Zum 200. Geburtstag von Fjodor M. Dostojewskij

»Mein Freund, die Menschen so zu lieben, wie sie sind, ist unmöglich. Das ist aber geboten. Deshalb tu ihnen Gutes, nimm dich zusammen, halt dir die Nase zu und schließe die Augen (das letzte ist unumgänglich). Ertrage das Böse, was sie dir antun, nach Möglichkeit, ohne es ihnen übelzunehmen, eingedenk dessen, daß auch du Mensch bist. Selbstverständlich behandelst du sie mit der gebotenen Strenge, wenn du auch nur um ein weniges klüger bist als das Mittelmaß. Die Menschen sind ihrer Natur nach niedrig und lieben am liebsten aus Furcht; laß dich zu einer solchen Liebe nicht herab, und gib die Verachtung nicht auf. Irgendwo im Koran befiehlt Allah dem Propheten, die ›Ruchlosen‹ nicht anders als Mäuse anzusehen, ihnen Gutes zu tun und achtlos an ihnen vorüberzugehen – ein wenig überheblich, aber richtig. Übe dich in Verachtung selbst dann, wenn sie gut sind, denn meistens sind sie gerade dann auch schlecht. Oh, mein Lieber, ich sage das, weil ich von mir auf andere schließe! Wer nur nicht hoffnungslos dumm ist, der kann nicht leben, ohne sich selbst zu verachten, ob Ehrenmann oder ehrlos – ganz egal. Seinen Nächsten zu lieben, ohne ihn zu verachten – das ist unmöglich. Meiner Meinung nach ist der Mensch mit der physischen Unmöglichkeit erschaffen, seinen Nächsten zu lieben. Hier steckt von Anfang an ein Fehler in der Wortwahl, und ›Liebe zur Menschheit‹ bezieht sich nur auf jene Menschheit, die du dir selbst in deiner Seele erschaffen hast (mit anderen Worten, auf dich selbst und auch auf die Liebe zu dir selbst) und die deshalb niemals Wirklichkeit werden wird.«

Fjodor M. Dostojewskij
Ein grüner Junge

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