sind. Orlando durchläuft nicht nur alle Epochen der englischen Geschichte seit der Elizabethanischen, sondern sie durchleidet auch deren stilistische und soziale Moden. All dies wird mit leichter und ironischer Souveränität betrieben und ist – bis auf wenige Längen – sehr vergnüglich zu lesen. Sicherlich kann man darin auch tiefere Bedeutungen vermuten, aber ich würde davon abraten; das Spiel als Spiel ist vollständig ausreichend, alles weitere verdirbt nur diesen wirklichen Wurf.

Die Neuübersetzung von Melanie Walz ist jener früheren, die ich las – leider kann ich nicht rekonstruieren, welche der beiden frühen Übersetzungen ich damals in der Hand hatte, ich befürchte aber, es war die von Karl Lerbs – um Welten überlegen. Der spielerische und ironische Charakter des Buches ist mir erst mit dieser Lektüre vollständig deutlich geworden. Eine genüssliche Lektüre setzt beim Leser allerdings ein gerüttelt Maß an historischer und literarischer Bildung voraus.

Virginia Woolf: Orlando. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Melanie Walz. it 4238. Berlin: Insel, 2015. Broschur, 304 Seiten. 8,– €.

John Dos Passos: Manhattan Transfer

Gebt mir Freiheit, sprach Patrick Henry und setze am 1. Mai seinen Strohhut auf, oder gebt mir den Tod. Den hat er dann ja gekriegt.

dos-passos-manhattanBei „Manhattan Transfer“ (1925) handelt es sich um einen der frühen, großen Romane, die unter dem unmittelbaren Einfluss des Joyceschen „Ulysses“ (1922) entstanden sind. Daraus ergibt sich sein Status als einer der Gründungstexte der US-amerikanischen Moderne. „Manhattan Transfer“ hat sich für einen anspruchsvollen Avantgarde-Roman außergewöhnlich gut verkauft, was auch erklärt, dass er bereits zwei Jahre nach seinem Erscheinen auf Deutsch vorlag – auch Georg Goyerts Übersetzung des „Ulysses“ erschien übrigens im Jahr 1927.

Nun haben solche raschen Übersetzungen einerseits den Vorteil, dass sie die deutsche Leserschaft darüber auf dem Laufenden halten, was jenseits der Grenzzäune so getrieben wird, andererseits stellen sie an den Übersetzer hohe Ansprüche, denn nicht nur muss er gerade erst im Entstehen begriffene formale Entwicklungen in seiner Sprache nachbilden, sondern er sieht sich auch oft mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass er sprachliche Slang-, Alltags- oder Mode-Wendungen nirgends nachschlagen kann und sich aufs Raten oder – wie Baudisch – aufs Weglassen verlegen muss. Andere Produktionshemmnisse mögen hinzugetreten sein.

Wie dem auch immer gewesen sein mag, es kann nur festgestellt werden, dass die Übersetzung von Paul Baudisch, die bislang „Manhattan Transfer“ im Deutschen vertreten musste, ihren Lesern nur ansatzweise einen Eindruck von der Qualität des Originals vermitteln konnte – und das ist noch freundlich formuliert. Schon Kurt Tucholsky fasste 1931 seinen Eindruck von Paul Baudischs Übersetzungen in dem Satz zusammen: „Merkwürdig, aus welchen Händen unsre Übersetzungen kommen!“

Es ist daher nicht nur sehr löblich, sondern es war auch dringend nötig, dass Rowohlt diesen Text hat neu übersetzen lassen. Von Dirk van Gunsteren, der seine Kunst als Übersetzer auch schon an Thomas Pynchon, Philip Roth und T. C. Boyle unter Beweis gestellt hat, liegt nun eine sehr gut lesbare Neuübersetzung  vor, von der ich insgesamt den Eindruck habe, dass sie sich auf der Höhe des Originals bewegt. Auch van Gunsteren trifft einige befremdliche Entscheidungen  – so lässt er zum Beispiel in den meisten Fällen eine dialektale, soziale oder umgangssprachliche Einfärbung der Dialoge einfach weg und verflacht auf diese Weise den Text –, aber der Gesamteindruck seiner Übersetzung ist der Baudischs so weit überlegen, dass sich ein ernsthafter Vergleich verbietet.

Erzählt wird die Geschichte von ungefähr drei oder vier Hauptfiguren, die in der Hauptsache von 1904 bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts verfolgt werden: Ellen, später Elaine und noch später Helena Thatcher, Tochter eines Buchhalters, die früh ihre Mutter verloren hat, wird Schauspielerin, heiratet einen ungeliebten Kollegen, verliebt sich in einen jugendlichen Säufer, dann in einen Journalisten, den sie im Ersten Weltkrieg lieben lernt, und endet als unglückliche Ehefrau eines Staatsanwalts. Jimmy Herf stammt aus besseren Verhältnissen, wird aber früh Waise und schlägt sich als Reporter durch. Er lernt Ellen durch eine ihrer Kolleginnen kennen, verliebt sich in sie, kommt ihr aber erst während des Krieges in Europa näher und kehrt 1918 mit ihr als Ehefrau und mit einem kleinen Sohn nach New York zurück. Jimmy ist der einzige, dem es am Ende des Romans gelingt, aus dem Dunstkreis New Yorks und damit vielleicht auch seinem Unglück zu entkommen. George Baldwin ist ein aufstrebender, junger Anwalt mit einer Schwäche fürs schöne Geschlecht. Er macht berufliche Karriere, endet als Bezirksstaatsanwalt und potenzieller Kandidat für das Amt des Bürgermeisters. Auch er verliebt sich leidenschaftlich in Ellen, verliert zwischenzeitlich sogar einmal die Kontrolle über seine Gefühle so weit, dass er versucht sie zu erschießen, und endet, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit aber mit Notwendigkeit als ihr letzter, unglücklicher Ehemann. Stanwood Emery ist ein junger, reicher Taugenichts und Ellens große und wahrscheinlich einzige Liebe. Stan ist ein notorischer Säufer, heiratet im Suff versehentlich die falsche Frau und kommt bei einem von ihm selbst verursachten Brand ums Leben.

Um diese Hauptfabel herum entwickelt Dos Passos ein reiches Panorama von Figuren und Geschichten: Bud Korpenning flieht als Mörder vom Land in die Stadt, fristet dort sein Dasein als Tagelöhner und Bettler und springt von einer der Brücken New Yorks in den Tod. Joe Harland war einst der König der Wall Street, hat sich verspekuliert und versäuft sein restliches Leben. James Merivale, ein Cousin Jimmy Herfs, ist ein opportunistischer Schwachkopf, kommt als Kriegsheld aus dem Ersten Weltkrieg und wird ein erfolgreicher Banker, der seine Schwester an einen Hochstapler verheiratet. Congo Jake ist ein französischer Matrose und Barkeeper, der als Alkoholschmuggler reich wird. John Oglethorpe (Ellens erster Ehemann), Ruth Prynne, Nevada Jones und Tony Hunter sind Schauspieler, die nie so recht den Durchbruch schaffen. Gus McNiel und seine Frau Nellie haben Glück im Unglück und machen aus einem Beinbruch eine Karriere. Joey O’Keefe ist ein Spitzel, der sich später für die Veteranen des Krieges engagiert. Dutch Robertson ist einer dieser Veteranen und macht Karriere als Räuber. Anna Cohen ist eine lebenslustige Jüdin, die gern tanzt und sich als Näherin durchschlägt; auch ihr Leben ist letztlich schicksalhaft mit dem Ellens verbandelt. Rosie und Jake Silverman sind ein Betrügerpärchen, dem kein Erfolg beschieden ist. Man könnte diese Aufzählung problemlos weiter treiben.

Alle diese Geschichten, Kleinsterzählungen und Anekdoten werden in kurzen Abschnitten – von einer halben Seite bis zu einigen Seiten Länge – vorangetrieben, die einander nach einem nur scheinbar zufälligen Muster ablösen. Dazwischen finden sich immer wieder rein impressionistische Abschnitte, aber auch kurze Blitzlichter der sozialen und politischen Verhältnisse New Yorks im frühen 20. Jahrhundert. Das korrupte Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften wird thematisiert, das Elend der Arbeitslosen, die Not der ungewollt Schwangeren, die Abschiebung politisch Unerwünschter, all dies und vieles mehr kommt oft nur wie nebenbei, aber dennoch unübersehbar in dem Gesamtbild vor, das der Roman zeichnet.

Der Roman ist mit seinem inhaltlichen und motivischen Reichtum sowie seiner musivischen Form eines der wichtigen Vorbilder für die Entwicklung des Romans im 20. Jahrhundert. Es ist sehr erfreulich, dass dieses wichtige, historische Musterbuch für deutsche Leser endlich in einer angemessenen Übersetzung vorliegt. Jeder und jedem, die an der Entwicklung der literarischen Moderne interessiert sind, sei die Lektüre dieser Neuübersetzung dringend empfohlen.

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Reinbek: Rowohlt, 2016. Pappband, Lesebändchen, 540 Seiten. 24,95 €.

Jane Austen: Verstand und Gefühl

austen-verstand-gefuehlDer erste veröffentlichte Roman Jane Austens, nachdem sie viele Jahre nur für die Schublade geschrieben hatte. Es handelt sich um eine scharfe und intelligente Parodie des zeitgenössischen empfindsamen Romans, nicht ohne Schwächen im moralischen Abschluss, die aber durch das gnadenlos ökonomische Bild der englischen Gesellschaft und einen beißenden Spot der Erzählerin mehr als aufgewogen werden.

Die Handlung sollte auch in Deutschland aufgrund der Verfilmungen im Großen und Ganzen bekannt sein: Die Schwestern Elinor und Marianne Dashwood werden zusammen mit ihrer Mutter und einer noch jüngeren Schwester durch den unglücklich frühen Tod des Vaters mit einer nur gerade so ausreichenden Versorgung zurückgelassen. Ihr Halbbruder John, der der Haupterbe des väterlichen Vermögens ist, wird von seiner Frau von dem väterlichen letzten Wunsch, er möge sich um seine Schwestern kümmern, abgebracht. So sind die jungen Frauen zwar in bescheidenem Umfang finanziell abgesichert, auf eine Ehe haben sie bei ihrem geringen persönlichen Vermögen aber nur Aussichten, falls sich zufällig ein vermögender Herr in sie verlieben würde. Bald stellen sich zwei potenzielle Bewerber ein, die sich aber beide als anderweitig engagiert erweisen. Der sich für Elinor interessierende Edward, ein Bruder von Johns Frau, ist bereits verlobt, und Willoughby, der Marianne intensiv den Hof macht, verschwindet eines Tages nach London, wo er sich später als der Verlobte eines reichen, adeligen Fräuleins erweisen wird.

Warum und auf welche Weise es dennoch gut ausgeht, braucht hier nicht erzählt zu werden und ist für die Qualität des Romans auch eher unerheblich. Wesentlich ist dagegen der charakterliche Gegensatz der beiden Schwestern, den schon der Titel in zwei Schlagwörtern zusammenfasst: Elinor hat ihre Gefühle weitgehend unter Kontrolle, versucht den Forderungen der guten Gesellschaft nachzukommen, sieht ihre Zukunftsaussichten stets realistisch, wagt wenig zu hoffen etc. Marianne dagegen ist das Muster der empfindsamen Protagonistin: sich ganz ihren Gefühlen überlassend, verächtlich gegenüber der gesellschaftlichen Höflichkeit, ideologisch beschränkt bis zur Dumpfheit (man kann nur einmal lieben, wahre Liebe ist absolute Seelenharmonie und ähnlich hochtrabender Pubertätsunfug), unfähig zu einer differenzierten Wahrnehmung ihrer Umwelt etc. Beide Schwestern werden durch den Verlauf des Romans in gewisser Weise reformiert, wenn auch die Besserung Mariannes deutlicher ausfällt als die ihrer Schwester.

Diese Wandlungen finden vor dem Hintergrund einer harschen und ironischen Beschreibung der englischen besseren Gesellschaft statt: Hier regiert ausschließlich das Geld, und am erfolgreichsten sind jene Dummköpfe, die genau dieses Teil des menschlichen Miteinanders begreifen und sonst nicht viel mehr. Kaum jemand genügt den Bildungsansprüchen, die insbesondere von Elinor verkörpert werden; hat man nicht Kinder oder Klatsch als Thema, muss man sich ins Kartenspiel flüchten, wenn man einander nicht anöden möchte. Und die meisten Figuren sind von einer zwischenmenschlichen Gleichgültigkeit, dass man schreien möchte. Natürlich sind dies alles Karikaturen, doch die Variationsbreite und die nonchalante Boshaftigkeit der Erzählerin machen diese Charaktere zu einem reinen Vergnügen. Wie sooft im Roman des 19. Jahrhunderts spielt sich das Wesentliche im Hintergrund ab.

Allen, die Jane Austen noch nicht gelesen haben, sei die präzis und mit viel trockenem Humor übersetzte Ausgabe bei Reclam empfohlen.

Jane Austen: Verstand und Gefühl. Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe. Reclam Tb. 20409. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 466 Seiten. 7,95 €.

William Shakespeare: Zwei Herren aus Verona

Außerdem: 1594 […] war [Shakespeare] 30 Jahre alt; vergleichsweise war Georg Büchner da schon sechs Jahre tot.

Wolfgang Wicht

Shakespeare Guenther 09

Bei den „Zwei Herren aus Verona“ handelt es sich um eines jener Stücke Shakespeares, die den Nachlebenden erhebliche interpretatorische Bauchschmerzen bereiten. Uneins ist man sich bereits bei der Frage der zeitlichen Verortung des Stückes: Einige halten es eindeutig für ein Frühwerk, andere weisen auf die raffinierte Gearbeitetheit des Stückes hin und wollen es auf jeden Fall dem reifen Dichter zuordnen. Was die einen nur als dramaturgische Hilflosigkeit verstehen können, ist für die anderen eine provokante Parodie auf spätmittelalterlichen Chauvinismus. Was auch immer es ist, wirklich gelungen scheint es nicht zu sein.

Einmal mehr handelt es sich bei den „Zwei Herren aus Verona“ um eine italienisch situierte Liebeskomödie Shakespeares: Valentin und Proteus, zusammen in Verona aufgewachsen und dicke Freunde, werden auf kurze Zeit voneinander getrennt: Valentin geht nach Mailand an den Hof des Kaisers, Proteus bleibt zurück, um seine geliebte Julia zu hofieren. Das allerdings nützt ihm nicht viel, denn sein Vater entscheidet bald, dass auch der Stubenhocker Proteus nach Mailand soll, wogegen der sich plötzlich nicht mehr wehrt. In Mailand eingetroffen findet er Valentin verliebt in Silvia vor, die Tochter des Herzogs. Ruck, zuck vergisst Proteus seine Julia, verliebt sich ebenfalls in Silvia und will sich nun den zum Widersacher gewordenen Valentin vom Halse schaffen. Daher verrät er Valentins und Silvias Fluchtplan dem herzoglichen Vater, der Valentin daraufhin verbannt. Auf dem Weg nach Mantua wird Valentin von einer Räuberbande aufgegriffen, die ihn kurzerhand zu ihrem Hauptmann macht, anstatt ihn auszurauben. Schließlich laufen auch Silvia, Proteus, der Herzog und dessen Ehekandidat für Silvia, ein Herr Thurio, in den Wald, wo sich alle zum Happy End treffen: Valentin und Proteus versöhnen sich wieder, Proteus wendet sich der als Page verkleideten Julia wieder zu, der euphorisierte Herzog verzeiht Valentin und allen seinen Räubern alles und erlaubt die Heirat mit Silvia, und selbst Herr Thurio wird mit zur Doppelhochzeit eingeladen.

Das Stück ist nach unserem Verständnis tatsächlich dramaturgisch abenteuerlich uneinheitlich: Einerseits lässt sich auf das schön gearbeitete gegenseitige Spiegelverhältnis der Paare Proteus/Julia und Valentin/Silvia hinweisen; auch die feinen Spitzen gegen höfisches Rittertum sind nicht von der Hand zu weisen. Andererseits überzeugen weder die urplötzliche Räuberhauptmannschaft noch die gesamte Konstellation der Konfliktlösung am Ende des Stücks. Als eigentliche Crux erweist sich dabei die Versöhnung der beiden Protagonisten, zwischen denen nicht nur nach einem kurzen Reuebekenntnis des Proteus alles wieder gut ist, sondern als deren Konsequenz Valentin auch noch ganz großzügig Silvia dem Proteus als Freundschaftspreis anbietet.

Nun weisen zwar Übersetzer Frank Günther und der Verfasser des beigebundenen Essays Wolfgang Wicht darauf hin, dass man dies – ob Parodie oder Ernst – im Rahmen der zeitgenössischen Ideologie der Männerfreundschaft lesen sollte, doch auch das befriedet nur, befriedigt aber letztlich nicht. Was auch immer der Grund für die augenscheinliche Unausgewogenheit des Stückes sein mag (man könnte geneigt sein, ein zeitgenössisches Stück erfinden zu wollen, das so schlecht und zugleich so bekannt war, dass Shakespeare mit „Zwei Herren aus Verona“ eine direkte Parodie darauf verfasst hat, die aber keiner mehr erkennt, weil die Vorlage vollständig verschwunden ist; natürlich würde das in unseren Zeiten der Vernunft kein Mensch gelten lassen), wir werden damit leben müssen, hier nur ein verwachsenes Kind des Schwans vom Avon vorliegen zu haben.

William Shakespeare: Zwei Herren aus Verona. Übersetzt von Frank Günther. Zweisprachige Ausgabe. Gesamtausgabe Bd. 9. Cadolzburg: ars vivendi, 2001. Geprägter Leineneinband, Fadenheftung, zwei Lesebändchen. 246 Seiten. 33,– €.