Arno Schmidt – Ein Portrait

Als Arno Schmidt 1973 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt verliehen bekam, hieß es in seiner Dankadresse, die er – seltsam genug – nicht selbst vortrug, sondern die seine Frau Alice verlas, nachdem sie stellvertretend den Preis in Empfang genommen hatte, in dieser Dankadresse also hieß es über seine Anfänge als Autor:

Dagegen stand über unserem Start – ja, über der ganzen Laufbahn – ein böses ‹Zu spät !›. Wir hatte ja nicht einmal SchreiPapier in jenen Jahren, dicht nach ’45; mein ‹Leviathan› ist auf TelegramFormulare notiert, von denen mir ein englischer Captain einen halben Block geschenkt hatte. Es ist ein wunderlich Manuskript; und die heutigen jung=Unverstandnen, bei denen angeblich ‹die Gesellschaft versagt›, dürften sich getrost daraus entnehmen, was wirkliche Sorgen sind, und was übermütige Wehwehchen. Hinzukam die unwahrscheinliche Energieleistung, mit 35 noch einmal neu anzufangen; und die fehlenden Jahre, um die man uns betrogen hatte, möglichst wieder einzubringen. [BA III/4, 463]1

Dieser kurze Ausschnitt enthält bei näherer Betrachtung eine erstaunliche Mischung aus biographischem Detail, Ressentiment, Arbeitsethos, Verbitterung über die verlorene Zeit und den Stolz, vor diesen Umständen nicht kapituliert zu haben. Mir erscheint dieser Abschnitt in seiner Komplexität typisch für Arno Schmidt: Natürlich bestanden die „wirklichen Sorgen“ der ersten Nachkriegsjahre nicht darin, daß man seine Romane auf englischen Telegrammformularen schreiben mußte, auch nicht für Arno Schmidt und seine Frau. Und natürlich sind die „jung=Unverstandnen“ der heutigen Zeit nur ein Klischee, dessen Ausfüllung der Autor wohl kaum aus eigener Erfahrung hätte leisten können. Sicher war es eine ungeheure Anforderung, mit 31 – nicht mit 35 – vor dem Nichts zu stehen und noch einmal neu anzufangen, aber niemand hat den kaufmännischen Angestellten Arno Schmidt dazu aufgefordert, seinen Neuanfang als freier Schriftsteller zu versuchen. Und am wenigsten hätte wohl einer der ihn kannte oder gar einer der später Geborenen von ihm verlangen können und wollen, „die fehlenden Jahre […] wieder einzubringen“. Und doch ist der ganze Absatz von einer Eloquenz und – entgegen allen Einwänden im Detail – von einer Richtigkeit, daß einem fast nichts anderes zu sagen bleibt als: Jawohl, so muß es gewesen sein!

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Doch beginnen wir mit dem wirklichen Anfang im Leben Arno Schmidts: Geboren wurde er am 18. Januar 1914 in Hamburg. Die Eltern stammen beide aus Schlesien, der Vater ist gelernter Glasschleifer und wird dann Berufssoldat und später in Hamburg Polizei-Oberwachtmeister. Schmidt hat eine knapp drei Jahre ältere Schwester, Luzie. Bereits als kleiner Junge ist er extrem kurzsichtig, was allerdings erst beim Besuch der Volksschule bemerkt und ausgeglichen wird. Schmidt ist nach seinen eigenen Berichten ein gelangweilter Schüler; lesen hatte schon als Drei- oder Vierjähriger zusammen mit seiner Schwester gelernt, und er verbringt bereits früh einen großen Teil seiner Zeit mit Lektüre.

Im November 1928 stirbt der ungeliebte Vater, und die Mutter zieht mit den beiden Kindern nach Lauban zu ihrer Familie. Ab Dezember besucht Arno Schmidt dann die Oberrealschule in Görlitz, wo er am 10. März 1933 sein Abiturzeugnis erhält. Schmidt besucht anschließend bis zum September die Höhere Handelsschule in Görlitz und ist danach bis Ende Januar 1934 arbeitslos. Am 27. Januar 1934 wird Schmidt kaufmännischer Lehrling bei den Greiff-Werken in Greiffenberg und dort auch nach Abschluß der Lehre am 1. Februar 1937 als Graphischer Lagerbuchhalter eingestellt. Er heiratet am 25. August 1937 seine Kollegin Alice Murawski. Ein Jahr nach der Hochzeit unternimmt das Ehepaar die einzige längere Reise, von der wir wissen. Und wir wissen wenig genug von dieser einwöchigen Fahrt nach London: Man besucht die Grabstätte von Charles Dickens in der Westminster Abbey, durchstöbert Antiquariate, besichtigt Museen, sieht die Stadt an. Im Mai 1939 reist das Ehepaar nach Weimar und das nahegelegene Oßmannstedt, wo man Wielands Grab aufsucht; sonst wissen wir über diese Jahre fast nichts. Schmidts Arbeitskollegen schildern ihn als einen verschlossenen, eher merkwürdigen Mann. Das Ehepaar hat wenig Bekannte, man bleibt für sich, richtet sich in einer Welt von Büchern ein.

Am 10. April 1940 wird Schmidt zur leichten Artillerie einberufen. Er landet nach verschiedenen Zwischenstationen auf einem Schreibstubenposten in Norwegen. Anfang 1945 meldet er sich zum Fronteinsatz, um in dem ihm somit zustehenden Fronturlaub seiner Frau bei den Vorbereitungen zur Flucht aus Schlesien nach Quedlinburg im Harz helfen zu können. Am 21. Februar meldet er sich in Ratzeburg zurück, anschließend erfolgt Fronteinsatz im Oldenburgischen, bis er am 16. April in britische Kriegsgefangenschaft gerät. Am 29. Dezember 1945 wird Arno Schmidt aus der Gefangenschaft entlassen und kommt mit seiner Frau nach Cordingen, Kreis Fallingbostel in der Lüneburger Heide.

Man wird in verschiedenen älteren Darstellungen einen etwas anderen Lebenslauf Arno Schmidts bis 1945 finden. Zwei Abweichungen sind es im wesentlichen: Sein Geburtsdatum und ein vorgebliches Studium der Mathematik und Astronomie, das er angeblich abbrechen mußte, weil seine Schwester einen Juden geheiratet hatte. Dieser letzte Punkt ist richtig: Luzie Schmidt heiratete den jüdischen Kaufmann Rudi Kiesler und floh mit ihm zusammen 1939 nach New York; ihre Care-Pakete bewahren die Schmidts nach 1945 vor der schlimmsten Not. Aber das Studium in Breslau, das er nach dem Abitur aufgenommen haben will, ist ein Erfindung. Einer der Gründe für diese Erfindung liegt wohl darin, daß Arno Schmidt in der Gefangenschaft sein Geburtsjahr mit 1910 angegeben hatte, und er daher eine biographische Lücke von vier Jahren schließen mußte.

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Nachdem sich das Ehepaar Schmidt im Mühlenhof in Cordingen notdürftig eingerichtet hat, arbeitet es für ein paar Monate als Dolmetscher an der Hilfspolizeischule Benefeld. Anfang 1947 entschließt sich Arno Schmidt dann, freier Schriftsteller zu werden. Wir wissen, daß Schmidt spätestens seit seiner Zeit als Abiturient geschrieben hat, zuerst Lyrik, die nur im Gedächtnisprotokoll seines Schulfreundes Heinz Jerowsky erhalten ist, dann auch ein Versepos Sataspes, das verloren ist, und spätestens seit 1937 Erzählungen. Diese frühen Erzählungen sind zum größten Teil von einem unerträglichen epigonal-romantischen Stil, in Ton und Aussage so falsch, daß man sich nur fragen kann, ob es nicht ein Glück für den jungen Autor Schmidt bedeutete, daß während der Kriegsjahre an eine Veröffentlichung nicht zu denken war.

Schmidt versucht denn auch nach dem Krieg nicht etwa, die Produktion der Kriegsjahre unterzubringen, sondern schreibt in den Jahren 1946 bis 1948 vier Erzählungen, von denen er drei Ende 1948, Anfang 1949 dem Rowohlt Verlag in Hamburg schickt. Es wird im Hause Rowohlt um den Ruhm gestritten, wer den jungen Autor entdeckt hat. Aber ob es Ernst Rowohlt selbst oder sein Lektor Marek war, die Entdeckung gestaltete sich alles andere als einfach. Ich zitiere ein Stück aus einer Biographie Ernst Rowohlts:

[Arno Schmidt] kam und zeigte sich als Athlet mit Denkerstirn, mit geballten Fäusten saß er im Besucherstuhl. Er eröffnete das Gespräch mit einer Reihe von mittelschweren Beleidigungen, die sich fünf Minuten später bis zur Unerträglichkeit steigerten. Wäre dieser schimpfwütige Schmidt nicht tatsächlich der Verfasser der Genieprosa des ‚Leviathan‘ gewesen, hätte Marek ihn aus Gründen der Selbstachtung aus dem Kontor feuern müssen. So jedoch wollte er Rowohlt entscheiden lassen, was hier zu tun sei, denn Rowohlt hatte das Manuskript gelesen. Doch Rowohlt war nicht da, und so tat Marek, was wahrscheinlich Rowohlt getan hätte, er lud Schmidt zum Essen ein. Schmidt saß auch am Tisch mit geballten Fäusten, trank einen Steinhäger nach dem anderen und wiederholte seine Injurien. Ein Genie wie er müsse in Armut leben, während die Verleger, wie man ja sähe, sich in Wohlleben wälzten. Marek berichtete Rowohlt von seinem Abenteuer. Rowohlt hörte sich alles an und sagte: »Demnächst kommt Ledig nach Hamburg. Dann laden Sie Schmidt noch mal ein, und zwar in ein besonders gutes Restaurant. Ich will doch mal sehen, wie sich Schmidt gegen Ledig verhält.« Ledig kam und Marek lud Schmidt nebst Frau in das Restaurant Jacob nach Blankenese ein. Marek war ganz verblüfft, als er erlebte, daß diesmal alles ganz anders und äußerst höflich verlief. Lag es an der Frau oder gar daran, daß diesmal ein Verleger, nicht der Lektor, der Gastgeber war? Marek brauchte nicht lange zu grübeln. Als der Nachtisch kam, ließ Schmidt einen Sturzbach von Beleidigungen auf Ledig niederbrausen. [In Schmidts Buch Abend mit Goldrand findet sich der Satz, daß die „Verleger ihre Hummersuppe aus AutorenSchädeln löffelt’n“ [BA IV/3, 94]. Ähnliches könnte an jenem Abend in Hamburg auch gefallen sein.] Der versuchte ihn abzustellen oder wenigstens zu bremsen; als es vergeblich war, wurde Ledig immer ruhiger und blasser, sagte nur manchmal »Na, na!« und hörte sich alles gefaßt an. Der Abschied war frostig. Vor der Tür von dem hübschen Restaurant Jacob bestieg Schmidt mit seiner Frau ein Doppelfahrrad, ein »Tandem«, und radelte zurück in sein Heidedorf.

Ledig und Marek erstatteten Rowohlt ihren Bericht; er hörte ihn zunächst wortlos an, doch als Marek ihn fragte: »Na, wie finden Sie es denn?« antwortete Rowohlt: »Alter Marek, Sie haben mir den bisher ganz falsch geschildert. Das ist ja menschlich ein hochinteressanter Autor. Wenn er nur gegen Sie beleidigend gewesen wäre, hätte ich ihn einfach für einen Flegel gehalten. Daß er aber auch meinen Sohn beleidigt, zeigt doch, daß er ein Charakter ist!«2

Rowohlt entschließt sich, Arno Schmidts erstes Buch zu verlegen. Es erscheint im September 1949 unter dem Titel Leviathan, enthält drei Erzählungen und ist Schmidts Schwester Luzie Kiesler gewidmet. Es ist ein schmales Bändchen von 116 Seiten. Die gut 30 Seiten der Titelgeschichte beschreiben knapp drei Tage im Februar 1945. Eine zusammengewürfelte Gruppe flieht vor der vorrückenden Sowjetarmee, indem sie versucht, mit einer Lok und einigen Waggons von Lauban aus Görlitz zu erreichen, also genau die Bahnstrecke zurückzulegen, die Arno Schmidt als Fahrschüler täglich gefahren ist.

Im Waggon
Eigentlich ist es Wahnsinn, daß wir überhaupt fahren wollen; es kann uns passieren, daß 500 Meter weiter die Schienen gesprengt sind. – Mir gegenüber liegen die beiden anderen Soldaten, das Mädchen dazwischen (so übelster Näherinnen-Typ); ein Siebziger in Postuniform (108jähriger am Amboß, und gibt all seinen Verdienst dem WHW ! so heißt’s doch immer in den Zeitungen); daneben Pastor’s inmitten der sieben Kinder (sieben; na ja, wenn er nicht Gott vertrauen wollte, wer soll’s dann ? Zwei müssen schon an der Längsseite der Tür liegen). Auf unserer Seite sind neben mir Anne, ihre Mutter, zwei halbwüchsige Schulmädel; dann die beiden HJ-Helden mit ihrem halben Dutzend Panzerfäusten (die haben sie prahlerisch als Kopfkissen genommen, und rauchen nachlässig; fein; die Jugend ist ja unsere Zukunft, n’est ce pas ?). Dann noch die beiden anderen Alten und eine Greisin (vom Lande sicher; man hört aus der Ecke vom »guden Boden« – mit dem widerlich langen »u« der Schlesier : »Nee, der gude, gude Boden !« Extra Silesiam non est vita). [BA I/1, 37]

Die Beschreibungen sind kurz und durch die Betonung des Details zugleich sehr exakt. Die Figuren sind funktional behandelt, d.h. sie repräsentieren bestimmte Positionen in dem Weltgefüge des Textes: Die Geschlagenen des Krieges haben sich vor dem Auge des Beobachters und Berichterstatters versammelt: Der Pastor und der Philosoph – als der sich der 70jährige bald erweisen wird –, die Städter und die Landbewohner, die Jungen und die Alten, die Söldner, ihre Marketenderin und die Jugend voller falscher Ideale. Die Fahrt – die gewöhnlich in zwanzig Minuten zu bewältigen war – zieht sich endlose Stunden hin. Der Pastor, der Alte und der Erzähler geraten in ein metaphysisches Gespräch, in dem das Konzept des Leviathan, des dämonischen Schöpfergottes entwickelt wird. Die Fahrt endet schließlich vor Görlitz auf der Brücke über die Neiße. Vor dem Waggon wird die Brücke vom Feuer russischer Panzer zerstört; die Insassen bis auf den Erzähler, Anne und den todkranken Alten fliehen im Dunkeln über die Brücke zurück. Dann wird auch hinter dem Waggon die Brücke getroffen, und Anne und der Erzähler verbringen die letzte Stunde nach dem Tod des Alten allein im Waggon.

Ende
Wir werden in die grobrote Tür treten. Goldig geschleiert wird die Teufels-Winter-Sonne lauern, weißrosa und ballkalt. Sie wird das Kinn vorschieben und bengelhaft den Mund spitzen, die Hüften zum Schwung heben. Starr werde ich den Arm um sie legen.
Da schlenkere ich das Heft voran: flieg. Fetzen. [BA I/1, 54]

Leviathan wird ein Achtungserfolg: Die Kritik bespricht den Band des völlig unbekannten Autors in den meisten Fällen freundlich, wenn auch etwas irritiert. Verkauft wird das Buch aber nicht; während des ersten Jahres werden nur 400 Bände abgesetzt. Das Ehepaar Schmidt lebt in Armut; während einiger Monate haben sie gerade 60 DM zum Leben. Dazu kommt, daß Schmidt einen Prozeß um die Zahlung einer Mietschuld verliert und gepfändet wird. Es geht um einen Betrag von etwas über 200 DM, den Schmidt nicht aufbringen kann und sich wohl auch nicht von Rowohlt leihen will, da er sich in der Sache im Recht fühlt. Der einzige pfändbare Gegenstand, den der Gerichtsvollzieher findet, ist das schon erwähnte Tandem, von dem sich Schmidt aber von Rowohlt schriftlich bestätigen läßt, daß er es zur Ausübung seiner Tätigkeit als Schriftsteller unbedingt benötige. Dennoch wird die Pfändung vollzogen, und Schmidt steht in einer Mischung aus Enttäuschung, Verärgerung und finanzieller Notlage kurz vor der Entscheidung, den Beruf des Schriftstellers aufzugeben.

Doch dann erscheint Anfang November 1950 als Deus ex machina, wie Schmidt selbst es genannt hat, die Zuerkennung des – übrigens nur dieses eine Mal vergebenen – Literaturpreises der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Schmidt teilt den Preis mit vier anderen Autoren – der bekannteste dürfte Werner Helwig sein – und erhält so ein Fünftel des mit 10.000 DM dotierten Preises.

Noch in diesem November lassen sich die Schmidts nach Gau-Bickelheim in der Nähe von Bad Kreuznach umsiedeln, wo in dem guten Jahr, das sie dort wohnen, die Erzählung Schwarze Spiegel entsteht, die im Oktober 1951 zusammen mit dem noch in Cordingen fertiggestellten Brand’s Haide als zweites Buch bei Rowohlt erscheint. Beide Texte sind wie die früheren und alle späteren Texte bis einschließlich Zettel’s Traum (1970) Ich-Erzählungen. Erzähler von Brand’s Haide ist ein aus britischer Gefangenschaft zurückkehrender Soldat, der in einem Dorf, das in die Gegend um Cordingen hinein erfunden wird, ein erstes Quartier und später auch eine Liebe findet, die aber scheitert; Lore nimmt das Heiratsangebot eines Argentiniers an und flieht aus der materiellen Not auf Kosten ihrer Liebe. Schwarze Spiegel verdüstert die Lage noch weiter; es ist der erste utopische Roman, den Schmidt schreibt – es folgen mit Die Gelehrtenrepublik, Kaff auch Mare Crisium und Die Schule der Atheisten noch drei weitere – und spielt fünf Jahre nach dem alles vernichtenden, atomaren Dritten Weltkrieg von 1955. Der namenlose Erzähler streift als vermeintlich letzter Mensch durch Europa und richtet sich in der Gegend um Cordingen häuslich ein. Er bezieht aber nicht etwa eines der leerstehenden Häuser, sondern baut sich im Wald eine Blockhütte, als wolle er auch schon die geringste Annäherung an die alte Zivilisation vermeiden. Natürlich findet sich doch noch eine Frau ein. Wer aber jetzt meint, daß dies ein neuer Anfang wird, sieht sich getäuscht: Lisa flieht vor der häuslichen Idylle, der Erzähler bleibt allein zurück, ohne wirkliche Aussicht, daß Lisa eines Tages zurückkehren wird. Die Menschheit wird beendet.

In diesem Buch findet sich zum ersten Mal eine der beiden für Schmidts Früh- und Mittelwerk charakteristischen typographischen Formen: der Text wird aufgelöst in viele kleine Absätze, die jeweils mit einem kursiv gedruckten, um einen halben Zentimeter nach vorn herausgezogenen Initialwort oder -satz beginnen. Das erzählerische Kontinuum ist nahezu völlig aufgegeben, allerdings ohne darauf zu verzichten, auch weiterhin eine klar strukturierte, sehr bestimmte Geschichte zu erzählen. Als Beispiel für diese Erzähltechnik ein Stück aus den ersten Seiten von Brand’s Haide; als Vorgeschichte braucht man nur zu wissen, daß der Ich-Erzähler gerade auf dem Blakenhof angekommen ist. In dem dem Zitat voraufgehenden Absatz hat er einen Hof überquert, und nun folgt, ohne daß er an eine Tür geklopft oder gar sich vorgestellt hätte – all das läßt sich aber leicht zwischen die Absätze hineindenken – sofort das Gespräch mit seiner neuen Wirtin:

»O Gott !« sagte sie, ältlich und dünn. Ich zuckte sämtliche Achseln: »Der Landrat hat mich hierhergewiesen« sagte ich, als seis persönlich unter lauter shake-hands geschehen, und ich blickte unerbittlich auf Stempel und Signum (in hoc signo vinces; hoffentlich). »Na ja; kommen Sie bitte rein«, kapitulierte sie. Ich stellte den Hocker in den Flur, hob die dicke Kiste am Seilgriff darauf, und folgte ihr in ein Wohnzimmer : komplett grün und mit Goldschnitt. Brandmalerei hing gegenüber; dies galt für vornehm und üppig damals (auch meine Eltern …); ein Bücherschrank, vor den ich sogleich hintrat, nachdem ich mich kurz zu erkennen gegeben hatte; Bücher. 200 etwa. »Wir haben den ganzen Ganghofer«, stolz; und sie wies auf die jägergrüne Reihe. »Jaja, ich sehe« antwortete ich düster : also Brandmalerei und Ganghofer : ich würde mich wie bei Muttern fühlen. Ein greises Brockhauslexikon : ich griff kalt den Band F heraus; Fouqué; … »nach den Freiheitskriegen lebte er abwechselnd in Nennhausen und Paris (sic !)«, las ich und lächelte eisig. Richtig : da war auch das Vertikow; mit Spiegelchen, Beulen, Zinnen; ein Borobudur aus Mahagoni. Echtem. Aus Holz kann man alles machen : sie fuhr einmal beherrscht und glücklich mit der Hand um ein drallgedrechseltes Säulchen : so mochte Tristan die Isolde gestreichelt haben, oder Kara ben Nemsi den Rih.
»Schorsch« hieß ihr Lehrersohn. O. A. gewesen. Und ihre Augen stolzten unecht wie aus Gablonz. Oder Pforzheim. Dabei liefen alle Männer in gefärbten Tommyuniformen rum; alle Frauen trugen Hosen. Lächerliches Weib.
»Schriftsteller – ?« machte sie neugierig, und ihr ward sichtlich wohler, standesgemäßer. »Ja, aber ….«; kurz : sie zeigte es mir :
Das Loch : hinten um die Ecke; am Kirchplatz. 2,50 mal 3,00 Meter; aber erst mußte das Gerümpel raus; Spaten, Hacken, Werkzeug, und ich erbot mich, das selbst zu machen (ich brauchte ohnehin Hammer und Zange, Nägel : eigentlich Alles cosa rara, wie ?)
»Angenehm« sagte er lässig. Ende Zwanzig und schon volle Glatze; dazu jenes fatale Benehmen, wie es stets die Offiziere aller Zeiten ausgezeichnet hat. Pfui Bock. Worte, Worte; blöd, blöd : außerdem Einer von Denen, die schon mit 20 Jahren »aus Gesundheitsrücksichten« nicht mehr rauchen oder trinken (Viele davon wandern sonntags seppelhosig und halsfrei nicht unter 60 km, und schätzen Holzlatschen und Bauernblumen in primitiven Vasen); der hier tanzte; »leidenschaftlich«, wie ihm zu sagen beliebte : Du hast ne Ahnung von Leidenschaft ! [BA I/1, 118 f.]

Soweit das Zitat aus Brand’s Haide. Schmidt selbst bezeichnet sein poetisches Verfahren als Dehydrieren, Entwässern des Textes:

((Ja, und was »passiert« nun in der Zwischenzeit?: Nichtswürdig=Langminutiges! Ob man da nun Nicht=Probehaltiges quatscht; sich am Hintern kratzt; die Farben der abgewetzten Hauswand mit dem dito Himmel vergleicht: das ist alles Wasser; zeilenschindendes, vornehmes Gewäsch, was nicht bleibt, und »dehydriert« werden muß! Wenn [z. B.] das […] erste Kapitel mit der Frage endet: »Dämmerung, ja?« – Dann beginnt eben das nächste mit der Bestätigung :

»Dämmerung!: Ja!«

Was dazwischen liegt, an Umziehen=Anziehen, einen zerrissenen Sack herklauben, den Zahnschmerzen nachhängen: das alles spielt doch keine Rolle!! Oder, anders formuliert: Wasser hat jeder Leser überreichlich genug: das brauche doch ich nicht noch zusätzlich in meinen Wortbrei zu rühren!! [BA Suppl. 1, 269 f.]

Auch Brand’s Haide ist kein kommerzieller Erfolg, findet aber Beachtung bei den Kritikern und Kollegen. Schmidts ziehen Ende 1951 noch einmal um, nach Kastel, einem Dorf südlich von Saarburg. Inzwischen hat sich die finanzielle Lage etwas gebessert, da Schmidt für den Rowohlt Verlag Romane aus dem Englischen übersetzt. Im August 1952 lädt ihn Martin Walser, der zu der Zeit als Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk tätig ist, nach Stuttgart zu einem Interview ein. Bei dieser Gelegenheit lernt Schmidt Alfred Andersch kennen. Andersch ist beim Süddeutschen Rundfunk unter anderem für die Redaktion »Radio-Essays« zuständig und ermöglicht Schmidt nun durch das Schreiben literarhistorischer Funkessays ein regelmäßiges Einkommen. Außerdem bittet er Schmidt um Manuskripte, zuerst für die von ihm betreute Buchreihe studio frankfurt, in der 1953 die Erzählungen Die Umsiedler und Alexander erscheinen, dann auch für die Zeitschrift Texte und Zeichen, in deren erster Nummer 1955 Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas erscheint.

Schmidt ist inzwischen ohne festen Verleger. Zwar hatte Rowohlt 1953 noch Aus dem Leben eines Fauns herausgebracht, das sich als erster Teil zu Brand’s Haide und Schwarze Spiegel liest, aber man war im Hause Rowohlt mit den Verkaufserfolgen unzufrieden und sicher auch damit, daß der Autor keine Anstalten machte, dem Verlangen des Verlages nach leichterer und verkäuflicherer Ware nachzukommen.

Die Situation spitzt sich zu, als im April 1955 wegen Seelandschaft mit Pocahontas Strafanzeige gegen Andersch und Schmidt wegen Gotteslästerung und Verbreitung von Pornographie gestellt wird. Die Erhebung der Klage erfolgt im März des folgenden Jahres. Inzwischen hat Schmidt zwar sein nächstes Buch – Das steinerne Herz – fertiggestellt, aber nahezu jede Hoffnung auf einen Verlag aufgegeben. Durch Vermittlung Anderschs besucht ihn im August 1955 Ernst Krawehl, Mitbegründer des Stahlberg Verlages. Er hat von Andersch das Manuskript erhalten und ist sehr interessiert, Schmidt als Autor zu gewinnen, wagt aber angesichts des drohenden Prozesses keine ungekürzte Ausgabe. Krawehl ist der Roman nicht zu anstößig, sondern er befürchtet, man werde die erotischen Stellen zur Indizierung eines eigentlich politisch unliebsamen Romans benutzen. Es beginnt ein monatelanges, Verleger und Autor zermürbendes Feilschen um Formulierungen. Krawehl sucht und findet immer neue Stellen, Arno Schmidt kämpft um jede Formulierung.

Noch kurz vor der Klageerhebung zieht Schmidt auf Initiative Ernst Kreuders in einer Hauruck-Aktion nach Darmstadt, um einen Prozeß im katholischen und konservativen Trier zu vermeiden, was auch gelingt. Die Akten wandern nach Stuttgart, weil dort der Wohnsitz Anderschs ist. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft fordert bei Hermann Kasack, dem Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ein Gutachten über Seelandschaft mit Pocahontas an. Kasack stellt in seinem achtseitigen Gutachten ohne jeden Zweifel fest, daß es sich bei dem Text um ein Kunstwerk handelt, woraufhin die Stuttgarter Staatsanwaltschaft das Verfahren unter Berufung auf »Artikel 5, Abs. 3 Satz 1 des Bonner Grundgesetzes«, wonach die Kunst frei ist, am 26. Juli 1956 einstellt.

Drei Monate später erscheint mit einjähriger Verspätung endlich Arno Schmidts bis dahin längster und sicher auch wichtigster Roman Das steinerne Herz. Dieser Roman, der der finanziellen Not, der Hoffnungslosigkeit und einer ersten ernsthaften Herzerkrankung abgerungen wurde, stellt einen ersten Gipfel im Werk dar. Der Erzähler Walter Eggers ist passionierter Sammler, und das obskure Objekt seiner Begierde sind hannoversche Staatshandbücher des 19. Jahrhunderts, also eigentlich gänzlich nutzlose Datenkompendien, die aber die Grundlage für seine geistige Flucht aus der politischen Wirklichkeit der Adenauer-Ära sind, für die er nichts als böse Verachtung aufbringen kann. Eggers entwickelt ein gehöriges Maß von – wie man beamtendeutsch so schön sagt – krimineller Energie: Angabe einer falschen Identität, Diebstahl eines Buches aus der Ostberliner Staatsbibliothek, Fälschung eines Dokuments zur Ermöglichung der Ausreise einer Person aus der DDR. Insgesamt ist Eggers wohl der weltoffenste der historisch orientierten und bedingten Helden Schmidts, und dem entspricht eine große Fülle von Wirklichkeitsdetails aus seiner deutschen Welt. Es findet sich wohl in keinem anderen Roman der fünfziger Jahre eine derartige Fülle von Wirklichkeit, verbunden mit einer an der Oberfläche einfachen Handlung, die sich aber auf den verschiedensten Ebenen als komplexes Spiel um Geschichte, Literatur, politische Wirklichkeit und nicht zuletzt das Miteinander von Menschen erweist.

Die Jahre in Darmstadt sind sicher nicht die besten im Leben Schmidts. Schmidt war wohl überhaupt kein Stadtmensch, und in Darmstadt kommt ein unruhiger Kulturbetrieb hinzu, der in das Leben des Literaturarbeiters Schmidt immer wieder hineinreicht. Schmidt schreibt in Darmstadt neben Brotarbeiten und kleineren Texten, mit denen er selbst nicht sehr zufrieden ist, nur den kleinen Roman Die Gelehrtenrepublik, seinen zweiten utopischen Roman, der die Gegenwelt zu dem Einzelgänger aus Schwarze Spiegel präsentiert. Es ist ein souveränes Mosaik, aus Spielformen der Kolportageliteratur gebaut: aus Western im Stile Karl Mays, Science Fiction à la Jules Verne und Agententhriller.

Zumindest ebenso wichtig ist das Erscheinen seiner großen Biographie über den damals nahezu völlig vergessenen Romantiker Friedrich de la Motte-Fouqué, an der er nach eigenen Angaben über 25 Jahren gearbeitet hat, und die eine Fouqué-Forschung überhaupt erst begründet. Diese Biographie – über 700 engbedruckte Seiten – wird für Jahre das meistverkaufte Buch Schmidts bleiben. Es erscheint 1958 als Paperback und erlebt innerhalb von 20 Jahren vier Ausgaben mit zusammen über 12.000 Exemplaren.

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Ende 1958 zieht das Ehepaar Schmidt zum letzten Mal um: Durch einen Hinweis des befreundeten Malers Eberhard Schlotter kann Schmidt in einem Dorf in der Lüneburger Heide, Bargfeld, ein kleines Holzhaus kaufen. Er zögert lange, da er sich zur Finanzierung Geld borgen muß. Schließlich läßt er sich überzeugen und kehrt so endlich in die ihm gemäße Landschaft zurück, wie er selbst sagt. Der Umzug nach Bargfeld ist der endgültige Schritt weg vom deutschen Literaturbetrieb, in dem er sowieso immer nur einen Platz am Rande inne hatte. Außer mit Andersch und Wollschläger existieren keine größeren Briefwechsel mit Schriftsteller-Kollegen; zwar hat er Werner Steinberg, Martin Walser, Peter Rühmkorf und Hans Magnus Enzensberger, um nur ein paar der bekanntesten zu nennen, persönlich gekannt, aber ein Austausch oder gar literarische Anregungen lassen sich bei Schmidt nicht finden. Schmidt hat immer nur und immer nur für sich gearbeitet! Selbst die Zeit, die gute Bekannte bei ihm verbringen, fällt ihm schwer; der Zwang zum Schreibtisch, die Nötigung, sein Soll in der Literatur abzuleisten auch gegen die Herzkrankheit und sonstige Gebrechlichkeit, stört alle sozialen Beziehungen, von Freundschaften ganz zu schweigen. Die Briefe versiegen zum Schluß ganz, nur hier und da einmal eine Seite; insgesamt aber steckt er alle verbleibende Zeit und Energie in die Produktion.

Schmidts gewöhnlicher Tageslauf der späten Jahre ist von einer fanatischen Disziplin: Spätestens um vier Uhr morgens steht er auf; bis zum Mittag schreibt er an dem Roman, der gerade ‚dran‘ ist – »Frühstück : das kenn ich seit 39 nicht mehr« [BA I/2, 11] –; nach dem Mittagessen kleine Arbeiten, auch Brotarbeiten für Zeitungen und den Rundfunk und dazu noch: Übersetzungen. Bis zum Schluß hat Schmidt das Übersetzen nicht aufgegeben, besonders weil er sich in den letzten Jahren die Titel selbst aussuchen bzw. dem Verlag vorschlagen konnte. Das Übersetzen halte den Wortschatz geschmeidig und sei für den Schriftsteller eine nicht zu unterschätzende Übung. In den Abendstunden noch ein wenig Gartenarbeit oder auch eine Stunde spazierengehen und der Tag ist vorbei. Am nächsten geht es dann genauso. Andersch ist einer von denen, die ihn schon früh warnen, daß er seine ohnehin angeschlagene Gesundheit auf diese Weise endgültig ruinieren werde. Schmidt nickt nur resignierend dazu, und schreibt zurück, daß der Beruf des Schriftstellers eben tödlich sei und Andersch nur auf die eigene Gesundheit gut acht geben solle.

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Die letzten zwanzig Jahre in Bargfeld sind durch diese Form des Lebens die produktivsten: Zuerst entsteht in den Jahren 1959, 1960 der große Roman Kaff auch Mare Crisium, der dritte utopische Roman, wenigsten zur einen Hälfte. Denn dieser Roman ist in zwei Spalten gedruckt, die einander um mehr als die Hälfte überlappen. Oder, um es anders zu beschreiben: Der Text springt von Zeit zu Zeit an den anderen Rand der Seite hinüber und dann später wieder zurück, so daß entweder rechts oder links ein breiterer Rand entsteht. Der Text beginnt links und stellt uns zwei Personen vor: den Erzähler Karl Richter und seine Arbeitskollegin und Geliebte Hertha Theunert, die, wie man allerdings erst im weiteren erfährt, ein Wochenende auf dem Lande bei Karls Tante Hedwig Kühn verbringen. Karl erfindet in diesen Tagen eine Geschichte, die aus der Idee Herthas geboren wird, daß ein Leben auf dem Mond doch eigentlich recht spannend sein sollte, verglichen mit ihrer Langeweile hier auf dem Land. Diese von Karl fabulierte Mondgeschichte findet sich nun in der rechten Spalte. Sie spielt erneut nach der Zerstörung der Welt durch einen Atomkrieg, diesmal aber in der US-amerikanischen Kolonie auf dem Mond, da die Erde restlos unbewohnbar geworden ist. Die Einwohner der Kolonie fanden sich von der Katastrophe überrascht, abgeschnitten von jeder Rückkehr und müssen sich sehr notdürftig zum Überleben einrichten. Es existiert auf dem Mond außerdem noch eine russische Kolonie, mit der man auch jetzt noch in seltsam nutzloser Konkurrenz lebt, und was der schön erfundenen Details mehr sind.

Wirklich interessant aber ist die feinste Verflechtung der beiden erzählten Geschichten. Nicht nur werden die kleinen und kleinsten Erlebnisse Karls und Herthas auf den Mond transportiert, sondern auch vom Mond her, also aus Karls Geschichte heraus, finden Einflüsse zurück in die Wirklichkeit, besonders in die zwischen Karl und Hertha. So wird aus den beiden Strängen ein fester Zopf geflochten, erstaunlich kunstvoll und in seiner Art ganz ohne Vorbild.

Kaff zeigt schon sehr deutliche Spuren der großen Einflüsse, die im Spätwerk zum Tragen kommen sollen: der Auseinandersetzung mit den beiden großen Romanen von James Joyce, Ulysses und Finnegans Wake, und mit der Theorie der Psychoanalyse Sigmund Freuds. Es ist völlig unmöglich – von der Verwegenheit dieses ganzen Portraits einmal abgesehen – an dieser Stelle etwas Angemessenes zu diesen beiden Hauptthemen der späten Jahre sagen zu wollen, nicht nur, weil die Themen selbst umfänglich und kompliziert sind, sondern weil hinzukommt, daß Schmidts Umgang mit ihnen, ich möchte sagen: der Gebrauch, den er von ihnen macht, recht eigenwillig ist, um es vorsichtig-freundlich zu formulieren. Gesagt werden aber kann, daß ihn diese beiden Einflüsse zu einer völlig neuen Auffassung der Sprache und der literarischen Möglichkeiten führen, die ihm für die letzten Romane und Erzählungen einen Fundus von innovativen Ideen und Materialien eröffnet.

Die Jahre nach dem Erscheinen von Kaff sind scheinbar sehr ruhig: Schmidt veröffentlicht zwischen 1960 und 1962 eine Reihe von kürzeren, aber sehr schwierigen Erzählungen in der Zeitschrift Konkret, die die starke Veränderung seiner Texte zum Spätwerk hin vermitteln. 1961 erscheint unter dem Titel Belphegor nach Dya Na Sore der zweite Sammelband mit Funkessays, zumeist über Autoren des 19. Jahrhunderts. Zwei Jahre später folgt Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl May’s, die man nur jedem Karl May-Verehrer ans Herz und in die Hand legen sollte. Schmidt schreibt mit Sitara keine äußere Biographie mehr, wie er es bei Fouqué getan hat, sondern versucht, ein Psychogramm zu entwerfen, das – betrachtet man es ganz ohne Vorurteile und Aversionen – doch eine erstaunliche Durchsichtigkeit der Mayschen Texte erzeugt. Denn May war – und damit ist Schmidts These zwar auf den Punkt gebracht, aber noch nicht verstanden – latent homosexuell. Der einzige Ort allerdings, an dem sich seine Homosexualität zeigen konnte und durfte, waren die erfundenen Welten seiner Reiseerzählungen. Schmidt analysiert detailliert die sexuelle Unterfütterung der Sprache, der Ausstattung und der Landschaften.

Nach diesem Coup, der die May-Forschung zu ungeahnten Höhen gebracht hat, und wenn auch nur in der Opposition, wird es still um Schmidt. Nicht, daß nicht regelmäßig alle zwei Jahre ein Band vorgelegt würde, aber es sind Sammlungen bereits bekannter, kleinerer Texte, zum Teil Brotarbeiten, zum Teil die schon aus Konkret bekannten Texte; auch ein weiterer Sammelband Funkessays erscheint, da Schmidt auch in Bargfeld weiterhin regelmäßig für verschiedene Rundfunksender schreibt. Dann erscheinen 1966 und 1967 auch die ersten beiden Bände der großen Poe-Übersetzung, die in der Hauptsache von Schmidt zusammen mit Hans Wollschläger geleistet wurde. Auch andere Übersetzungen werden erledigt: Zwei Bände von Stanislaus Joyce, Die Frau in Weiß von Wilkie Collins, eine erste Übersetzung Coopers, der seit frühester Zeit zu den Hausgöttern Schmidts gehört.

Was aber fehlt, ist der große Roman. Natürlich fehlt er nicht einfach so, sondern die kleine, aber sehr rege und neugierige Fan-Gemeinde – die damals noch viel ausgeprägter und elitärer war, als sie es heute ist – weiß natürlich längst Bescheid. Hatte Schmidt doch schon 1964 angekündigt:

[…] ich werde mich in meine großen, nunmehr brechend=follen Zettelkästen zurückziehen; und daraus, binnen Jahresfrist, mit einem 1000=Seiten=Text auftauchen, dergleichen man zwischen den vier Ekken eines Buches bisher noch nicht erblickt hat.3

Binnen Jahresfrist ist es dann nichts geworden, aber Ende des Jahres 1968 war er fertig, und man hatte dergleichen wirklich noch nicht zwischen den – pardon! – acht Ecken eines Buches gesehen: Zettel’s Traum. Anderthalb Monate braucht Schmidt noch für die Korrekturen und dann liegt das Typoskript fertig vor. Aber in welcher Form das Monstrum, das da in jahrelanger, bis zur Erschöpfung geleisteter Fron entstanden ist, denn zu publizieren sei, war alles andere als klar. Schmidt hatte den Text auf große DIN A3-Blätter getippt, da er auf diese Weise 120 Anschläge pro Zeile zur Verfügung hatte. Diese 120 Anschläge werden auf drei Kolumnen verteilt, einen Haupttext mit 60 und zwei Randkolumnen mit jeweils ca. 30 Anschlägen. Die beiden Randkolumnen flüstern ständig in den Haupttext hinein: auf der linken Seite finden sich Assoziationen aus dem Werk Edgar Poes, der im Text als Thema und Figur präsent ist, auf der rechten Gedankensplitter des Erzählers, die irgendwie zum gerade verhandelten Thema gehören, eine ‚zweite Schiene‘ sozusagen. Auch kann der Haupttext zusätzlich noch von der Mitte aus nach rechts oder links ausrücken. Ziel dieser Form ist es in erster Linie, dem Leser die Orientierung im Text zu erleichtern: er soll immer wissen, wohin ihn der Erzähler gerade mitnimmt.

Äußere Handlung hat der Roman kaum: erzählt wird die Geschichte nur eines einzigen Hochsommertages, oder besser von 24 Stunden von morgens etwa 4:00 Uhr an einem bis zum Morgen des anderen Tages, in denen das Übersetzerehepaar Paul und Wilma Jacobi in Begleitung ihrer Tochter Franziska den Einsiedler und Literaturkenner Daniel Pagenstecher besucht. Den Großteil der erzählten Zeit nehmen Gespräche in Anspruch: man unterhält sich beim Spazierengehen, Essen, Die-Füße-kühlen, Saufen, Gurkeneinmachen, wieder Spazierengehen, wieder Essen, wieder Saufen usw. usf. 1334 große Seiten lang dauert dieses eintägige Weltgespräch um Literatur, Autoren, die Sprache und das Rätsel, warum einer so schreibt, wie er schreibt.

Doch selbst der Umfang spräche noch nicht gegen eine relativ normale Veröffentlichung. Überschlägt man die Anzahl der Zeichen, die Zettel’s Traum enthält, so kommt man auf etwas weniger als den Umfang von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, also etwa 3500 normale Buchseiten. Aber Schmidts Sprachauffassung führt zu einer weiteren, nahezu unüberwindlichen Schwierigkeit: Da ein Hauptthema des Buches die erotische Unterwanderung der literarischen sowie der alltäglichen Sprache ist, die Schmidt durch kleine Verschiebungen im Lautbestand oder auch nur Schriftbild eines Wortes sichtbar macht – „er zog GenItalien“ ist wohl eines der plakativsten Beispiele; es geht aber auch feiner, wenn Männer z.B. zu „Sklaven des MitHodischen“ werden –, birgt jeder Tippfehler ein Sinnpotential, oder anders gesagt: Es gibt keine Tippfehler mehr, sondern jedes Zeichen hat sein Recht, seine Bedeutung. Es war nun damals ein undenkbares Projekt, den Text gegen jede Setzergewohnheit mit allen Fehlern zu kopieren, dann in mühevollster Korrekturarbeit alle Abweichungen, die sich dennoch eingeschlichen hatten, zu eliminieren und doch nie sicher zu sein, daß exakt der Text gedruckt wird, den Schmidt geschrieben hat. Der Stahlberg Verlag entschließt sich aus dieser Notlage heraus, dem Vorschlag des Autors zu folgen und das Buch im Offsetdruck als Faksimile des Typoskripts zu veröffentlichen.

Das Buch ist von allem Anfang an mit dem Stigma der Unverständlichkeit und Unlesbarkeit behaftet. Dieter E. Zimmer bezeichnet die ratlose Position vieler, auch gestandener Schmidt-Leser in seiner Rezension in der Zeit so:

»Groß« ist das Buch auf jeden Fall. Es könnte schon sein, daß in Zettel’s Traum das literarische Meisterwerk des Jahrhunderts steckt; es könnte sein, daß es sich um eine Art Streichholzeiffelturm in Originalgröße handelt, von einem Hobby-Berserker um den Preis seines Lebens erstellt. Vielleicht ist es auch beides.4

Man weiß nicht, ob es dennoch oder gerade deswegen ein Verkaufserfolg wird. Die 2000 handsignierten Exemplare sind schon bei Auslieferung so gut wie verkauft – ich kenne einige dieser Erstkäufer, die damals das 295 DM teure Buch als Geldanlage erworben und sogleich gut verpackt im Keller eingelagert haben –, jede größere Zeitung druckt Rezensionen, und Arno Schmidt wird mit dem Buch bekannt, mit dem er sich am weitesten von denen entfernt hat, bei denen bekannt zu sein bedeutet hätte, als Deutscher Autor leben zu können. Der Ruhm erreicht ihn nicht mehr. Schon die Verleihung des Berliner Fontane-Preises 1964 muß ihn nur noch angestrengt haben. 1973 zur Verleihung des Goethe-Preis fährt er nicht mehr nach Frankfurt, sondern läßt seine Frau Urkunde und Scheck in Empfang nehmen; für ihn ist es zu spät! Er ist müde und krank, nur noch seiner Arbeit verpflichtet. Fünf dicke Bände Übersetzungen von Bulwer-Lytton und Cooper mit zusammen 3800 Seiten und zwei große Romane, Die Schule der Atheisten und Abend mit Goldrand, auch als Typoskripte veröffentlicht und jeder im Umfang von gut 1000 Normalseiten, entstehen noch in den letzten neun Jahren seines Lebens: Abend mit Goldrand gehört – meiner unmaßgeblichen Meinung nach – mit einigen Passagen sicher zum Schönsten in Schmidts Werk, wenn nicht gar in der deutschen Literatur.

Zum Schluß muß es eine Qual gewesen sein. Nach einer langen Pause beginnt Schmidt im Februar 1979 noch einmal einen großen Roman: Julia, oder die Gemälde. In den vier Monaten, die ihm noch bleiben, entstehen 100 Seiten. Die letzten Sätze, die er geschrieben hat, lauten:

(Tja, eines der vielen großen Worte Alexander von Humboldt’s : ›Sie sind sämtlich faul, Majestät.‹, (als Fr. Wilhelm iv. ihn nach den großen allgemeinen Kennzeichen der Gattung Mensch fragte). / Naja; erhebt sich die Frage : ›Iss Fleiß ’ne Tugend?‹ / (Müßte man erst noch eine andre Frage davorschalten) : ›Ist Fleiß für Menschen & Tiere eine einfache (Lebens) Notwendigkeit ?‹ [BA IV/4, 141]

Am 31. Mai 1979 erleidet er in seinem Haus in Bargfeld einen Gehirnschlag und stirbt vier Tage später, am 3. Juni 1979 im Krankenhaus in Celle. Man hat ihn unchristlich – wie er gelebt hat – begraben: Sein Grab liegt unter einem der von ihm so geliebten Heide-Findlinge in der großen, wilden Wiese hinter dem Haus in Bargfeld. Drumherum ist immer noch Heide und Ruhe.


1 Alle Zitatnachweise in eckigen Klammern beziehen sich auf Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe. Zürich: Haffmans, 1986 ff. Die römische Ziffer gibt die Werkgruppe an, die nachfolgenden arabischen den Band innerhalb der Werkgruppe und die Seite.

2 Walther Kiaulehn: Mein Freund der Verleger. Hier zitiert nach: Bargfelder Bote, Heft 83–84 (Oktober 1984), S. 30.

3 Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur. Nr. 1. Zürich: Haffmans, 1982. S. 33 [Bf. von 1964].

4 Dieter E. Zimmer: Zettels Kasten. In: Die Zeit, 8.5.1970. Hier zitiert nach: Über Arno Schmidt. Rezensionen vom »Leviathan« bis zur »Julia«. Hg. v. Hans-Michael Bock. Zürich: Haffmans, 1984. S. 199 f.