George Orwell: Farm der Tiere / 1984

George Orwell ist – zumindest in Deutschland – der Autor zweier Bücher oder vielleicht auch nur zweier Sätze: „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere“ und “Big Brother is Watching You”. Das zeigt sich nun einmal mehr, nachdem am 1. Januar seine Texte gemeinfrei geworden sind: Es sollen allein acht Neu-Übersetzungen von Nineteen Eighty-Four und fünf von Animal Farm erscheinen,* und das obwohl Michael Walters Übersetzungen aus den 80er Jahren sicherlich immer noch tadellos und lesbar sind. Orwell zeigt also zumindest noch wirtschaftliches Potenzial. Ob es über die üblichen Schlagworte hinaus noch eine Auseinandersetzungen mit ihm geben kann, wird sich zeigen müssen.

Farm der Tiere

Wurde er gefragt, ob er seit Jones’ Verschwinden nicht glücklicher sei, sagte er nur: «Esel haben ein langes Leben. Keiner von euch hat je einen toten Esel gesehen», und mit dieser kryptischen Antwort mussten sich die anderen begnügen.

Der Text wurde Ende 1943, Anfang 1944 geschrieben, aber Orwell hatte ein wenig Mühe, einen Verleger dafür zu finden. Orwell machte dafür in einem Essay, der der Erstausgabe als Vorwort beigegeben war und den Manesse zusammen mit Orwells Vorwort zur ukrainischen Übersetzung im Anhang dieser Neu-Übersetzung mitliefert, die freiwillige Selbstzensur der Verlage verantwortlich, die in Kriegszeiten keinen Text drucken wollten, der offensichtlich gegen einen wichtigen Verbündeten und seinen politischen Führer polemisiert. Das ist nicht unwahrscheinlich, bleibt aber natürlich letztendlich Spekulation. Es mag auch sein, dass den Verlegern die Allegorie zu offensichtlich oder auch zu platt gewesen ist.

Erzählt wird von einer Revolution auf der etwas heruntergekommenen „Herrenfarm“, auf der ein sterbender alter Eber die Tiere, insbesondere die anderen Schweine, für die Ungerechtigkeit ihrer Existenz sensibilisiert. Anlässlich eines eher beiläufigen Falls herrschaftlicher Gewalt des stets betrunkenen Farmers Jones entsteht ein Aufstand der Tiere, der zur Vertreibung der Menschen von der Farm führt. Die so befreiten Tiere bilden nach der Lehre des alten Ebers eine sozialistische Kommune, in der die Schweine aufgrund ihrer Intelligenz natürlicherweise die Führungsebene bilden. Die beiden anführenden Eber, Napoleon und Schneeball, leben eine Weile in Konkurrenz zueinander, bis Napoleon, der einen Wurf junger Hunde von den anderen Tieren isoliert und zu seiner Leibgarde ausgebildet hat, in einem Putsch die Macht übernimmt, Schneeball vertreibt und alle demokratischen Strukturen abschafft.

Unter der Diktatur Napoleons treten für die Tiere – außer den Schweinen und der Polizeitruppe der Hunde – bald ärgere Verhältnisse ein als zuvor: Mehr Arbeit – es muss nicht nur die übliche Arbeit erledigt werden, sondern zudem wird noch eine weitgehend sinnlose Windmühle errichtet – und wenigerer Futter, da man statt Jones, seiner Frau und seinen Knechten nun die Oberschicht der Schweine durchfüttern muss, die langsam – und das ist die Endpointe des Buches – immer mehr zu Menschen werden und von ihren Nachbarn nach und nach als Geschäftspartner akzeptiert und auch hofiert werden.

Alles in dieser Erzählung ist offenbar und vorhersehbar, aber es ist auch detailliert und intelligent umgesetzt: Die Katze als Individualistin, der Esel als zynischer Stoiker und der zahme Rabe als Vertreter des Klerus sind schön ausgespielt. Es war Orwells Absicht, seine Allegorie verständlich und durchsichtig zu gestalten:

Nach meiner Rückkehr aus Spanien wollte ich den Sowjetmythos in einer Geschichte entlarven, die jedermann ohne Weiteres verstehen und die unschwer in andere Sprachen übersetzt werden konnte. [S. 159]

Der bis heute anhaltende Erfolg des Buches beweist, wie gut ihm dies gelungen ist. Das Buch eignet sich durchaus nicht nur als Allegorie auf den Stalinismus, sondern kann als Beschreibung zahlreicher Diktaturen des 20. Jahrhunderts gelesen werden. Nur bleibt das „Märchen“ letztendlich fatalistisch; die politische Vision des Sozialisten Orwell kann und sollte auch nicht thematisiert werden. Auch das machte das Buch für ein großes, besserwisserisches Publikum der westlichen Hemisphäre attraktiv.

Die Übersetzung Blumenbachs ist, wie zu erwarten, tadellos und eingängig; auf einen detaillierten Vergleich mit dem Original oder den beiden älteren Übersetzungen habe ich verzichtet.

George Orwell: Farm der Tiere. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Zürich: Manesse, 2021. Pappband, Lesebändchen, 190 Seiten. 18,– €.

1984

Die Sache konnte unmöglich glücklich enden; so etwas geschah im wirklichen Leben nicht.

Nur vier Jahre nach dem Erscheinen von Farm der Tiere und dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgte Orwells nächste Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus. Diesmal richtet sich der Text nicht nur gegen Stalinismus oder Nationalsozialismus, sondern gegen das System des staatlichen Totalitarismus schlechthin. Zu diesem Zweck entwickelte Orwell die Utopie des absoluten Machtstaates Ozeanien, der sich im Jahr 1984 seit 25 Jahren als eine von drei verbliebenen Supermächten in einem endlosen Krieg befindet. Der Staat wird beherrscht von einer namenlosen Partei, an deren Spitze wiederum der wahrscheinlich fiktive Große Bruder steht, eine absolute Führerfigur, zu der die Mehrheit der Parteigenossen bewundernd aufblickt.

Die Gesellschaft Ozeaniens ist ein Drei-Klassen-System, in dem die Arbeiterschicht – genannt Prolos – 85 % der Bevölkerung ausmachen; sie sind als Individuen vollständig bedeutungslos und dienen nur als Quelle von Arbeitskraft und Reservoir von Soldaten. Die restlichen 15 % bilden Die Partei: Mehr als 13 % gehören zur Äußeren Partei, die die alte Verwaltung abgelöst hat. Die Mitglieder der Äußeren Partei stehen potenziell unter ständiger Überwachung, die sowohl technisch als auch durch gegenseitige Bespitzelung und Indoktrination ihrer Kinder realisiert wird. Die Verwaltung ist in vier riesigen Ministerien organisiert, die als Ministerien der Wahrheit (Propaganda), des Friedens (Krieg), der Liebe (Hass, eigentlich die Geheimpolizei) und Fülle (Produktion) das Stadtbild Londons beherrschen. Die verbleibenden weniger als 2 % (immerhin noch sechs Millionen Menschen) bilden die Innere Partei, die staatliche Führung Ozeaniens im engeren Sinne. Sie leben in Luxus und Reichtum, und ihre Überwachung scheint zwar vorhanden zu sein, ist aber weniger rigoros als die der Äußeren Partei. Es gibt in Ozeanien nicht viele Informationen über die Gesellschaften der beiden anderen Großmächte Eurasien und Ostasien, aber es darf vermutet werden, dass in ihnen ganz ähnliche Verhältnisse herrschen.

Die wirtschaftliche Situation ist durch den permanenten Kriegszustand bestimmt. Die Prolos und, wenn auch in geringerem Maße, die Mitglieder der Äußeren Partei leben in ständigem Mangel. Die Ernährung ist schlecht und von Ersatzstoffen geprägt. Genussmittel existieren zwar für die Mitglieder der Äußeren Partei: Sie haben etwa Gin, Zigaretten und Schokolade, aber von so schlechter Qualität, dass selbst ihr dauerhafter Genuss keine vollständige Gewöhnung herbeiführt. Die ständige Reduzierung der Rationen wird begleitet von einer Propaganda, die deren Erhöhung und überhaupt eine kontinuierliche Steigerung der Lebensqualität verkündet. Es wird von Parteimitgliedern erwartet, dass sie diesen offensichtlichen Widerspruch ignorieren bzw. als positive gegenseitige Verstärkung begreifen können. Ob sich Ozeanien tatsächlich im Krieg befindet, ist zumindest ungewiss. Da die Partei sämtliche Nachrichtenkanäle beherrscht, ist es für ein einfaches Parteimitglied nicht möglich, die Nachrichten über den Krieg zu prüfen. Sicher aber scheint zu sein, dass niemand in der Staatsführung daran interessiert ist, den permanenten Kriegszustand zu beenden.

Konkret erzählt wird die Geschichte des Parteigenossen Winston Smith, der im Ministerium der Wahrheit an der beständigen Umarbeitung der Vergangenheit mitarbeitet. Die Aufgabe seiner Abteilung ist es, die Archive jeweils an den aktuellen Stand der Wirklichkeit anzupassen, wie sie von der Inneren Partei definiert wird. So müssen in alten Zeitungen etwa Statistiken gefälscht werden, um ehemalige Voraussagen an die aktuelle Produktion anzupassen und so die real nicht existierende Überproduktion zu beweisen. Allerdings ist es wahrscheinlich so, dass auch die aktuellen Zahlen keiner Realität entsprechen, was den betriebenen Aufwand ein wenig merkwürdig erscheinen lässt. Auch müssen die Biographien von Personen, die in politische Ungnade gefallen sind oder die ermordet wurden, aus den Archiven getilgt und die entsprechenden Passagen mit anderem Material aufgefüllt werden. Wozu diese Arbeit letztlich dient, wer also mit den gefälschten Archiven getäuscht werden soll, bleibt im gesamten Roman undeutlich. In anderen Abteilung des Ministeriums der Wahrheit werden Romane produziert, die weitgehend maschinell strukturiert und geschrieben werden. Andere wiederum arbeiten an der Ausgestaltung der Parteisprache Neusprech, die irgendwann die Alltagssprache ablösen und das Formulieren ketzerischer Gedanken unmöglich machen soll. (Bertrand Russells Konzept der Idealsprache lässt grüßen.)

Trotz seiner Zugehörigkeit zur Äußeren Partei ist Winston Smith ein heimlicher Ketzer. Er ist der Überzeugung, dass der Lebensstandard in seiner Kindheit – Winston ist 1944 oder 1945 geboren – höher gewesen sei, er glaubt zu wissen, dass das Essen früher besser war, er kann sich an den Geruch von echtem Kaffee erinnern und was der Dinge mehr sind. Außerdem weigert sich sein Gehirn, einander widersprechende Tatsachen einfach zu vergessen, also etwa dass vor wenigen Tagen die Ration an Schokolade gekürzt wurde, während jetzt die Nachricht ausgegeben wird, sie sei erhöht worden. Sein ketzerischster Gedanke aber ist, dass er sich erinnert, dass vier Jahre zuvor Eurasien der Kriegsgegner Ozeaniens war, während die Partei nicht nur behauptet, der Gegner sei Ostasien, sondern es sei auch immer schon Ostasien gewesen.

Der erste der drei Teile des Romans liefert eine Beschreibung der Ozeanischen Gesellschaft und des inneren Widerstandes Winstons. Gleich auf den ersten Seiten des Romans beginnt er, ein Tagebuch zu führen, was allein ein todeswürdiges Verbrechen darstellt. Nicht, dass es verboten wäre, das zu tun; es ist überhaupt nichts wirklich verboten, da es keine geschriebenen Gesetze mehr gibt. Zugespitzt wird Winstons Lage dadurch, dass sich ihm eine junge Frau aufdrängt, die auch im Ministerium für Wahrheit arbeitet. Beide treffen sich, haben Sex – für Genossen geächtet von der Partei, weil sie keine emotionale Bindung zu jemand anderem als dem Großen Bruder erlaubt –, richten sich ein geheimes Liebesnest ein und schließen sich auch noch der wahrscheinlich ebenfalls fiktiven Widerstandsbewegung des Staatsfeindes Emmanuel Goldstein an. Mit ihrer Verhaftung durch die Gedankenpolizei endet der zweite Teil des Romans. Der dritte beschreibt Winstons Umerziehung im Ministerium der Liebe. Die Partei legt großen Wert darauf, Winston von seinem Wahn zu heilen, dass er eine Realität wahrnimmt und erinnert, die den Aussagen der Partei widerspricht. Erst wenn das gelingt, ist Winston reif für seine Exekution.

Der Roman ist außergewöhnlich reich an Erfindungen und ideologischen Konzepten, ist überaus sorgfältig konstruiert, führt eine große Menge präziser Einzelheiten der erfundenen Welt vor, ist psychologisch glaubhaft und nimmt sowohl seinen Figuren als auch seinen Lesern jegliche Hoffnung, dass ein solcher Staat jemals zu besiegen wäre. Wie schon an anderer Stelle gesagt, ist Orwell so konsequent, dass er seinem Protagonisten jeden äußeren oder inneren Fluchtort verweigert. Orwells totalitärer Staat ist tatsächlich total. Dabei betreibt Orwell für die ideologische Seite seiner Fiktion einen ungewöhnlich hohen Aufwand. Ein nicht unerheblicher Abschnitt des zweiten Teils wird mit langen Zitaten aus einer theoretischen Analyse des Systems der Partei gefüllt, die einem Handbuch für den absoluten Staat entnommen sein könnte. Er fügt außerdem einen Anhang hinzu – wahrscheinlich der ungelesenste Teil des Romans –, der die Idee der Parteisprache Neusprech erläutert. All das macht klar, um welche Genauigkeit sich Orwell bemüht hat. Es ist, als solle diese Präzision im Detail der Beliebigkeit der Welt, die die Partei als Wirklichkeit erzeugt, gegenüberstehen.

Es ist nicht ohne Ironie, dass dieser Roman auf breiter Front als Beschreibung eines Überwachungsstaates gelesen wurde und wird. Die Überwachung betrifft bei Orwell überhaupt nur einen kleinen Teil der Bevölkerung und ist dort alles andere als absolut. Viel wichtiger als die tatsächliche Überwachung der Parteimitglieder ist die Drohung, jederzeit beobachtet werden zu können; sie vernichtet jegliches Privatleben eines Parteigenossen. In der Effektivität ihrer Überwachung sind die realen Staaten des 21. Jahrhunderts Ozeanien so weit voraus, dass Orwell wahrscheinlich staunend vor dem Phänomen stünde, dass sich in ihnen überhaupt noch irgendwer als frei empfinden kann. Andererseits ist der permanente Kriegszustand der alle anderen überwältigende Aspekt der Orwellschen Dystopie. Er dient nicht nur der Kontrolle der Bevölkerung, sondern auch dazu, sie in Armut und damit in Unwissenheit – „Unwissen ist Stärke“ ist eines der drei zentralen Schlagworte der Partei – zu halten, indem er die Überproduktion an Konsumgütern, die aufgrund des Einsatzes von Maschinen existiert, im Aufwand des Krieges vernichtet. Dabei ist es, wie Julia scharfsinnig feststellt, völlig unerheblich, ob sich Ozeanien tatsächlich im Krieg befindet oder ob es den Krieg nur inszeniert, indem es seine Raketen auf die eigene Bevölkerung abschießt.

Es mag an der Zeit sein, Orwell historisch zu lesen, um vor dieser Folie zu begreifen, wie sich Machtergreifung und -erhaltung im 21. Jahrhundert entwickelt haben, gerade jetzt, wo ein Elefant im Porzellanladen der Macht gegen seinen Willen und unter Umsturzdrohungen von der Bühne abtreten muss. Dem Totalitarismus orwellscher Ausprägung sind wir anscheinend entgangen, aber wohl um den Preis, dass die Strukturen der Macht heute subtiler geworden sind, als es für Freiheit und Würde der Menschen gut ist.

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Gisbert Haefs. Zürich: Manesse, 2021. Pappband, Lesebändchen, 446 Seiten. 22,– €.


* Ich habe Ankündigungen gefunden von: Anaconda (beide Titel), dtv (beide), Fischer, Insel, Manesse (beide), Nikol (beide), Reclam (beide) und Rowohlt. Hinzukommen zwei Bearbeitungen von 1984 als Graphic Novel (Knesebeck und Splitter) und noch einige originalsprachliche Ausgaben.

Allen Lesern ins Stammbuch (70)

Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. – Man sucht den Wert des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie so schnell er darf von sich abzuschütteln. Das Lesen der Klassiker – das gibt jeder Gebildete zu – ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Prozedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehltau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Wert, der gewöhnlich verkannt wird – daß diese Lehrer die abstrakte Sprache der höhern Kultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; daß Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr Intellekt zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformiert. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraktion als reines Naturkind herauszukommen.

Friedrich Nietzsche
Menschliches, Allzumenschliches

Aus meinem Poesiealbum (XVIII) – Bildung

Die ganze Welt ist voll gelahrter Männer, hochbelesener Lehrer, voll reichbegabter Büchersäl, und dünket mich daß eine solche Bequemlichkeit der Studien wie man itzo siehet, weder zu Plato noch Cicero Zeiten, noch Papiniani gewesen sey. Und wird sich künftig in Gesellschaft gar keiner mehr herfürtraun dürfen, der nicht in der Minerva Werkstatt recht aus dem Grund poliret ist. Ich seh, es sind die Strassenräuber, Stallbuben, Waghäls und Henkersknecht itzund gescheiter als die Doctoren und Prediger zu meiner Zeit.

François Rabelais
Gargantua und Pantagruel

Thomas Mann: Der Zauberberg

»Siehst Du wohl,« sagte Hans Castorp später zu seinem Vetter, »siehst Du wohl, daß es in der Literatur auf die schönen Worte ankommt? Ich habe es gleich gemerkt.«

mann-zauberbergZuletzt habe ich den »Zauberberg« mit großer Begeisterung 1986 während des Studiums gelesen. Während ich zur gleichen Zeit den Glauben an Thomas Mann als bedeutendem deutschen Intellektuellen endgültig durch die Lektüre der »Betrachtungen eines Unpolitischen« verloren habe, hat dieser Roman die Überzeugung verfestigt, dass er einer der besten deutschsprachigen Erzähler war. In den Jahren dazwischen habe ich immer wieder einmal versucht, Mann zu lesen, bin aber damit nie recht fertig geworden: Im »Doktor Faustus« war mir bei der Zweitlektüre der Erzähler nur schwer erträglich, um »Lotte im Weimar« recht zu goutieren verstand ich wohl noch zu wenig von Goethe – da hat sich erst die dritte Lektüre als vergnüglich erwiesen –, der »Joseph« war eindeutig zu geschwätzig für den in weiten Teilen unerheblichen Stoff und an den »Zauberberg« wollte ich dann nicht noch einmal heran, aus Furcht, ihn mir zu verderben. Erst mit dem Erscheinen der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe stellte sich die Lust wieder ein, es erneut zu versuchen.

Erzählt wird bekanntlich die Geschichte des jungen Hamburger Ingenieurs Hans Castorp, der auf drei Wochen nach Davos reist, um seinen kranken Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Im internationalen Kurhotel Berghof angekommen, verliebt er sich in eine wenige Jahre ältere Russin, Clawdia Chauchat, deren Augen ihn an eine alte, homoerotische Liebe aus seiner Schulzeit erinnern. So ist er mehr als glücklich als der Chefarzt Dr. Behrens auch bei ihm eine Lungenerkrankung diagnostiziert, die ihn zwingt, seinen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Dies motiviert seinen letztlich siebenjährigen Aufenthalt auf dem Berghof, der unter der Hand zu einem Bildungsgang gerät. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs spült Castorp zusammen mit vielen anderen Insassen des Hotels wieder ins Flachland, wo der Erzähler seine Spur im Schlachtgetümmel verliert.

Was mich bei der ersten Begegnung mit diesem umfangreichen Buch fasziniert hat, war der Eindruck der erstaunlich ausgewogenen zeitlichen Beherrschtheit des Textes: Die Beschleunigung des Erzähltempos von der ausführlichen Schilderung der ersten Tage, Wochen und Monate bis zu dem unmerklichen Verfließen ganzer Jahre am Ende erschien mir so mühe- und bruchlos gestaltet, dass dieser Eindruck damals beinahe jede andere Wahrnehmung überlagerte. Dies hat sich bei der erneuten Lektüre nicht wieder im gleichen Maße eingestellt. Besonders im letzten Drittel empfand ich dieses Mal manche Passage als überdehnt und manches Motiv als zu breit ausgewalzt. So etwa die Auseinandersetzungen zwischen den beiden um die Menschwerdung Castorps ringenden Dämonen Settembrini und Naphtha, die Parodie auf die Mode der Geisterbeschwörung, die sich zugleich über die Psychoanalyse lustig macht, die Ausführungen zur Musik – das alles könnte auch kürzer und konziser gefasst werden und enthält viel Geschwätz, das einfach nur der Verarbeitung von eben angefallenem Stoff dient und weniger einer tatsächlichen Notwendigkeit des Erzählens entspringt.

Das ist aber nur die eine Seite; auf der anderen muss ich sagen, dass ich das Buch durchaus wieder mit großem Vergnügen gelesen habe. Wem es gelingt, den Text insgesamt als ein Spiel mit Motiven, Strömungen und Tendenzen seiner Zeit wahrzunehmen, der kann all dem mit vergnügter Distanz folgen. Das Verweben sowohl einer Bildungsroman- als auch einer Liebesroman-Parodie, die einander zudem auch noch erzählerisch bedingen, ist sehr fein und ungezwungen ausgeführt. Und nicht zuletzt habe ich auch den Genuss an Manns sprachlichem Manierismus wieder gefunden, der mir zwischenzeitlich verloren gegangen war. Natürlich kann es auch leicht geschehen, dass einem die letztlich gänzlich substanzlose Haltung des Erzählers auf die Nerven geht, aber mir ist es wenigstens diesmal gelungen, dass das Vergnügen an der Lektüre weit überwogen hat. Ich bin gespannt, wie meine Lesegeschichte mit Thomas Mann weitergehen wird …

Thomas Mann: Der Zauberberg. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2002. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1103 Seiten. 42,– €. Zusammen mit dem umfangreichen Kommentarband: 84,– €. Der Text der GkFA erscheint im April 2012 erstmals auch im Taschenbuch.

P. S.: Vielleicht doch noch ein paar Worte zum Kommentarband: Mit gut 520 Seiten ist er fast halb so umfangreich wie der Text des Romans. Neben soliden Kapiteln zur Entstehung und Rezeption enthält er einen umfangreichen Einzelstellenkommentar, der in der Hauptsache den ungeheuer umfangreichen stofflichen Resonanzraum des Romans deutlich macht. Hier lassen sich schöne Funde machen, und es wird deutlich, was für ein außergewöhnlicher Organisator großer Stoffmengen Thomas Mann gewesen ist. Für die genießende Lektüre ist der Kommentar durchaus nicht notwendig, aber er hilft sehr beim Entdecken der hinter dem Gobelin verlaufenden Fäden.

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

Unerträglich, aber schön.

978-3-518-42177-2Eine der beeindruckendsten, intensivsten Lektüren der letzten Jahre! Schalanskys Roman ist motivisch höchst kompakt und die meisten ihrer Sätze von meisterhafter Ambiguität. Oft will man nicht einen Satz oder Absatz, sondern gleich die ganze Seite mit einem Ausrufezeichen versehen!

Erzählt wird etwa ein halbes Jahr aus dem Leben von Inge Lohmark (der Name erinnert nicht zufällig an Jean-Baptiste de Lamarck), einer 55-jährigen Lehrerin für Biologie und Sport an einem Gymnasium in einer kleinen, vorpommerschen Kreisstadt. Dem Charles-Darwin-Gymnasium steht die Schließung bevor, da keine ausreichende Anzahl von Schülern mehr vorhanden ist. Die von Inge Lohmark in Biologie unterrichtete 9. Klasse ist die letzte, die an dieser Schule Abitur machen wird. Inge Lohmark ist in der DDR aufgewachsen und ausgebildet worden und betrachtet die Gegend als ihre Heimat, die sie nicht verlassen will. Sie ist in zweiter Ehe verheiratet mit Wolfgang, einem ehemaligen Veterinär-Techniker, der sich erfolgreich mit einer Straußenzucht selbstständig gemacht hat. Sie hat eine Tochter, Claudia, 35 Jahre alt, die in den USA studiert hat und seitdem dort lebt. Claudia heiratet im Verlauf der Erzählung einen ihrer Mutter unbekannten Mann, wovon sie ihr nachträglich per E-Mail Nachricht gibt. Die Ehe der Lohmarks besteht nur noch pro forma; die Eheleute sehen sich kaum, reden noch weniger miteinander, und Inge Lohmark würde sich wohl von ihrem Mann trennen, wenn sie bereit wäre, darüber länger als zehn Sekunden nachzudenken. Inge Lohmark hatte vor unbestimmter Zeit eine Affäre, aus der eine Schwangerschaft resultierte; sie hat das Kind abgetrieben. Aber auch damit kann sie sich weder intellektuell noch emotional angemessen auseinandersetzen.

Inge Lohmarks Leben ist der Unterricht. Sie ist eine strenge und kaltherzige Lehrerin, die ihre Schüler mit wenigen Ausnahmen für Versager, Idioten und Faulpelze hält; und auch die wenigen Ausnahmen gehen ihr auf die Nerven. Lohmarks Denken und Handeln scheint gänzlich bestimmt von ihrer evolutionstheoretischen Ideologie: Das Leben ist ein Kampf, in dem man sich durchzusetzen hat oder zu Recht untergeht. Sie betrachtet Schüler als »natürliche Feinde«, glaubt nicht an Liebe (»ein scheinbar wasserdichtes Alibi für kranke Symbiosen«; »Mutterliebe, das war ein Hormon. Ein Mythos«), stattdessen an Dominanz und die Nützlichkeit von Überforderung. Sie ist eine Rassistin und hält AIDS für eine geniale Strategie der Natur, um mit den Homosexuellen aufzuräumen. Sie hält »die Wahrheit« für zumutbar. Ihre Welt ist aufgeteilt zwischen Gewinnern und Verlierern:

Ihr hatte er [Schulrektor Kattner] verbieten wollen, im Sport die Verlierer an die Tafel zu schreiben. Aber wer sonst sollte nach dem Unterricht die Matten und Geräte wegräumen?

Doch in diesem Panzer aus Ideologie und emotionaler Kälte gibt es Lücken: Lohmark ist an einer ihrer Schülerinnen, Erika, auffällig interessiert. Über Erika macht sie sich Gedanken, findet sie »schön«, überlegt, warum das stille Mädchen wohl so ist, wie es ist, betrachtet es beinahe als Individuum. Dieses Interesse gipfelt in einer der merkwürdigsten Passagen des Buches: Als der Schulbus auf der Stecke, die auch Lohmark morgens mit dem Auto zurücklegt, liegen bleibt, holt sie Erika an ihrer Haltestelle ab und nimmt sie mit zur Schule. Auf dem Weg hat Lohmark plötzlich eine Phantasie von Kindesentführung und sexuell getönter Gewalt, die für einen kurzen Moment wie in einem Schlaglicht ihre sonst unter Kontrolle gehaltene Emotionalität sichtbar werden lässt. Auch Lohmarks Kindheitserinnerungen und ihre Klage über die Abwesenheit ihrer Tochter machen deutlich, dass diese Figur bei weitem nicht so eindimensional unmenschlich ist, wie sie sich selbst gerne sehen möchte. Sie ist im Gegenteil eine tief verletzte Persönlichkeit, die zudem befürchtet, an ihren eigenen ideologischen Standards gemessen eine der Verliererinnen zu sein.

Ein stehendes Gewässer. Kein Zugang zum Meer. Brackwasser stinkt.

Die Handlung gipfelt schließlich darin, dass der Rektor der Schule Lohmark dafür verantwortlich macht, dass sie sich nicht um eine von ihren Mitschülern gemobbte Schülerin gekümmert hat. Der Rektor hat die Schülerin in der Toilette eingesperrt gefunden; Lohmark hatte ihr Fehlen nicht einmal bemerkt. Es ist wahrscheinlich, dass der Rektor diesen Vorfall dazu nutzen wird, Lohmark vorzeitig aus dem Lehrerkollegium zu entfernen.

»Das Klima in deiner Klasse ist total vergiftet. Ich hätte wissen müssen, dass du nicht die Richtige dafür bist. Stand ja alles in dem Bericht. Kreidelastiger Unterricht. Mangelhafte Sozialkompetenz. Verknöcherte Persönlichkeit. Aber ich hab gedacht, altes Eisen ist nun mal hart, hab mich sogar dafür eingesetzt, dass du doch noch bis zum Schluss hierbleiben kannst. Aber jetzt hört der Spaß auf. Das wird Konsequenzen haben.«

Die personal erzählte Geschichte wird auf weiten Strecken vom Gedankenstrom Inge Lohmarks getragen. Es ist kein kleines Kunststück, eine solch unsympathische und jegliche Identifikation des Lesers abweisende Figur dominierend ins Zentrum eines Romans zu stellen, ohne sie zur Karikatur oder Parodie verkommen zu lassen. Inge Lohmark wird bei den meisten Lesern Widerwillen und Verachtung hervorrufen, hoffentlich aber auch ein wenig Mitleid mit ihr, denn sie hat es nicht verdient, so behandelt zu werden, wie sich sich selbst und ihre Mitmenschen behandelt. Niemand hat das verdient. »Der Hals der Giraffe« ist ein sehr präzises und zugleich erzählerisch schlankes Porträt eines ungeliebten, verbitterten Menschen. Mich hat es in jedem einzelnen Satz überzeugt, was ich von wenigen Büchern zu sagen vermag. In ihrer Intensität und Konsequenz kann ich Schalanskys Prosa auf Anhieb nur der von Thomas Bernhard vergleichen. Und das ist eines der größten Komplimente für einen Schriftsteller, das ich machen kann.

Bleibt zu ergänzen, dass das Buch auch in Typographie und Ausstattung aus der gewöhnlichen Ware heraussticht: ein sorgfältiger und ausgewogener Schriftsatz (von der Autorin selbst erstellt), lebende Kolumnentitel, zahlreiche, wundervolle Illustrationen, Fadenheftung und ein bedruckter Leineneinband. Da kann ich nur einmal mehr Lichtenberg zitieren :

Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman. Berlin: Suhrkamp, 2011. Bedrucktes Leinen, Fadenheftung, 222 Seiten. 21,90 €.

David Gilmour: Unser allerbestes Jahr

978-3-10-027819-7Eine ungewöhnliche Vater-Sohn-Geschichte, in lakonischem Ton erzählt. Es handelt sich um eine autobiographische Erzählung eines kanadischen Autors, dessen heranwachsender Sohn sich so sehr mit der Schule quält, dass er ihm anbietet, er müsse nicht mehr dorthin gehen, falls er bereit sei, sich zum Ausgleich pro Woche drei Filme zusammen mit dem Vater anzusehen. Der Vater hat eine Filmhochschule besucht, was verständlich macht, dass er das Anschauen von Filmen für ein alternatives Erziehungsprogramm hält. Das Buch heißt denn auch im Original »The Film Club«, was dem deutschen Verlag wahrscheinlich ein zu männlicher Titel war, weshalb er ihm den nicht nur belanglosen, sondern auch noch sachlich falschen deutschen Titel verpasste: Das Buch beschreibt nämlich drei Jahre dieses Vater-Sohn-Experiments und nicht nur eines.

Abgesehen davon ist das Buch eine nette Unterhaltungslektüre, von deren cineastischer Ebene man allerdings nicht zu viel erwarten sollte. Die Filmauswahl selbst ist gut, wenn auch in weiten Teilen dem Mainstream folgend und nur hier und da für echte Tipps gut. Die Besprechung der Filme durch Vater und Sohn hat ja nach Film recht unterschiedliches Gewicht, doch nichtsdestotrotz bekommt der Junge eine solide Einführung ins kritische Anschauen von Filmen. Und zumindest ich kann niemandem böse sein, der »Ishtar« schätzt. Ansonsten erfahren wir auch viel über die ersten Liebesbeziehungen des Sohnes, bei denen der Vater den Sohn zu stützen versucht, wo er kann; dann auch ein wenig über die erste und zweite Ehe des Vaters (der Sohn stammt aus der ersten Ehe), dessen Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, von Abenteuern auf Kuba und der frühen Gesangskarriere des Sohnes. Alles in allem muss man wohl sagen, dass es sich bei David Gilmour um einen außergewöhnlich coolen Vater handelt.

Ein entspanntes Buch, dessen Hauptforce darin besteht, wenig Aufhebens von sich zu machen. Es wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2010 nominiert.

David Gilmour: Unser allerbeste Jahr. Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2009. Pappband, Lesebändchen, 254 Seiten. 18,95 €.