George Orwell: 1984

106060847_82990d4948Zur Wiederlektüre nach über 20 Jahren bin ich auf etwas verschlungenem Weg gekommen: Als ich mir die die Verfilmung des »Merchant of Venice« durch Michael Radford anschaute und mich zu erinnern versuchte, ob ich schon jemals einen anderen Fim dieses Regisseurs gesehen hatte, stellte ich überrascht fest, dass er auch für die Verfilmung von »1984« verantwortlich war. Ich habe dann zuerst den Film nach 22 Jahren noch einmal angeschaut und dann, neugierig wie nah am Buch die Verfilmung wohl sein möchte (sie ist erstaunlich nah am Buch!), das ebenfalls 22 Jahre alte und noch ungelesene Taschenbuch mit der Übersetzung durch Michael Walter aus dem Regal gezogen. Ich hatte noch zu Schulzeiten die ältere Übersetzung von Kurt Wagenseil gelesen, dann im Jahr des Titels brav die neue Übersetzung gekauft, eingestellt und seitdem von Mal zu Mal mit umgezogen.

Weit besser hätt’ ich doch mein weniges verpraßt,
Als mit dem wenigen belastet hier zu schwitzen!
Was du ererbt von deinen Vätern hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.

Nun aber zum Buch: Wiedergefunden habe ich nicht, was ich erwartet hatte. Was sich im allgemeinen Bewusstsein festgesetzt und mit den Jahren auch meine frühere Lektüre überlagert hat, ist das Bild eines technisierten Überwachungsstaates. Überwachungsstaat mag gerade noch angehen, von Technisierung aber kann kaum die Rede sein. Überhaupt wird nur ein geringer Anteil der Bevölkerung – hauptsächlich die Mitglieder der »Äußeren Partei« – tatsächlich überwacht und auch bei denen ist der Grad der Kontrolle höchst unklar, was einen nicht unwesentlichen Anteil der von der Partei ausgeübten Macht darstellt.

Vorherrschend aber ist ganz etwas anderes: Not und Elend in einem immerwährenden Kriegszustand, nahezu kompletter Mangel an futuristischer Technik – einzig der »Sprechschreiber« geht wesentlich über den technischen Horizont der 1940er Jahre hinaus –, statt dessen krudeste ideologische und psychologische Methoden, deren Anwendung nicht nur in Bezug auf den Erfolg fraglich erscheinen müsste, sondern auch im fiktionalen Gefüge des Romans eigentlich keinen Platz hat. Wenn die Partei tatsächlich die Vergangenheit so perfekt beherrscht, wie es der Roman vorgibt, so braucht sie auch Märtyrerschaft nicht zu fürchten, da die »vaporisierten« Gedankenverbrecher ja niemals existiert haben. Sie könnte sich daher getrost den mit den Delinquenten betriebenen Aufwand, der dazu führen soll, sie zu linientreuen Genossen zu machen, bevor man sie beseitigt, sparen und die Festgenommenen ohne weiteres ins Jenseits befördern. Geständnisse und Schauprozesse, so man sie denn für die Propaganda benötigt, lassen sich sicherlich unaufwendiger produzieren. Auch bleibt der Versuch unverständlich, die Vergangeheit überhaupt beherrschen zu wollen und immer erneut umzuschreiben anstatt sie einfach auszulöschen. Warum werden denn gedruckte Nachrichten überhaupt noch produziert und ausgeliefert? Wem hat die Partei denn überhaupt etwas zu beweisen? »Doppeldenk« und »Televisor« lassen solchen Aufwand als unnötig erscheinen.

Einzig durch das implizite Menschenbild wird der dritte Teil des Romans interessant: Es existiert in Orwells Utopie kein letzter Zufluchtsort des Individuums in seiner Gedankenwelt, den die Macht nicht erreichen könnte, wenn sie es einmal darauf angelegt hat. Auch der letzte Widerstand des Einzelnen kann gebrochen werden, wenn es die Mächtigen tatsächlich darauf anlegen würden. Insoweit ist Winston Smith eine interessante Gegenfigur zu Kleists Michael Kohlhaas, der sich noch durch das Akzeptieren seines Todes dem Zugriff des Mächtigen entziehen kann.

Erstaunlich, aber dann auch wieder sehr verständlich ist, dass der Roman seine Bedeutung im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Welt so ganz verloren zu haben scheint. Das Gespenst des Überwachungsstaates scheint an Bedrohlichkeit eingebüßt zu haben oder seine Form hat sich inzwischen so verändert, dass Orwells Vision nicht mehr greift. Es steht zu befürchten, dass der Roman in den nächsten zehn Jahren gänzlich obsolet werden wird, falls er es nicht heute schon ist.

Aktuelle Ausgabe:
Orwell, George: 1984
Ullstein Taschenbuch. ISBN 3-548-23410-0
Paperback – 320 Seiten – 7,95 Eur[D]

P.S.: Im Anschluss habe ich auch noch einmal Anthony Burgess’ Essay über Orwells »1984« gelesen, der beispielhaft deutlich macht, wie sehr der Roman eine Extrapolation aus der unmittelbaren Lebenswelt Orwells zum Zeitpunkt der Niederschrift ist.

5 Gedanken zu „George Orwell: 1984“

  1. Also wollet Ihr damit sagen, es gibt nichts mehr in 1984, vor dem noch zu warnen wäre? Oder ist die Idee eines Gedankenverbrechens – so dünkt mir ja deine Argumentation – nicht mehr zur Gänze nachvollziehbar? So als ob es gerade das unrealistische am Roman von Orwell wäre, zu behaupten, es hätte einst Gedankenverbrecher gegeben, die „vaporisiert“ hätten werden müssen?

  2. Wer ist »ihr«? – Was ich meine, ist, dass »1984« als Allegorie der nationalsozialistischen und stalinistischen Diktaturen noch einigermaßen funktioniert, dass das Buch aber als Fiktion brüchig und als Utopie unwahrscheinlich ist. Absolute Systeme wie das des Orwellschen »1984« neigen dazu, historische Artefakte zu vernichten, nicht dazu, sie ständig neu zu erschaffen. Und ich habe mit Erstaunen festgestellt, dass die Warn-Utopie Orwells obsolet zu werden scheint. – Ich will also kaum etwas von dem sagen, was mir die Fragen des Kommentars nahelegen. Sorry!

  3. Hi bonaventura,

    es ist gut und richtig, Denkweisen und Thesen immer wieder neu zu hinterfragen. Man sollte jedoch darauf achten, manches nicht zu wörtlich zu nehmen. Selten treten dystopische „Voraussagen“ haargenau so ein, wie es der Auto vor 50 Jahren beschrieben hat. Natürlich kann der Autor nicht in die Zukunft sehen und beschreibt -mögliches- in einer wahrscheinlichen Zukunft aus einem -jetzigen- und zu der Zeit aktuellen Blickwinkel, Standpunkt und der allgemeinen Verhältnisse.

    Natürlich war Orwells Mahnung 1948 stark stalinistisch-phobisch geprägt, da das zu der Zeit als eine reale Bedrohung wahrgenommen wurde. Verständlich, dass sich Orwell nicht auf technologische Feinheiten und mögliche „Errungenschaften“ der Zukunft festgelegt hat. Ihm ging es um das gesellschaftlich-kulturelle und politische. Da das ganze keine düstere Sektenprophezeiung, keine Zeitungsartikel, kein Sachbuch sondern ein Roman werden sollte, liefern Einzelschicksale den roten Faden in der Geschichte.

    Was Orwell mit 1984 beschrieben hat, war früher eine Warnung und ist mitlerweile eine größtenteils umgesetzte Blaupause. einige Beispiele:

    – Kriegsministerien wurden in „Verteidigungsmnisterium“ umbenannt
    – Krieg mit wechselnden Feinden lenkt von innenpolitischen Problemen ab (Kalter Krieg, Koria, Vietnam, Irak, Afghanistan wieder Irak usw.)
    – Presse als Instrument politischer/gesellschaftlicher/monetärer Interessen deutet und bestimmt Wahrheit nach belieben, beeindruckend: bildblog.de
    – Oligopole Supermächte mit wechselnden Verbündeten: USA, Russland, China, EU
    – Guantanamo zur Läuterung/Geständigung („Du bist Terrorist“)
    – Eliten- und Unterschichtsbildung, aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich
    – absolute Überwachung (Vorratsdatenspeicherung, Echolon, heimliche Onlinedurchsuchung)
    – Zensur (Indizierung, Websperren)

    Dies sind nur einige wenige und reale Beispiele, die man jeder auch ohne an Verschwörungsfantasien leidende Bürger erkennen kann.

    Die Summe des ganzen ist das Ergebnis aus Brot & Spiele, Geschichtsneuschreibung, Verdummung der Masse und massive Druckausübung gegen Widerständler. Schau die China an und vergleiche deren Maßnahmen mit Deutschland und USA und du wirst überraschend viele Parallelen finden, nicht nur mit der von Orwell erdachten Welt.

    Viele sagen, wir haben bald ein 1984. Manche behaupten, wir sind schon viel weiter. Ich gehöre zu letzteren.

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