Ein Wort zu Dieter H. Stündel

Im SPIEGEL Nr. 6/5.2.07 hat auf S. 178 Elke Schmitter noch einmal Dieter H. Stündel und seiner »ÜbelSätzZung« von Joyces »Finnegans Wake« gedacht. Das Warum ist dem Artikel nicht zu entnehmen. Allerdings bietet dies einen schönen Anlass, einmal folgenden kurzen Wortwechsel zwischen zwei der besten Joyce-Kenner Europas zu dokumentieren:

F. S.: Du, ich habe mir nochmal die Übersetzung von diesem Stündel angeschaut. Der kann ja gar kein Englisch.

F. R.: Das macht nichts; Deutsch kann er ja auch nicht.

»Die heißlaufende Info- und Entertainment-Gesellschaft«

spiegel-bestNun hat es auch den SPIEGEL erwischt: Nachdem SZ, BILD, Brigitte, Stern und Zeit alle ihre Buch- oder DVD-Editionen gestartet haben, will auch Deutschlands bedeutendstes Nachrichtenmagazin endlich nicht mehr länger hintanstehen und veröffentlicht seine eigene Buchreihe: »SPIEGEL-Edition – Die Bestseller«. Grundlage für die Auswahl der 40 Titel, bunt gemischt aus Belletristik und Sachbuch, waren die SPIEGEL-Bestsellerlisten. Das alles wäre nur einen kurzen Hinweis wert, aber Volker Hage, Matthias Matussek und Mathias Schreiber haben sich zusammengetan und eine Ankündigung für die Reihe geschrieben, die es in sich hat!

Denn unter dem Titel »Proviant für die Zukunft« wollen sie uns nicht nur den zusammengelaufenen Bücherhaufen als »Kanon« von Büchern, von denen »man sich nicht mehr trennen möchte«, verkaufen, sondern man serviert uns als Dreingabe auch gleich noch eine komplett neue Bestseller-Theorie:

Das skandalös gute Gewissen der SPIEGEL-Redakteure bei ihrer Bestseller-Auswahl setzt einen Gesinnungs- und Stimmungswandel in dieser Sache voraus, der viele Komponenten hat. Der asketische Kultur-Utopist mit sperriger Ware ist nicht mehr unbedingt als Alleinvertreter der Wahrheit geadelt. Wahrheit findet sich auch in dem, was amüsiert, was gemocht wird, was die Lebensstile, Gedankenflüge und Träume der vielen beflügelt.

Zunehmend dürfen auch in den Feuilletons Bestseller von John Updike, Thomas Brussig, Salman Rushdie oder Zeruya Shalev die Grundüberzeugung des Bestsellerautors Marcel Reich-Ranicki („Mein Leben“) bestätigen, dass formal ehrgeizige, intelligente Literatur sehr wohl unterhaltsam sein kann.

Was die SPIEGEL-Edition aus fast einem halben Jahrhundert Bestselleritis herausgefiltert hat, kann sich gerade unter diesem Gesichtspunkt sehen lassen: Der Buchmarkt, so zeigt sich, gab reihenweise Titeln die Ehre, die tief ins Zeitgeschehen griffen, in die Abgründe der Geschichte und der Gefühle. Das gilt für Joachim Fests geistesgeschichtlich anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Monstrum Hitler ebenso wie für Barbara Tuchmans farbig erzählte Exkursion ins 14. Jahrhundert, für Christoph Ransmayrs verrückt genaue Suche nach dem Dichter Ovid oder Peter Handkes Liebesleidensreise im „Kurzen Brief zum langen Abschied“.

Versuchen wir das doch gerade mal in eine Relation zu setzen, damit wir begreifen, was da steht: Dass die SPIEGEL-Kulturredakteure es geschafft haben, aus mehreren Tausend Titeln, die seit 45 Jahren auf den Bestsellerlisten des SPIEGEL aufgetaucht sind, »reihenweise« 40 einigermaßen ordentliche Bücher auszuwählen, soll ein Beleg dafür sein, dass »der Bestseller« besser ist als sein Ruf. Was für eine tiefgründige Argumentation! Da wundert’s nicht, wenn’s gleich zuvor heißt, wir lebten »in einer sich beschleunigenden, ja heißlaufenden Info- und Entertainment-Gesellschaft« – diese Vermischung von redaktionellem Gefasel und Werbung in eigener Sache ist ein handfester Beleg dafür.

Ansonsten ist die Reihe recht nett geraten und – wie fast alle diese Reihen – so nötig wie ein Kropf, da alle Titel auch leicht und preiswert in anderen Ausgaben erhältlich sind. Einige wenige Überraschungen haben mich gefreut: Milan Kunderas »Der Scherz« zum Beispiel, das wahrscheinlich seine komplette spätere Produktion überragt, oder Michail Bulgakows »Der Meister und Margarita«, das für einen ehemaligen Bestseller heute schon wieder merkwürdig unbekannt ist. Ansonsten finden sich wie gewohnt viele Titel, die zahlreich gekauft und selten gelesen wurden – wie das bei Bestsellern eben so ist. Es soll allerdings vereinzelte Leser geben haben, die Christoph Ransmayrs »Die letzte Welt« mit Genuss und bis zum Ende gelesen haben; die mindestens 30.000, die es für einen Bestseller braucht, waren das aber nie und nimmer.

Du kaufst jetzt Günter Grass, …

Wieder einmal große Aufregung im Vorfeld einer Grass-Ver­öf­fent­li­chung! Diesmal durch sein um 60 Jahre verzögertes Geständnis, er sei in der Waffen-SS gewesen. Helle Aufregung bei all denen, die sich professionell aufregen, Experten werden befragt, wie diese Nachricht denn nun einzuschätzen sei, ob Grass als moralische Instanz beschädigt würde, ob seine Bücher nun nichts mehr wert sind oder was sonst noch Schreckliches geschehen könnte. Von Marcel Reich-Ranicki habe ich bislang noch nichts gelesen, aber da kommt sicherlich auch noch was. Ich dagegen frage mich, was sich denn eigentlich geändert hat?

Dass Grass als Jugendlicher bis zur Kapitulation an den Endsieg geglaubt hat, konnte, wer wollte, problemlos nachlesen. Dass Grass als junger Mensch im Krieg aktiv war, ebenso. Dass er zu den Verblendeten und Verführten gehört hat – wie viele andere auch – war ebenso bekannt. Nun wissen wir, dass er eine andere Uniform getragen hat, als bislang angenommen wurde – so what? Grass hat keine Kriegsverbrechen begangen, nicht einmal in einer Einheit gedient, der Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden.

Sein Biograph Michael Jürgs aber erklärt in einem Gespräch im Deutschlandradio die »moralische Instanz Grass« für »eigentlich erledigt«, weil – wie er Kempowski nachsprach – das Bekenntnis »ein wenig spät« gekommen sei. Selbst die Gutwilligen halten Grass die zahlreichen Gelegenheiten vor, bei denen er sich hätte offenbaren können, »ohne dass man ihm einen Vorwurf daraus gemacht hätte«. Man hätte wahrscheinlich nur so reagiert wie jetzt – da versteht man gleich, warum er so lange zu schweigen versucht hat.

Nehmen wir die Aufregung mal für einen kurzen Moment lang ernst, selbst wenn wir wissen, dass es nur Mediengeschrei ist: Grass ist über viele Jahre hinweg zu einer Medien-Ikone aufgebaut worden. Auf der Liste der zehn Top-Denker Deutschlands der Zeitschrift »Cicero«, einem weithin unbekannten intellektuellen Fachblatt, steht Grass auf Position 1. Er hat dort Harald Schmidt um Haaresbreite geschlagen. So sieht das mit den »Denkern« in Deutschland nämlich aus. Anders gesagt: Grass war immer schon eitel genug, um zu jeder Sache eine Meinung zu haben, von der er wusste, dass sie einer ausreichend großen und medienmächtigen Minderheit in den Kram passen würde. Der Minderheit war Grassens Votum immer recht, und spätestens nachdem er den Literatur-Nobelpreis erhalten hatte, war kein Halten mehr.

Dabei waren Grassens Meinungen immer schon windig. Er neigte dazu, zu komplizierten Sachverhalten einfache Ansichten zu pflegen, weniger mit differenzierten Analysen zu glänzen als vielmehr mit einer aufrechten, moralisierenden Pose, sich mehr auf seine Stimm- als auf seine Denkkraft zu verlassen. Als Schriftsteller hat er Unmengen von unliterarischem und unlesbarem Schamott geliefert – ich erinnere mich mit Grausen an »Die Rättin« und »Der Butt«; »Das weite Feld« war wenigstens in der ersten Häfte einigermaßen erträglich –, und einige wenige denken auch heute noch, dass es das bestgehütete Geheimnis von Günter Grass ist, dass er gar keine Romane schreiben kann. Schon 1981 hat Friedrich Dürrenmatt in einem Interview die schöne Äußerung getan:

Günter Grass hat mir sehr höflich den Butt versprochen, aber er hat ihn dann nie geschickt, also brauchte ich ihn auch nicht zu lesen. Der Grass ist mir einfach zu wenig intelligent, um so dicke Bücher zu schreiben.

Das hat mir schon damals aus der Seele gesprochen. Dies »späte Bekenntnis« ist eine gute Gelegenheit, Grass als das zu durchschauen, was er seit vielen Jahrzehnten ist: Die erfolgreiche Marketingstrategie einer Interessengruppe. Dass er selbst das bislang nicht begriffen zu haben scheint, macht ihn so erfolgreich. – »Nachbarin! Euer Fläschchen!«

Der 100.000-Euro-Fall

Maxim Billers Buch »Esra« wurde im Frühjahr 2003 aus dem Vertrieb genommen, weil zwei Frauen gegen das Buch eine einstweilige Verfügung erwirkt hatten. Sie glaubten, sich in Figuren des Buches wiederzuerkennen und sahen ihre Persönlichkeitsrechte angegriffen. Im Juni 2005 kam der sich daraus entwickelnde Prozess zu seinem Ende, als der Bundesgerichtshof die weitere Verbreitung des Buches verbot. Diese Urteil ist nun Grundlage für eine Schadensersatzklage der selben beiden Frauen gegen Autor und Verlag; es geht um 100.000 Euro.

Der Bundesgerichtshof hatte sein Urteil damit begründet, dass Billers Buch nicht Typen zeichne, sondern Porträts liefere. In einem solchen Fall müsse die durch die Verfassung garantierte Freiheit der Kunst (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ) vor den ebenfalls verfassungsrechtlich geschützen allgemeinen Persönlichkeitsrechten (Art. 2 Abs 1 GG) der Klägerinnen zurücktreten. Damit wurde festgestellt, dass Billers Buch die Persönlichkeitsrechte der Klägerinnen verletzt hatte.

Auf der Grundlage dieser Feststellung fordern die beiden Klägerinnen jetzt Schadensersatz für den erlittenen Schaden. Ob durch die Verletzung der Persönlichkeitsrechte überhaupt ein erheblicher Schaden eingetreten ist, steht keineswegs bereits fest, sondern muss sich im nun anstehenden Prozess erweisen. Auch ob sich die Klägerinnen mit ihrer Vorstellung über die Höhe der Entschädigung durchsetzen können, ist gänzlich unklar. Deutsche Gerichte neigen eher nicht dazu, hohen Schadensersatzforderungen nachzukommen.

Das ganze sorgt für nicht unerhebliche Aufregung unter deutschen Schriftstellern, die einen Grundbestand ihres Berufsstandes – die Verarbeitung von Wirklichkeitsdetails in fiktionalen Texten – gefährdet sehen. So haben sich mehr als Hundert bekannte Autoren und Publizisten in einer Unterschriftenliste mit Biller solidarisch erklärt. Sie bestreiten, dass durch ein verbotenes Buch ein Schaden habe entstehen können, was ein hinfälliges Argument ist, da die Klägerinnen mit Sicherheit nicht den Schaden einklagen, der nach dem Vertriebsstop durch das Buch entstanden ist, sondern zum einen denjenigen, den die bis dahin bereits verkauften Bücher verursacht haben, und zum anderen denjenigen, der ihnen durch den anschließend zu führenden Prozess entstanden ist.

Interessant ist der Aufschrei Daniel Kehlmanns (dem auch mal jemand sagen sollte, dass der Roman von Thomas Mann nicht »Die Buddenbrooks« heißt) in der F.A.Z., der unter dem Titel Ein Autor wird vernichtet gleich den Untergang der Kunstfreiheit zumindest in der deutschen Literatur befürchtet. Er rät – freilich für den in Frage stehenden Fall ein wenig spät – allen Menschen, sich von Schriftstellern fernzuhalten, um nicht in deren Büchern vorzukommen – ein Verfahren, das, wenn es denn konsequent befolgt würde, die Literatur ebenso erledigte, da dann die Schriftsteller ja nichts mehr hätten, worüber sie schreiben könnten.

In der allgemeinen Aufregung scheint mir der Einzelfall eindeutig zu hoch gehängt. Nichts spricht gegen die Solidarität der Kollegen mit Maxim Biller, aber ebenso wenig spricht gegen den Versuch der Klägerinnen, ein rechtskräftiges Urteil, das ihnen die Verletzung ihrer Rechte bescheinigt, dazu zu benutzen, dafür eine Kompensation zu erlangen. Die jetzige Klage auf Schadensersatz ist nur die ganz normale juristische Konsequenz, die sich aus dem ersten Urteil ergibt. Und ich wüßte gerne mehr: Hat es Versuche der Klägerinnen gegeben, sich mit dem Verlag im Vorfeld der neuen Klage gütlich zu einigen? Hat der Verlag von sich aus eine entsprechende Kompensation angeboten (was meiner unmaßgeblichen Meinung nach selbstverständlich gewesen wäre)? Wenn ja, in welcher Höhe?

Die Freiheit der Kunst sehe ich jedenfalls nicht gefährdet, und sie ist auch durch das erste Urteil im Fall Biller nicht eingeschränkt worden. Schon immer war es eine bedenkliche Frage, wann Kunst die Persönlichkeitsrechte anderer Personen verletzt. Wieviel Wirklichkeit muss und darf in einem Roman vorkommen. Diese Grenzen haben immer schon bestanden, sie verändern sich in und mit den Zeiten, aber es gab sie immer und wird sie immer geben. Im Fall »Esra« wurden sie nach Auffassung des Bundesgerichtshofs überschritten; ab dem 9. August wird darüber verhandelt werden, welche Folgen das haben wird. Auch dieser Prozess kann sich lange durch die Instanzen ziehen. Am Ende wird ein Urteil stehen, dass wahrscheinlich einmal mehr niemand für gerecht halten wird.