Stewart O’Nan: Das Glück der anderen

978-3-570-19532-1 Erzählt wird die Geschichte der Stadt Friendship und ihres Sheriffs, Predigers und Totengräbers Jacob Hansen, über die binnen weniger Tage gleich zwei Katastrophen hereinbrechen: Zum einen eine Diphtherie-Epidemie, zum anderen ein verheerendes Großfeuer, das sich aufgrund eines langanhaltenden trockenen Sommers unaufhaltsam ausbreitet. Weder die Zeit noch der Ort der Handlung werden präzise bezeichnet, doch offensichtlich handelt es sich um eine amerikanische Kleinstadt Ende des 19. Jahrhunderts: Der Telegraph ist schon etabliert, aber nicht das Telefon, Jacob Hansen fährt schon Fahrrad, aber es gibt noch keine Autos. Der Leser darf annehmen, dass O’Nan die Handlung absichtlich in die Zeit unmittelbar vor den ersten Erfolgen bei der Bekämpfung der Diphtherie in den 1890er Jahren gelegt hat.

Dabei geht es O’Nan nur in zweiter Linie um die Beschreibung der Folgen einer solchen Epidemie für eine Kleinstadt, sondern in der Hauptsache um die Auswirkungen auf seinen Protagonisten: Jacob Hansen verliert durch die Diphtherie bereits sehr früh im Roman seine kleine Tochter und seine Frau, bleibt aber dennoch bis zum Ende unermüdlich für seine Stadt tätig. Dies gelingt ihm durch eine Ablösung von der Realität des Geschehens, die er erst aufgibt, als das Ende der Stadt unmittelbar bevorsteht. Unterstützt wird die Beschreibung dieser Ablösung durch die durchgehende Verwendung der literarisch sehr seltenen Du-Erzählung: Der Erzähler – dass er mit dem Protagonisten identisch ist, kann nur vermutet werden – spricht den Protagonisten stets mit »Du« an. Diese Sonderform des personalen Erzählens erlaubt es O’Nan, eine deutliche Distanz zwischen Erzähler und Protagonist aufzubauen, ohne dabei auf einen auktorialen Erzähler zurückgreifen zu müssen. In dieser Hinsicht stellt das Buch ein interessantes erzähltechnisches Experiment dar.

Der Originaltitel des Buches A Prayer for the Dying setzt doch einen etwas anderen Ton als das etwas altruistische Das Glück der anderen, das der deutsche Verlag dem Buch aufs Titelblatt gepresst hat. Vielleicht war ihnen der Originaltitel zu negativ für ein  Buch, in dem mehr oder weniger alle Figuren am Ende tot sind. Der Originaltitel weist darauf hin, dass die Katastrophe bei Jacob Hansen auch eine religiöse Krise auslöst. Überhaupt ist die Hauptfigur recht differenziert und vollständig erfunden: Sein Umgang mit den Toten geht bis auf seine Zeit als Soldat im Amerikanischen Bürgerkrieg zurück, aus der auch seine Aversion gegen Pferde – daher das Fahrrad als Fortbewegungsmittel – stammt. Seit langer Zeit von Toten umgeben, sind für ihn die Unterschiede zwischen den Lebenden und den Toten geringer als für einen Alltagsmenschen. Hansens Glaube ist nur ein weiterer Aspekt dieser Verbundenheit des Lebenden mit den Toten.

Alles in allem ein interessanter Roman mit einer außergewöhnlichen, aber überzeugend eingesetzten Erzählperspektive.

Stewart O’Nan: Das Glück der anderen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Lizenzausgabe. Hamburg: Gruner + Jahr, 2006. Leinenrücken, Lesebändchen, 235 Seiten. 10,– €.

Stewart O’Nan: Last Night at the Lobster

onan_lobsterAuch Stewart O’Nan ist mir bislang vollständig entgangen, obwohl er seit mehr als 20 Jahre publiziert und seit über 10 Jahren seine Bücher auch auf Deutsch erscheinen. Nun ist mir aber endlich von meinem aufmerksamen Buchhändler sein in diesem Jahr auf Deutsch erschienenes Letzte Nacht empfohlen worden, wobei sich herausstellte, dass die englische Hardcover-Ausgabe preiswerter ist als die deutsche.

Das Buch ist ein Musterstück einer Pars-pro-toto-Erzählung: Erzählt wird von einem einzigen Abend in einem Restaurant der Kette »Red Lobster«. Es ist kurz vor Weihnachten, und das Restaurant hat seinen letzten Öffnungstag. Es wird wegen angeblich mangelnder Rentabilität geschlossen. Im Mittelpunkt der personalen Erzählung steht Manny, der Manager des Restaurants, der mit einer zusammengeschrumpften Belegschaft diesen letzten Tag ordentlich über die Bühne bringen möchte. Einerseits ist er bemüht, es als einen Tag wie jeden anderen zu nehmen, andererseits liegt in jeder Handlung das melancholische Bewusstsein, dass dies alles zu Ende geht.

Draußen schneit es den ganzen Tag, und gegen Abend entwickelt sich ein regelrechter Schneesturm, so dass es mittags für einen Samstag ruhig ist und zum Abendessen nur ein älteres Ehepaar vorbeikommt, das auf der Durchreise ist. Manny hat also, obwohl er den ganzen Tag über beschäftigt ist, genug Zeit, um nachzudenken und Erinnerungen nachzuhängen.

Das Buch enthält eine ungewöhnlich ruhig und gelassen erzählte Geschichte, deren Höhepunkte in Missgeschicken, kleinen Unfällen, ungewöhnlichen Begebenheiten bestehen. In einem wesentlichen Sinne passiert in diesem Buch nichts als das Alltägliche in seinen ewig wiederkehrenden Variationen. Hier und da sprengt etwas diesen Rahmen, aber insgesamt ist dieses Buch sensationell alltäglich. Es bezeichnet das große erzählerische Talent O’Nans, dass er für all dies einen Erzählton und ein -tempo gefunden hat, die die Erzählung in einer erstaunlichen Balance halten. Hinzukommt ein Detailrealismus, der dem Leser eine genaue Vorstellung der Abläufe im Restaurant vermittelt. Obwohl in diesem Buch nichts im traditionellen Sinne Spannendes vorkommt, habe ich mich keine Sekunde bei der Lektüre gelangweilt.

Ein erstaunlich artistisches und zugleich unauffällig daherkommendes Buch. Allen Lesern gediegener und unaufgeregter Prosa nachdrücklich empfohlen.

Stewart O’Nan: Last Night at the Lobster. New York: Viking, 2007. Pappband, 147 Seiten. Ca. 12,– €.