Uwe Timm: Freitisch

Wat wullen Se denn? Ich frage, wo Arno Schmidt wohnt. Da hat der Bauer in die Dunkelheit gezeigt. Und gesagt: Kümmt immer wieder ener. De let keenen vor.

Es ist heute schon eine angenehme Ausnahme, wenn ein erzählender Text mit der spezifischen Gattungsbezeichnung Novelle versehen ist und nicht mit dem allgemeinen Vertriebslabel Roman beklebt wird. Wenn dann zudem tatsächlich eine »sich ereignete unerhörte Begebenheit« – wenn auch in ironischer Brechung – den Höhepunkt der Erzählung bildet, kann man als Leser höchst zufrieden sein.

Uwe Timms »Freitisch« erzählt von der Begegnung zweier alter Münchner Studienkollegen in einer Kleinstadt an der Peene. Der eine der beiden, der Ich-Erzähler, ist pensionierter Studienrat, Deutsch und Geschichte, der andere ein Fachmann für Müllentsorgung, der für die Stadt eine neue Deponie planen soll. Kennengelernt haben sie sich Mitte der 1960er Jahre am Freitisch einer Versicherungsgesellschaft, einem Vierertisch, den außer den beiden auch ein Jurist und ein weiterer Germanist mit dem Spitznamen Falkner regelmäßig frequentierten. Und an diesen Tisch hatte der damalige Mathematikstudent – daher sein Spitzname Euler – und jetzige höhere Müllmann die Arno-Schmidt-Lektüre eingeführt, ausgerechnet mit dem Band »Kühe in Halbtrauer«, damals die letzte Neuerscheinung Schmidts.

Da der pensionierte Studienrat aus der Zeitung erfahren hatte, dass Euler in die Stadt kommen werde, passt er ihn vor dem Rathaus ab, und man geht miteinander in ein Café am Ort und erinnert sich der alten Zeiten: Der eigenen Aufbruchstimmung, die mit der der 68er-Generation nicht viel gemeinsam hatte, der Schreibversuche, die nur Falkner schließlich zum Beruf gemacht hat, der Diskussionen um Arno Schmidt, die durchaus kontrovers waren, und schließlich auch zweier Fahrten Eulers nach Bargfeld, um den »Meister« persönlich kennenzulernen; auf der zweiten hatte ihn der Ich-Erzähler begleitet. Und auf dieser Fahrt geschieht dann das Unerhörte: Durch einen Trick – der hier natürlich nicht verraten wird – gelingt es Euler diesmal (beim ersten Besuch hatte sich Schmidt nicht sehen lassen) tatsächlich, den »Meister« neugierig zu machen und an den Zaun zu locken. Als das Gespräch erst einmal eröffnet ist, darf Euler auch eintreten und bekommt sogar die mitgebrachten Exemplare von »Kühe in Halbtrauer« signiert. Allerdings erhält er auch verbindlichst Auskunft über die Texte, die er Schmidt vorab zugeschickt hatte, was seine Stimmung gründlich ruiniert. Diese Begegnung findet übrigens Anfang August 1965 statt, also kurz bevor Schmidt in die Niederschrift von »Zettel’s Traum« abtaucht.

Doch ist Schmidt nicht nur in den Erinnerungen der beiden alten Freunde präsent: Der Text ist durchwirkt mit zahlreichen Schmidt-Zitaten und -Anspielungen. Auch ist es sicherlich kein Zufall, dass gerade der Band »Kühe in Halbtrauer« als zentrales Paradigma Schmidtschen Schreibens benutzt wird, denn nicht nur die Erzählung »‹Piporakemes!›«, die Timm explizit heraushebt, stand bei der Entstehung der Novelle Pate, sondern sie ist als Erzählung über zwei sich erinnernde Alte auch eine Variation auf »Kühe in Halbtrauer« selbst. Und auch in den hier und da eingeschobenen Kleinsterzählungen und Anekdoten blitzt Schmidtsche Erzählkunst auf. Alles in allem eine höchst produktive, zugleich lakonische und intelligente Auseinandersetzung mit Arno Schmidt und seinem Erzählen, die jeglichen Versuch der Imitation oder Anbiederung vermeidet. Dass der Text bei all seiner Kunstfertigkeit auch für diejenigen attraktiv geblieben ist, die Schmidt nicht oder nur oberflächlich kennen, beweisen die zahlreichen positiven Besprechungen in den Feuilletons. Als Schmidt-Kenner und -Leser wünschte man sich, mehr solch gelungene Aneignungen zu Gesicht zu bekommen.

Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. Leinen, 136 Seiten. 16,95 €.

(geschrieben für den Bargfelder Boten, Lfg. 343–344.)

Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa

978-3-446-23107-8Kurze biografische Erzählung, deren Inhalt der Titel bereits umreißt. Die Erzählung beginnt mit der Fahrt Pessoas ins Krankenhaus am Abend des 28. November 1935 und endet mit seinem Tod aufgrund einer Leberzirrhose am 30. In dieser Zeit wird er von den wichtigsten seiner Heteronyme besucht: Álvaro de Campos, Alberto Caeiro, Bernardo Soares, Ricardo Reis und António Mora kommen einer nach dem anderen, um sich von ihrem Autor zu verabschieden. Dabei erlaubt sich Tabucchi besonders bei Ricardo Reis massive Eingriffe in dessen Biografie: Er sei gar nicht, wie Pessoa bestimmt hat, nach Brasilien ausgewandert, sondern sei aufs Land gezogen und habe sein Leben als Provinzarzt verbracht. Warum Tabucchi versucht, Reis als Angeber hinzustellen, wird aus der Erzählung heraus nicht klar; ich bezweifle auch sehr, dass er erhebliche Gründe dafür hat.

Wie in vielen Fällen von biografischen Fiktionen überzeugt auch diese am Ende nicht. Das beginnt mit der immer problematisch bleibenden Notwendigkeit, die Voraussetzungen der geschilderten Situation in den personal gehaltenen Text einzuflechten, was dazu führt, dass man den Protagonisten lauter Sachen denken und sagen lässt, die normalerweise in seinem Kopf nichts zu suchen hätten. Und das endet nicht bei der Frage, für wen – außer dem Autor – eine solche Erzählung eigentlich gedacht sein soll: Der uniformierte Leser versteht den Witz nicht, der informierte zuckt mit den Schultern und vergisst es gleich wieder.

Antonio Tabucchi: Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1998. Broschur, 67 Seiten. 9,90 €.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa?

978-3-446-20963-3Kleine, aber höchst nützliche Aufsatzsammlung zu Fernando Pessoa, die auch zum Einstieg in die Auseinandersetzung mit diesem Autor sehr geeignet ist. Die meist kurzen Aufsätze sind thematisch vom Allgemeinen zum Besonderen hin sortiert: Es beginnt mit einer recht ausführlichen Darstellung von Pessoas Leben und Werk, gefolgt von einer Übersicht über die Heteronyme und ihre Werkanteile, Porträts einiger der Dichterpersönlichkeiten,  die Pessoa in sich erzeugt hat, und geht schließlich zu spezielleren Fragen über. Und obwohl Tabucchi Literaturwissenschaftler ist, sind diese Aufsätze frei von Jargon und theoretischem Gehabe. Ergänzt wird das Büchlein durch eine kleine Auswahl von Texten Pessoas, auf die in den Aufsätze Tabucchis Bezug genommen wurde.

Alles in allem ein musterhaftes kleines Büchlein, das einen schnellen und kompetenten Zugang zum Werk dieses anspruchsvollen, portugiesischen Schriftstellers eröffnet.

Antonio Tabucchi: Wer war Fernando Pessoa? Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Edition Akzente. München: Hanser, 1992. Broschur, 156 Seiten. 14,90 €.

Janne Teller: Nichts

978-3-446-23596-0Bereits im Jahr 2000 in Dänemark erschienen, ist das Buch im skandinavischen Raum angeblich kontrovers diskutiert worden und nun auch auf Deutsch erschienen. Erzählt wird die Geschichte einer 7. Schulklasse im kleinen Ort Tæring, in der der Schüler Pierre Anthon zur Entdeckung der Konsequenzen des Nihilismus vordringt: »Nichts bedeutet irgendwas, das weiß ich seit Langem. Deshalb lohnt es sich auch nicht, irgendetwas zu tun.« Wie die meisten nihilistischen Schwätzer geht Pierre Anthon nun aber nicht zum Nichtstun über, sondern wird zum Propheten des Nihilismus, der seinen Mitschülern auf die Nerven geht.

Da seine Mitschüler philosophisch ebenso unbelehrt sind wie der Prophet (und wahrscheinlich auch die Autorin), entwickeln sie ein Projekt zu seiner Widerlegung: In einem aufgegebenen Sägewerk tragen sie einen Haufen von Gegenständen zusammen, die Bedeutung haben. Damit niemand schummelt, legt jeder Schüler jeweils für einen anderen fest, was für denjenigen von Bedeutung ist und was er hergeben muss. Zu Anfang sind die Opfer am Altar der Bedeutung harmlos, aber mit der Zeit übertrumpfen sich die Vorschläge: Die Unschuld von Sophie, der Sarg mit dem toten Bruder von Elise, ein abgeschnittener Hundekopf und zum Schluss der abgeschnittene Zeigefinger Jan-Johans, des Gitarrenspielers der Klasse.

Nach diesem letzten Opfer fliegt das Projekt der Schüler auf. Nun muss der Leser eine wahrscheinlich satirisch gemeinte Darstellung der modernen Medienlandschaft durchlaufen. Nachdem die Autorin auch das abgekaspert hat, kommt es zum Showdown: Der Prophet Pierre Anthon wird mit dem – inzwischen vom New Yorker MOMA als Kunstwerk angekauften – »Berg der Bedeutung« konfrontiert, aber da er (und wahrscheinlich die Autorin) kein ganz so großer Schwachkopf ist wie seine Mitschüler, macht er sich über deren hilflosen Versuch, Bedeutung anzuhäufen, zu Recht lustig. Er wird daraufhin von seinen Mitschülern ebenso zu Recht erschlagen und Leiche und Berg der Bedeutung anschließend verbrannt. Um ihren Kult um die Bedeutung abzuschließen, sammeln die Schüler schließlich die Asche ihrer Jugend ein und jeder kriegt ’ne Flasche.

Der Text funktioniert überhaupt nur, da er im pseudonaiven Ton einer der Mitschülerinnen erzählt ist. Jeder Hauch nur einer ernsthaft erwachsenen Perspektive würde den ganzen Unfug des Buches augenblicklich zusammenbrechen lassen. Es ist kein Wunder, dass ein solches Buch in einem Land, das Peter Sloterdijk für einen Philosophen hält, auf den Bestsellerlisten landet.

Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. München: Hanser, 2010. Broschiert, 140 Seiten. 12,90 €.

Kennen Sie Ibsen? – Nein, wie jeht das?

Ich nahm mir vor, Jesse die Geschichte von Tschechow zu erzählen, der, als er in einem Moskauer Theater Ibsens Stück Nora sah, seinem Freund zuflüsterte: »Aber hör mal, Ibsen ist kein Dramatiker … Ibsen hat keine Ahnung vom Leben. Im Leben geht es völlig anders zu.«

David Gilmour
Unser allerbestes Jahr

Ilija Trojanow / Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit

978-3-446-23418-5Breit angelegter Essay über den Rückgang bürgerlicher Freiheit seit dem 11. September 2001. Der Darstellung ist in allen wesentlichen Punkten nur zuzustimmen. Wie so oft haben es die konservativen Kräfte in den westlichen Gesellschaften verstanden, eine äußere – um nicht zu schreiben »äußerliche« – Bedrohung dazu zu benutzen, den Zugriff der abstrakten und konkreten Gewalt des Staates auf seine Subjekte auszubauen. Einerseits muss man den Autoren für den gut lesbaren Überblick über die Veränderungen des letzten knappen Jahrzehnts dankbar sein, andererseits zeigen die Veröffentlichung und der Erfolg des Buches, dass es noch viel schlimmer ist, als sie annehmen. Die Durchdringung unserer Gesellschaft durch die Kontrollorgane ist soweit gediehen, dass auch eine offene Kritik an diesem Zustand ihn nicht mehr gefährden kann. Einmal mehr ist eine Gesellschaftsordnung an einem Punkt angelangt, an dem sich politische Freiheit und Unfreiheit auch mit bewaffnetem Auge kaum mehr voneinander unterscheiden lassen.

Ilija Trojanow / Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau der bürgerlichen Rechte. München: Hanser, 22009. Broschiert, 173 Seiten. 14,90 €.

Elisabeth von Thurn und Taxis: fromm!

Lieber Gott, mach mich fromm,
dass ich in den Himmel komm!

978-3-939684-61-9Ich habe mich lange damit getragen, wie ich dieses Buch besprechen soll. Da gäbe es zum einen die Möglichkeit, sich über die Werbung des Verlages zu amüsieren, der sich nicht entblödet, seine Autorin als Prinzessin Elisabeth von Thurn und Taxis zu präsentieren, um dann folgen zu lassen:

Dieses Buch zeigt: Katholisch ist das Gegenteil von spießig. Katholisch ist chic, katholisch ist cool.

Aber man soll eine Autorin nicht die Dummheiten des Vertriebs büßen lassen.

Zum anderen könnte man sich über den naiven Aberglauben der Autorin lustig machen:

Neulich reservierte ich in einem recht teuren Kurhotel ein Doppelzimmer. […] Leider buchte ich die Zimmer zwar für die richtigen Tage, aber im falschen Monat. Als ich dann durch eine E-Mail auf die Stornierungsfrist hingewiesen wurde, drehte sich fast mein Magen um. Der volle Betrag sollte bezahlt werden! […]

Schnell schickte ich dem Hotel eine herzzerreißende Entschuldigungs-E-Mail hinterher. Ich erhoffte mir davon allerdings nicht sehr viel, immerhin hatte ich schon eine klare Ansage bekommen: Zahlen! Da fiel mir plötzlich mein treuer Freund und Helfer, der heilige Antonius, wieder ein. Ich betete also ein kurzes Stoßgebet. Ich machte ihm ein Angebot, dass er, so hoffte ich, nicht ablehnen konnte. Überwältigt war ich, als ich in meinem Posteingang eine neue E-Mail des Hotels vorfand. Meine Stornierungsgebühr war tatsächlich storniert worden!

Gott sei Dank muss ich dieses Phänomen nicht begreifen.

Aber dies hieße nur, dem Zynismus beitreten, der der Veröffentlichung dieses Buches offenbar zugrunde liegt.

Dann wieder könnte man die zahllosen Blüten eines Abitur-Aufsatz-Stils auflesen:

  • Wie auch das Frühstücksei ist die Beichte eigentlich ein Genuss, den man ruhig öfter mal konsumieren darf.
  • Kaum aber berührt nach unendlicher Enthaltsamkeit eine Laugenbrezel wieder den Gaumen, macht sich auch gleich der gegen den Hosenbund drückende Bauch wieder bemerkbar! Alles für die Katz!
  • Ich schaffe in mir Platz für den Willen Gottes, in dem [sic!] ich meinen eigenen Willen in den frisch gemahlenen Kaffeebohnen vergrabe.
  • Auch die Buddhisten beschäftigen sich viel mit Meditation.
  • Das Hinknien fiel langsam aber sicher unter den Tisch.
  • Das Erwachsenwerden hat vielerlei Vor- und Nachteile.

Aber es erschiene mir letztlich doch zu billig, eine Autorin, die in gutem Glauben einer Veröffentlichung dieser Texte zugestimmt hat, auf diese Weise vorzuführen.

Schließlich könnte man noch der Geschwätzigkeit des Buches das notwendige Schweigen wahrer Frömmigkeit gegenüberstellen, aber damit würde man nur mit theologischen Kanonen auf betende Spatzen schießen.

Ich habe mich daher entschlossen, das Buch lieber gar nicht zu besprechen. Tut mir leid!

Elisabeth von Thurn und Taxis: fromm! Kißlegg: fe-medienverlags GmbH, 2009. Pappband, 192 Seiten. 9,95 €.

(geschrieben für Literaturwelt.de)

Horst Tappe: Nabokov

3-85616-152-XNetter, kleiner Bildband mit 24 Schwarz-Weiß-Fotos Vladimir Nabokovs aus den Jahren 1962 bis 1973, jeweils garniert mit einem Nabokov-Zitat in Englisch, Deutsch und Französisch. Sowohl der Schriftsteller als auch der Lepidopterologe werden ins Bild gesetzt; auch zwei Bilder mit Ehefrau Vera finden sich. Unter den Fotos sind einige klassische Nabokov-Ikonen, so etwa die Silhouette des Schreibenden vor dem Fester im Montreux Palace.

Horst Tappe: Nabokov. Hg. v. Tilo Richter. Basel: Christoph Merian Verlag, 2001. 64 Seiten. Derzeit nicht im Druck.

Philipp Theisohn: Plagiat

978-3-520-35101-2 Eine Geschichte des Plagiats, nicht der Plagiate. Natürlich werden auch klassische und moderne Fälle von Plagiaten behandelt, doch das Buch stellt im Wesentlichen die Entwicklung des Begriffs und der Funktion des Plagiats von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart dar. Die Darstellung scheint für alle Epochen souverän und auf der Höhe des Gegenstandes zu sein. Dabei erscheint als Gegenstand nicht ein objektiver Tatbestand, der als Plagiat zu identifizieren wäre, sondern das Plagiat erweist sich seit den Anfängen der schriftlichen Literatur im Kern als Plagiatserzählung, also die Behauptung und Darstellung des Plagiats entweder durch den, der sich bestohlen glaubt, oder durch den, der meint, einen Dieb gestellt zu haben. Der Plagiatserzählung steht einerseits die Einsicht entgegen, dass es sich bei Literatur erfahrungsgemäß nahezu immer um Plagiate handelt und dass andererseits Plagiatserzählungen nur in den wenigsten Fällen ein objektiver Tatbestand entspricht, der diese Erfahrung überschreitet. So erscheint die Plagiatserzählung in vielen Fällen als nichts anderes denn die Ausstellung der unvermeidlichen Partizipation eines Werks am Bestand der Literatur.

Diese Spannung zwischen dem individuellen Werk und der Referenz des literarischen Horizonts wird in unterschiedlichen Epochen auf sehr verschiedene Weise genutzt bzw. scheinbar aufgelöst. Die historische Entwicklung dieser Lösungen ist es, was Theisohns Literaturgeschichte darstellt. Theisohn ist dabei, wenigstens soweit ich es beurteilen kann, immer auf der Höhe der verhandelten Epoche und ihm gelingen – im Gegensatz zur Behauptung des Untertitels des Buchs – an vielen Stellen durchaus originelle und anregende Einzelinterpretationen. Auch seine Paraphrasen poetologischer und theoretischer Konzepte sind klar, ohne im Anspruch nachzugeben. Eine anspruchsvolle und anregende Lektüre, für die eine grundlegende Kenntnis der Tradition der westlichen Literatur eine hilfreiche Voraussetzung ist.

Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart: Kröner, 2009. Leinen, 577 Seiten. 26,90 €.

Allen Lesern ins Stammbuch (26)

Frau Steiner war aus Frankfurt am Main, nicht mehr so furchtbar jung, ganz allein und schwarzhaarig; sie trug Abend für Abend ein andres Kleid und saß still an ihrem Tisch und las feingebildete Bücher. Ich will sie ganz kurz beschreiben: sie gehörte zum Publikum Stefan Zweigs. Alles gesagt? Alles gesagt.

Kurt Tucholsky
Der schiefe Hut