Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

Unerträglich, aber schön.

978-3-518-42177-2Eine der beeindruckendsten, intensivsten Lektüren der letzten Jahre! Schalanskys Roman ist motivisch höchst kompakt und die meisten ihrer Sätze von meisterhafter Ambiguität. Oft will man nicht einen Satz oder Absatz, sondern gleich die ganze Seite mit einem Ausrufezeichen versehen!

Erzählt wird etwa ein halbes Jahr aus dem Leben von Inge Lohmark (der Name erinnert nicht zufällig an Jean-Baptiste de Lamarck), einer 55-jährigen Lehrerin für Biologie und Sport an einem Gymnasium in einer kleinen, vorpommerschen Kreisstadt. Dem Charles-Darwin-Gymnasium steht die Schließung bevor, da keine ausreichende Anzahl von Schülern mehr vorhanden ist. Die von Inge Lohmark in Biologie unterrichtete 9. Klasse ist die letzte, die an dieser Schule Abitur machen wird. Inge Lohmark ist in der DDR aufgewachsen und ausgebildet worden und betrachtet die Gegend als ihre Heimat, die sie nicht verlassen will. Sie ist in zweiter Ehe verheiratet mit Wolfgang, einem ehemaligen Veterinär-Techniker, der sich erfolgreich mit einer Straußenzucht selbstständig gemacht hat. Sie hat eine Tochter, Claudia, 35 Jahre alt, die in den USA studiert hat und seitdem dort lebt. Claudia heiratet im Verlauf der Erzählung einen ihrer Mutter unbekannten Mann, wovon sie ihr nachträglich per E-Mail Nachricht gibt. Die Ehe der Lohmarks besteht nur noch pro forma; die Eheleute sehen sich kaum, reden noch weniger miteinander, und Inge Lohmark würde sich wohl von ihrem Mann trennen, wenn sie bereit wäre, darüber länger als zehn Sekunden nachzudenken. Inge Lohmark hatte vor unbestimmter Zeit eine Affäre, aus der eine Schwangerschaft resultierte; sie hat das Kind abgetrieben. Aber auch damit kann sie sich weder intellektuell noch emotional angemessen auseinandersetzen.

Inge Lohmarks Leben ist der Unterricht. Sie ist eine strenge und kaltherzige Lehrerin, die ihre Schüler mit wenigen Ausnahmen für Versager, Idioten und Faulpelze hält; und auch die wenigen Ausnahmen gehen ihr auf die Nerven. Lohmarks Denken und Handeln scheint gänzlich bestimmt von ihrer evolutionstheoretischen Ideologie: Das Leben ist ein Kampf, in dem man sich durchzusetzen hat oder zu Recht untergeht. Sie betrachtet Schüler als »natürliche Feinde«, glaubt nicht an Liebe (»ein scheinbar wasserdichtes Alibi für kranke Symbiosen«; »Mutterliebe, das war ein Hormon. Ein Mythos«), stattdessen an Dominanz und die Nützlichkeit von Überforderung. Sie ist eine Rassistin und hält AIDS für eine geniale Strategie der Natur, um mit den Homosexuellen aufzuräumen. Sie hält »die Wahrheit« für zumutbar. Ihre Welt ist aufgeteilt zwischen Gewinnern und Verlierern:

Ihr hatte er [Schulrektor Kattner] verbieten wollen, im Sport die Verlierer an die Tafel zu schreiben. Aber wer sonst sollte nach dem Unterricht die Matten und Geräte wegräumen?

Doch in diesem Panzer aus Ideologie und emotionaler Kälte gibt es Lücken: Lohmark ist an einer ihrer Schülerinnen, Erika, auffällig interessiert. Über Erika macht sie sich Gedanken, findet sie »schön«, überlegt, warum das stille Mädchen wohl so ist, wie es ist, betrachtet es beinahe als Individuum. Dieses Interesse gipfelt in einer der merkwürdigsten Passagen des Buches: Als der Schulbus auf der Stecke, die auch Lohmark morgens mit dem Auto zurücklegt, liegen bleibt, holt sie Erika an ihrer Haltestelle ab und nimmt sie mit zur Schule. Auf dem Weg hat Lohmark plötzlich eine Phantasie von Kindesentführung und sexuell getönter Gewalt, die für einen kurzen Moment wie in einem Schlaglicht ihre sonst unter Kontrolle gehaltene Emotionalität sichtbar werden lässt. Auch Lohmarks Kindheitserinnerungen und ihre Klage über die Abwesenheit ihrer Tochter machen deutlich, dass diese Figur bei weitem nicht so eindimensional unmenschlich ist, wie sie sich selbst gerne sehen möchte. Sie ist im Gegenteil eine tief verletzte Persönlichkeit, die zudem befürchtet, an ihren eigenen ideologischen Standards gemessen eine der Verliererinnen zu sein.

Ein stehendes Gewässer. Kein Zugang zum Meer. Brackwasser stinkt.

Die Handlung gipfelt schließlich darin, dass der Rektor der Schule Lohmark dafür verantwortlich macht, dass sie sich nicht um eine von ihren Mitschülern gemobbte Schülerin gekümmert hat. Der Rektor hat die Schülerin in der Toilette eingesperrt gefunden; Lohmark hatte ihr Fehlen nicht einmal bemerkt. Es ist wahrscheinlich, dass der Rektor diesen Vorfall dazu nutzen wird, Lohmark vorzeitig aus dem Lehrerkollegium zu entfernen.

»Das Klima in deiner Klasse ist total vergiftet. Ich hätte wissen müssen, dass du nicht die Richtige dafür bist. Stand ja alles in dem Bericht. Kreidelastiger Unterricht. Mangelhafte Sozialkompetenz. Verknöcherte Persönlichkeit. Aber ich hab gedacht, altes Eisen ist nun mal hart, hab mich sogar dafür eingesetzt, dass du doch noch bis zum Schluss hierbleiben kannst. Aber jetzt hört der Spaß auf. Das wird Konsequenzen haben.«

Die personal erzählte Geschichte wird auf weiten Strecken vom Gedankenstrom Inge Lohmarks getragen. Es ist kein kleines Kunststück, eine solch unsympathische und jegliche Identifikation des Lesers abweisende Figur dominierend ins Zentrum eines Romans zu stellen, ohne sie zur Karikatur oder Parodie verkommen zu lassen. Inge Lohmark wird bei den meisten Lesern Widerwillen und Verachtung hervorrufen, hoffentlich aber auch ein wenig Mitleid mit ihr, denn sie hat es nicht verdient, so behandelt zu werden, wie sich sich selbst und ihre Mitmenschen behandelt. Niemand hat das verdient. »Der Hals der Giraffe« ist ein sehr präzises und zugleich erzählerisch schlankes Porträt eines ungeliebten, verbitterten Menschen. Mich hat es in jedem einzelnen Satz überzeugt, was ich von wenigen Büchern zu sagen vermag. In ihrer Intensität und Konsequenz kann ich Schalanskys Prosa auf Anhieb nur der von Thomas Bernhard vergleichen. Und das ist eines der größten Komplimente für einen Schriftsteller, das ich machen kann.

Bleibt zu ergänzen, dass das Buch auch in Typographie und Ausstattung aus der gewöhnlichen Ware heraussticht: ein sorgfältiger und ausgewogener Schriftsatz (von der Autorin selbst erstellt), lebende Kolumnentitel, zahlreiche, wundervolle Illustrationen, Fadenheftung und ein bedruckter Leineneinband. Da kann ich nur einmal mehr Lichtenberg zitieren :

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Berlin: Suhrkamp, 2011. Bedrucktes Leinen, Fadenheftung, 222 Seiten. 21,90 €.

12 Gedanken zu „Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe“

  1. Vielen Dank für diese Empfehlung, bin in der Folge gleich zum Buchhändler… Und nach der Lektüre des Buches: Schalanskys intensiver Text entfaltet einen unglaublichen Sog, jeder einzelne Satz ist treffend, keiner überflüssig. Für mich das Beste, was ich seit einiger Zeit las.
    Ihre Rezension ist in allem so präzise und dem Buch entsprechend – im Gegensatz zur missverständlichen Vereinnahmung (Goetz: Famillje) durch eine FAZ-Rezensentin.

  2. Danke für die Rezension. Ich fand die Leseprobe sehr ansprechend und werde mir das Buch schnell vornehmen. Ich freu mich jetzt umso mehr auf die Lektüre.

  3. Pingback: ats20.de
  4. Ich finde die Rezension sehr gut und habe mir auch daraufhin das Buch gekauft. Bei der Lketüre ist mir dann allerdings aufgefallen, dass alle mir bekannten Rezensionen, auch Ihre, zu wenig oder gar nicht auf die Wahrnehmung der Welt durch Frau Lohmark eingehen. Sie sieht ihre Umwelt konsequent aus der Perspektive einer Biologin. Wie in der Natur gehen dann Beurteilungen wie gut und böse, gefühlskalt oder rassistisch fehl und treffen nicht den Kern der Weltsicht und Wahrnehmung. Ich habe immer darauf gewartet, dass jemand mal eine Geschichte anders, mit den heutigen Erkenntnissen der Wissenschaft erzählt und finde dies bei diesem Roman sehr gelungen. Durch diese wissenschaftliche Sichtweise sieht man viele Dinge anders und wird zumindest irritiert, was will man mehr von einem Roman erwarten?

  5. Nicht gleich beleidgt sein, aber ich hatte geschrieben, wenn die Wahrnehmung konsequent aus bilogischer Sicht erfolgt, sollte man nicht mit „streng“, „kaltherzig“, „Rassistin“ argumentieren. Gerade auch, wenn Sie schreiben, „..Lohmarks Denken und Handel scheint!!!!!…… gänzlich bestimmt zu sein.
    Ich hatte die Rezension doch sehr gelobt und finde sie gelungen, aber in dem Punkt, wie man die Figur der Lehrerin charakterisiert und bewertet, bin ich anderer Meinung. Was soll`s?

  6. Es ist ja nur scheinbar, wie sowohl an Lohmarks Beziehung zu ihrer Tochter als auch zu Erika deutlich wird. Und, wie auch erwähnt, Lohmark heißt nicht zufällig so ahnlich wie Lamarck: Ihre Ideologie wird von Anfang an als unzureichend markiert. Sie unterschätzen mit Ihrer Lektüre das Buch bei weitem.

  7. Ich hätte erwartet, dass Sie mir vorwerfen, den Roman zu überschätzen, statt dessen, ich unterschätzte den Roman. Lassen wir es dabei, sonst artet es noch in Rechthaberei aus.
    Nochmal, eine hervorragende Rezension, zu der ich mir erlaube, eine kleine abweichende Meinung zu haben.
    Ich freue mich schon auf die „Blumenberg“ Rezension. Ebenfalls ein sehr interessantes Buch.

Schreibe einen Kommentar zu bonaventura Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert