Aus gegebenem Anlass (IV)

Kunstgriff 1. Die Erweiterung. Die Behauptung des Gegners über ihre natürliche Gränze hinausführen, sie möglichst allgemein deuten, in möglichst weitem Sinne nehmen und sie übertreiben; seine eigne dagegen in möglichst eingeschränktem Sinne, in möglichst enge Gränzen zusammenziehn: weil je allgemeiner eine Behauptung wird, desto mehreren Angriffen sie bloß steht.

Arthur Schopenhauer
Eristische Dialektik

Du kaufst jetzt Günter Grass, …

Wieder einmal große Aufregung im Vorfeld einer Grass-Ver­öf­fent­li­chung! Diesmal durch sein um 60 Jahre verzögertes Geständnis, er sei in der Waffen-SS gewesen. Helle Aufregung bei all denen, die sich professionell aufregen, Experten werden befragt, wie diese Nachricht denn nun einzuschätzen sei, ob Grass als moralische Instanz beschädigt würde, ob seine Bücher nun nichts mehr wert sind oder was sonst noch Schreckliches geschehen könnte. Von Marcel Reich-Ranicki habe ich bislang noch nichts gelesen, aber da kommt sicherlich auch noch was. Ich dagegen frage mich, was sich denn eigentlich geändert hat?

Dass Grass als Jugendlicher bis zur Kapitulation an den Endsieg geglaubt hat, konnte, wer wollte, problemlos nachlesen. Dass Grass als junger Mensch im Krieg aktiv war, ebenso. Dass er zu den Verblendeten und Verführten gehört hat – wie viele andere auch – war ebenso bekannt. Nun wissen wir, dass er eine andere Uniform getragen hat, als bislang angenommen wurde – so what? Grass hat keine Kriegsverbrechen begangen, nicht einmal in einer Einheit gedient, der Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden.

Sein Biograph Michael Jürgs aber erklärt in einem Gespräch im Deutschlandradio die »moralische Instanz Grass« für »eigentlich erledigt«, weil – wie er Kempowski nachsprach – das Bekenntnis »ein wenig spät« gekommen sei. Selbst die Gutwilligen halten Grass die zahlreichen Gelegenheiten vor, bei denen er sich hätte offenbaren können, »ohne dass man ihm einen Vorwurf daraus gemacht hätte«. Man hätte wahrscheinlich nur so reagiert wie jetzt – da versteht man gleich, warum er so lange zu schweigen versucht hat.

Nehmen wir die Aufregung mal für einen kurzen Moment lang ernst, selbst wenn wir wissen, dass es nur Mediengeschrei ist: Grass ist über viele Jahre hinweg zu einer Medien-Ikone aufgebaut worden. Auf der Liste der zehn Top-Denker Deutschlands der Zeitschrift »Cicero«, einem weithin unbekannten intellektuellen Fachblatt, steht Grass auf Position 1. Er hat dort Harald Schmidt um Haaresbreite geschlagen. So sieht das mit den »Denkern« in Deutschland nämlich aus. Anders gesagt: Grass war immer schon eitel genug, um zu jeder Sache eine Meinung zu haben, von der er wusste, dass sie einer ausreichend großen und medienmächtigen Minderheit in den Kram passen würde. Der Minderheit war Grassens Votum immer recht, und spätestens nachdem er den Literatur-Nobelpreis erhalten hatte, war kein Halten mehr.

Dabei waren Grassens Meinungen immer schon windig. Er neigte dazu, zu komplizierten Sachverhalten einfache Ansichten zu pflegen, weniger mit differenzierten Analysen zu glänzen als vielmehr mit einer aufrechten, moralisierenden Pose, sich mehr auf seine Stimm- als auf seine Denkkraft zu verlassen. Als Schriftsteller hat er Unmengen von unliterarischem und unlesbarem Schamott geliefert – ich erinnere mich mit Grausen an »Die Rättin« und »Der Butt«; »Das weite Feld« war wenigstens in der ersten Häfte einigermaßen erträglich –, und einige wenige denken auch heute noch, dass es das bestgehütete Geheimnis von Günter Grass ist, dass er gar keine Romane schreiben kann. Schon 1981 hat Friedrich Dürrenmatt in einem Interview die schöne Äußerung getan:

Günter Grass hat mir sehr höflich den Butt versprochen, aber er hat ihn dann nie geschickt, also brauchte ich ihn auch nicht zu lesen. Der Grass ist mir einfach zu wenig intelligent, um so dicke Bücher zu schreiben.

Das hat mir schon damals aus der Seele gesprochen. Dies »späte Bekenntnis« ist eine gute Gelegenheit, Grass als das zu durchschauen, was er seit vielen Jahrzehnten ist: Die erfolgreiche Marketingstrategie einer Interessengruppe. Dass er selbst das bislang nicht begriffen zu haben scheint, macht ihn so erfolgreich. – »Nachbarin! Euer Fläschchen!«