Jahresrückblick 2019

Das Lesejahr war aufgrund diverser Umstände nicht so ergiebig wie die letzten Jahre, aber dafür war der Anteil an schlechten oder überflüssigen Lektüren diesmal vergleichsweise gering.

Wirklich schlecht, da komplett stammtischgeschwätzig, war nur Rainer Erlingers Warum die Wahrheit sagen? Überflüssige Lektüren waren Martin Amis’ Gierig – was nur bedingt gegen das Buch spricht; es passt einfach nicht in meine Lektüregeschichte, weil es Türen einrennt, die bei mir nie geschlossen waren – und Iwan Bunins Ein unbekannter Freund, das ich wegen der Übersetzerin gelesen habe, das sich aber als gehaltlos erwies.

Auf der positiven Seite stand in diesem Jahr in der Hauptsache die Neu- und Wiederlektüre der Werke Dostojewskijs, die auch im kommenden Jahr fortgesetzt werden wird. Da ist – vor allem Dank der Übersetzerin Swetlana Geier – zur Zeit jedes neue Buch eine Freude. Hier ist auch die musterhafte Biographie Dostojewskijs von Andreas Guski hervorzuheben. Gern weise ich auch noch einmal auf die gesammelte Prosa H. C. Artmanns und auf die gelungenen Neuübersetzungen der Bücher Raymond Queneaus durch Frank Heibert hin.

Andreas Guski: Dostojewskij

Ein einfacher Romancier, der nichts Seriöses geschrieben hat.

Isidor, Metropolit von Petersburg

Ich bin als Leser von Biographien nicht leicht zufriedenzustellen, aber von Zeit zu Zeit fällt einem dann doch einmal ein Buch in die Hand, das man mit einem bewundernden und zufriedenen Kopfnicken beendet. Andreas Guski ist es gelungen, eine nicht nur gut lesbare, sondern auch umfassende und ausgewogene Biografie des vielleicht komplexesten russischen Klassikers des 19. Jahrhunderts zu verfassen. Seine Deutungen der einzelnen Werke sind durch die Bank solide, frei von Jargon und auch für den interessierten Laien verständlich, ohne dabei auf die Darstellung ihrer inneren Widersprüche und komplexen ideologischen Verwerfungen zu verzichten. Auch die für den Biographen normalerweise eher heiklen Themen wie etwa Dostojewskijs Antisemitismus oder die ihm von seinen Gegnern unterstellte Neigung zur Pädophilie werden unaufgeregt und ohne apologetischen Aufwand besprochen. Natürlich hat man als quasi professioneller Leser der Literatur des 19. Jahrhunderts immer an der einen und anderen Stelle Einwände, aber sie betreffen in diesem Fall immer nur Nuancen und Halbtöne.

Dostojewskij, der in Deutschland in der Hauptsache mit seinen fünf bzw. sechs letzten Romanen zur Kenntnis genommen wird, ist einer der schwierigsten Fälle unter den bedeutenden Autoren des 19. Jahrhunderts: Einerseits ein in der Wolle gefärbter russischer Nationalist, fanatischer orthodoxer Christ, Gegner der Reformation, der Moderne, des Individualismus, des Materialismus und Kapitalismus, eng verbunden mit und zugleich abgestoßen von der Romantik Westeuropas, liefert er andererseits in seinen späten Romanen eine komplexe Aus­ein­an­der­set­zung ohne ideologische Scheuklappen mit gerade diesen Themen immer am Fall konkreter Personen unter ganz konkreten Umständen. Immer widmet er auch den Figuren, die nach seiner Auffassung das Böse, das Übel, das Verbrechen oder die Gefährdung der Moderne repräsentieren, die gleiche Sorgfalt, denselben oder gar mehr Raum und Gedanken als jenen Heiligen, die für den christlichen Heilsweg stehen, der wenigstens die Russen aus dem Chaos der Moderne führen soll. Und all das geschieht im Rahmen von Verbrechens- und Kriminal-Erzählungen, wie sie populistischer und massenwirksamer kaum je erdacht worden sind. Er war ein übler literarischer Verführer mit den besten und zugleich dümmsten denkbaren Ab- und Ansichten.

Hinzukommt sein zerrissenes, nomadisches, von Armut, Krankheit, Überschuldung und Ungerechtigkeit geprägtes Leben, seine Verfallenheit an das Roulette, von dem er immer wieder und gegen jede bessere Einsicht seine Rettung erhofft hat, sein Kampf mit dem Schreiben – Dostojewskij ist ein gutes Beispiel für die Behauptung Thomas Manns, ein Schriftsteller sei ein Mensch, dem das Schreiben besonders schwer falle –, die zum Teil herkulische Arbeitsleistung als Redakteur usw. usf. Erst sehr spät hat sich in seinem Leben ein förderliches Equilibrium ein­ge­stellt, noch später erfolgte seine Anerkennung als dritter Großer im Bunde zusammen mit Tolstoi und Turgenew. Als er dann im 20. Jahr­hun­dert in Russland ideologisch in Ungnade fiel, wurde er in Westeuropa erst richtig entdeckt, auch wenn er hier bis heute als schwierige Lektüre gilt.

Andreas Guski eröffnet mit seiner Biographie einen exzellenten Zugang zu Autor und Werk, den alle Interessierten und Neugierigen nutzen sollten.

Andreas Guski: Dostojewskij. Eine Biographie. München: C. H. Beck, 2018. Pappband, Lesebändchen, 460 Seiten. 28,– €.