Sophokles: Antigone

Er komme, komme!
Erscheine, der Tode Schönster,
Der den letzten Tag mir bringt,
Er, der Höchste! –
Er komme, komme! daß ich nicht
Den anderen Tag noch sehn muß!

[Wolfgang Schadewaldt]

Gefühlt die 20. Lektüre seit meiner Schulzeit, einmal mehr aus didaktischem Anlass, diesmal in der wohl recht neuen Übersetzung von Kurt Steinmann bei Reclam. Begegnet bin ich dem Stoff allerdings zuerst als laienschauspielender Schüler in der Bearbeitung von Jean Anouilh. Dann habe ich im Studium manche Stunde über der Hölderlinschen Übersetzung rätselnd zugebracht, zu der ich auch wieder erst über einen Umweg gekommen bin, nämlich der Brechtschen Bearbeitung von 1948, die versucht, den Stoff als Widerstandsstück gegen einen Unrechtsstaat zu lesen. Und schließlich bin ich dann – wie bei so vielen anderen Texten – bei Wolfgang Schadewaldt hängen geblieben, der Sophokles in einer ganz merkwürdigen Schwebe zwischen Lakonismus und Pathos zu halten versteht, dessen Übersetzungen aber wohl gerade untergehen, da ihr Verfasser in politische Ungnade gefallen ist.

Der Stoff des Mythos dürfte wohl bekannt sein oder kann wenigstens leicht an zahlreichen Stellen gefunden werden, deshalb hier nur eine ganz kurze Erinnerung: Antigone, die Tochter des König Ödipus, folgt dem Gebot der Götter und bestattet entgegen dem Verbot ihres Onkels Kreon ihren Bruder Polyneikes. Der ist bei dem Versuch, die Herrschaft über Theben seinem Bruder Eteokles gewaltsam zu entreißen, ebenso wie dieser auf dem Schlachtfeld geblieben. Während Eteokles als Beschützer der Stadt mit allen Ehren beigesetzt wird, soll Polyneikes nach dem Willen des neuen Herrschers Kreon als Staatsfeind Nr. 1 auf dem Schlachtfeld verrotten. Antigone wird bei der Wiederholung des Bestattungsrituals auf frischer Tat ertappt, verhaftet, verhört und zum Tode verurteilt. Um sich durch deren Hinrichtung nicht den Zorn der Götter zuzuziehen, mauert man sie bequem in eine Höhle vor der Stadt ein. Als sich Kreon endlich eines anderen – um nicht zu sagen: Besseren – besinnt, ist es zu spät: Antigone hat sich erhängt, Kreons Sohn, der mit Antigone verlobt war, versucht zuerst den Vater zu töten und stürzt sich dann zu Füßen der toten Braut in sein Schwert, woraufhin sich notwendigerweise auch Kreons Frau Eurydike umbringt. Auf der Bühne bleibt der dem Wahnsinn nahe Alleinherrscher zurück, der ebenfalls nur noch den Tod herbeisehnen kann. Man sieht: ganz großes Kino!

Schwierig aber wird es, das Stück zu interpretieren, und es wird je schwieriger, je länger man darüber nachdenkt. Was vergleichsweise noch als einfach erscheint, ist, die Intention des Autors zu verstehen: Sophokles beweist sich auch in seinen anderen Stücken als ein Konservativer, der seinen säkularen Zeitgenossen den moralisierenden Spiegel vorhalten und sie daran erinnern will, dass die Gebote der Götter denen der Menschen in einem absoluten Sinne vorgehen und sich derjenige sträflich verhält, der beim Erlass weltlicher Gesetze gegen die der oberen wie der unteren Götter verstößt.

Leider kann nun mit einigem Fug behauptet werden, dass dem so sein mag, wie es will, dass aber das Stück gerade das nicht zeigt. Dazu muss man sich klar machen, dass eine säkulare Diskussion über die Geltung religiöser Wertesysteme in Griechenland seit mindestens 100 Jahren geführt wurde – Xenophanes berühmte Feststellung, dass wenn die Pferde Götter hätten, sie wie Pferde aussehen würden, markiert die späteste Grenze, die wir für den Beginn einer solchen Diskussion ansetzen müssen –, als „Antigone“ auf der Bühne erschien. Leider können wir auch nicht die Ausrede gelten lassen, Sophokles behandle hier einen Mythos, also Ereignisse aus quasi prähistorischen Zeiten, da keiner der Interpreten des Stückes jemals bezweifelt hat, dass der Autor kein Historiendrama liefert, sondern unmittelbar zu seinen Zeitgenossen spricht. Die absolute Geltung der Gebote der Götter kann also weder für den Autor noch für sein Publikum fraglos vorausgesetzt werden.

Wenn dies aber der Fall ist, so unterminiert dies die vom Autor intendierte Verteilung von Schuld und Sühne im Stück, sprich: Die Protagonisten werden von Vertretern einer objektiven Werte- und Weltordnung auf Vertreter zweier diskursiv gegeneinander abzuwägender Glaubenssysteme reduziert. Und genau dieser Diskurs findet im Stück nicht statt. Im Gegenteil führt das Stück zwei zur Kommunikation miteinander unfähige Einzelne vor, von denen einer die faktische Macht über die andere hat und diese Macht auch ausübt. Daraus folgt denn auch, dass nichts an der Peripetie des Stückes überzeugt, da der Autor keine Gründe für den plötzlichen Umschwung in der Überzeugung Kreons anzuführen weiß: Ist Kreon in Vers 1063 noch der (wahrscheinlich vollständig korrekten) Überzeugung, die Warnungen des Sehers Teiresias seien von seinen, Kreons, politischen Gegnern finanziert worden, so ist er, ohne dass weitere Gründe hinzutreten würden, nur 32 Verse später in seinem Geist verstört‘. Von diesem Moment an bricht das rationale System Kreons weitgehend unmotiviert zusammen, und dieser Zusammenbruch wird mit Hilfe der zahlreichen Toten am Ende des Stücks bis an die Grenze des Wahns vorangetrieben. Das mag man dramaturgisch (und eventuell auch noch psychologisch) durchwinken wollen, es mogelt sich aber gerade um die zentrale Frage des Stücks herum, ob ein religiöses Wertesystem einen absoluten Vorrang vor einem staatsdienlichen hat oder haben soll.

Es muss der Verdacht bestehen, dass Sophokles diese Schwäche des Stücks – die sich letztendlich aus dem stofflichen Widerstand des Mythos gegen seine tagespolitische Zurichtung ergibt – durchaus erkannt hat. Nicht umsonst endet das Stück im Raunen (und geraunt wird immer dort, wo man etwas vorzeigen möchte, dies aber nicht vermag):

CHOR. Weitaus erste Bedingung des Glücks
ist das vernünftige Denken; man darf die Sphäre der Götter
niemals entheiligen; doch große Worte
der über die Maßen Stolzen lehren,
haben sie unter großen Schlägen gebüßt,
im Alter vernünftiges Denken. [Steinmann]

Das weitaus Erste an höchstem Glück
Ist Besonnensein. Und not auch ist,
Vor den Göttern nie zu verletzen die Scheu.
Doch große Worte Großprahlender,
Wenn mit großen Schlägen sie gebüßt,
Haben im Alter gelehrt die Besinnung. [Schadewaldt]

Von allen Gnaden die höchste doch bleibt
Der verständige Geist. Und der Götter Bereich
Entweihe man nicht! Doch gewaltiges Wort
Hoffärtiger büßt mit gewaltigem Sturz:
Draus lernt sich im Alter die Weisheit. [Reinhardt]

Hoch raget gewiß vor Gütergenuß
Die Bedachtsamkeit. Frevle drum nie
Gegen die Gottheit. Das gewaltige Wort,
In gewaltigem Schlag doch büßend einmal
Den Empörungsmut,
Lehrt endlich im Alter Besinnung. [Solger]

Um vieles ist das Denken mehr, denn
Glückseeligkeit. Man muß, was Himmlischer ist, nicht
Entheiligen. Große Blike aber
Große Streiche der hohen Schultern
Vergeltend,
Sie haben im Alter gelehrt, zu denken. [Hölderlin]

Χορός
πολλῷ τὸ φρονεῖν εὐδαιμονίας
πρῶτον ὑπάρχει. χρὴ δὲ τά γ᾽ εἰς θεοὺς
μηδὲν ἀσεπτεῖν. μεγάλοι δὲ λόγοι
μεγάλας πληγὰς τῶν ὑπεραύχων
ἀποτίσαντες
γήρᾳ τὸ φρονεῖν ἐδίδαξαν.

Sophokles: Antigone. Übersetzt von Kurt Steinmann. Reclam XL 19244. Stuttgart: Reclam, 2016. Broschur, 110 Seiten. 4,60 €.

P.S.: Ergänzend von Andre Gottwald: