Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian

Alle lügen sie, Alle, nach ihrer Art! Ich auch! aber nicht so dumm wie die Anderen alle!

Mit diesem Buch beginnt der Wallstein-Verlag eine neue, kritische Wilhelm-Raabe-Ausgabe, ein weiteres erstaunliches Unternehmen dieses Verlages, denn die Präsenz Raabes in unserer föjetonistischen Kultur dürfte mit „eher dürftig“ noch sehr freundlich beschrieben sein. Angekündigt ist für den kommenden Februar noch der Band „Der Lar“ (1889); wie sich die Sache danach entwickeln wird, müssen wir abwarten und hängt sicherlich auch davon ab, wie erfolgreich der Einstieg gerät. Ein Editionsplan ist wenigstens im Moment auf der Webseite des Verlages noch nicht zu finden.

„Fabian und Sebastian“ stammt vom Anfang der 1880er-Jahre und war keiner der großen Erfolge Raabes, der von seiner Schriftstellerei lebte und daher auf den Zuspruch des Lesepublikums angewiesen war. Erzählt wird die Geschichte dreier Brüder, von den allerdings der jüngste, Lorenz, zu Beginn der Erzählung gerade auf Sumatra im nierderländischen Militärdienst verstorben ist und eine nun verwaiste, 15-jährige Tochter hinterlassen hat, die gerade auf dem Weg nach Europa ist, um bei ihren Onkeln zu leben. Fabian und Sebastian sind Besitzer einer erfolgreichen Konfitüren- und Schokoladenfabrik, wobei Sebastian der Geschäftsführer ist, während sich Fabian um die künstlerische Gestaltung der Ware kümmert. Beide Brüder sind unverheiratet und wohnen auf dem Fabrikgelände, aber in getrennten Wohnung und haben wenig Kontakt miteinander. Sebastian möchte seine neue Nichte Constanze in einer Pension für jungen Mädchen unterbringen, nicht nur, um sie aus dem Haus zu haben, sondern auch um das Problem der Erziehung des Mädchens auf einfachem Weg zu lösen. Fabian dagegen hat zusammen mit seinem philosophischen Faktotum Knövenagel bereits ein Zimmer für sie eingerichtet und reist nach Marseille, um Constanze dort vom Schiff abzuholen.

Nach der Rückkehr in die Heimatstadt passiert erstaunlich wenig: Weder wird die Beziehung zwischen den beiden Brüdern enger, noch erweitert sich das doch sehr beschränkte soziale Umfeld Fabians durch Constanzes Einfluss. Das Mädchen lebt in der Stadt im eingezogenen Zirkel Fabians; als Gegenwelt dient das ländliche Schielau, in dem Constanze einige glückliche Sommerwochen bei dem mit Fabian eng befreundeten Amtmann und seiner Frau durchlebt. Fabian selbst gerät durch die Ankunft des Mädchens in eine künstlerische Krise, die sich auf die saisonale Vorbereitung der Schokoladenfabrikation für das nächste Weihnachtsgeschäft auswirkt.

Ebenso gerät Sebastian in eine zuerst eher unbestimmtere psychische Krise, die offensichtlich mit der unterdrückten Vorgeschichte der drei Brüder zu tun hat, die von Beginn an in Andeutungen die Erzählungen durchwirkt. Ich will hier nicht zu viel verraten, aber auch in dieser Vorgeschichte gibt es eine Tochter, die auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, weshalb ihre Mutter seit beinahe zwanzig Jahren im städtischen Gefängnis sitzt. Diese Geschichte tritt erst peu à peu zutage, so wie sie in immer neuen Teilen Constanze erzählt wird.

Den Abschluss der Erzählung bildet eine bitter-süße Auflösung der Spannungen, die zwischen den Brüdern und dem anderen, unterdrückten Teil dieser Familie bestehen. Es kann nicht ohne Tragik abgehen, aber Constanze bewehrt sich hier als gute Wilde auf das Beste. Es wird zwar nicht alles gut, aber doch besser. All das wird in einer absichtlich umständlichen und etwas redundanten Sprache erzählt, wobei die Geschlossenheit der präsentierten kleinen Welt nur einer oberflächlichen Betrachtung standhält.

Der Band ist eine Gelegenheit, Raabe als komplexen und originellen Erzähler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennenzulernen. Er ist ein Beispiel für die Neigung des sogenannten literarischen Realismus, auf den ersten Blick eher schlichte Erzählungen mit zahlreichen Bedeutungs-Ebenen zu unterfüttern, ohne damit die Rezeption eines breiteren Lesepublikums zu stören.

Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian. Eine Erzählung. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2023. Pappband, Fadenheftung, 288 Seiten. 26,– €.

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig

Der zweite und, wie er bereits im Vorwort explizit schreibt, letzte Band von Fontanes Autobiographie erschien in seinem Todesjahr 1898. Mit seinem 70. Geburtstag Ende 1889 wurde Fontane ein deutschlandweit bekannter und besprochener Romanautor, wodurch ihn auch Anfragen nach seiner Autobiographie – einem damals immer beliebter werdenden Genre – erreichten. Als er nach einer überstandenen Lungenerkrankung unter einer Depression litt, riet auch sein Arzt als Heilmittel zur Beschäftigung mit seiner Jugend und Kindheit. So erschien 1894 zuerst Meine Kinderjahre, dem dann vier Jahre später der hier vorgestellte Band folgte.

Die erzählte Zeitspanne verrät bereits der Titel, wobei als äußerliche Ereignisse Fontanes Eintritt in die Ausbildung zum Apothekergehilfen einerseits und seine Heirat und der Übergang in den beruf des Journalisten andererseits die Grenzen bilden. In diese Zeitspanne fällt nicht nur Fontanes Bekanntschaft mit zahlreichen Literaten seiner Zeit, die durch eine literarische Gesellschaften vermittelt werden, sondern auch sein Erleben der Revolution von 1848 in Berlin. Beiden Bereichen werden ausführliche Abschnitte gewidmet, während Fontane was seine familiären Umstände und auch seine Liebe zu Emilie Kummer eher zurückhaltend ist. So ist ein Gutteil des Buches mit Portraits mehr und weniger bekannter Persönlichkeiten aus dem Tunnel über der Spree gewidmet, die für Literaturinteressierte auch heute noch gewinnbringend zu lesen sind.

Eher ein locker und entspannt erzähltes Zeitbild als eine Autobiographie im engeren Sinne, dem natürlich aufgrund des anekdotischen Stoffes die Dichte der Fontaneschen Romane fehlt. Für Fontane selbst war es wohl wichtiger, dass die Beschäftigung mit seiner eigenen Vergangenheit ihm wieder zum Schreiben zurück verhalf.

Wie alle Bände der Große Brandenburger Ausgabe ist auch dieser Band mit einem umfangreichen, vorzüglichen Anhang versehen, der den Band erläuternd, kommentierend und durch ein ausführliches Register erschließt.

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Große Brandenburger Ausgabe. Das autobiographische Werk. Bd. 3. Berlin: Aufbau, 2014. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 967 Seiten. 68,– €.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls

»Arme Verwandte,« sagte Therese mit halblauter Stimme vor sich hin.

Die Poggenpuhls entstanden zwischen 1891 und 1894, was für den sehr effizienten Arbeiter Fontane eine lange Zeit für die etwa 120 Seiten darstellt, die das Buch umfasst. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass Fontane parallel dazu an seiner Autobiographie arbeitete (Meine Kinderjahre (1893) und Von Zwanzig bis Dreißig (1898)), was ihm von seinem Arzt als Mittel gegen seine Depressionen empfohlen worden war. Es lässt sich diskutieren, ob es sich nach dem Verständnis der Zeit überhaupt um einen Roman handelt, da es dafür recht kurz ist. Andererseits ist der Sammelbegriff „Erzählung“ sehr unspezifisch und eher eine germanistische Notlösung als einen hilfreiche Einordnung. Von Der Stechlin aus betrachtet, handelt es sich bei Die Poggenpuhls um eine Art von Handübung für den späteren Roman: Auch hier wird auf eine spannende Handlung verzichtet, auf Konflikte oder eine Liebesgeschichte, wie es von Romanen der Zeit gern erwartet wurde. Ersetzt wird dies durch eine Art von Panorama – nicht umsonst wird diese populäre zeitgenössische Kunstform gleich zweimal erwähnt – der gesellschaftlichen Schnittstelle zwischen Bürgertum und Adel.

Im Mittelpunkt steht die Familie von Poggenpuhl, genauer der verwitweten Albertine von Poggenpuhl, die allerdings bürgerlich geboren wurde und sich nie so recht in die Rolle als Adelige eingefunden hat. Sie hat fünf Kinder, zwei Söhne, die beide gemäß der Familientradition beim Militär dienen, und drei Töchter, die zusammen mit der Mutter in eher bescheidenen Verhältnissen in Berlin leben. Therese, die Älteste der Töchter, versucht das Adelsbewusstsein der Familie aufrecht zu erhalten, was sie zu einer leicht skurrilen Figur macht, während die bei jüngeren Töchter, Sophie und Manon, sich eher handfest und bürgerlich orientieren. Keine der Töchter hegt Heiratspläne, da die Familie über keinerlei Vermögen verfügt, das sich in eine Mitgift verwandeln ließe. Von den Söhnen hat nur der Ältere, Wendelin, Aussichten auf eine militärische Karriere; demgegenüber entspricht der jüngere Leo dem typischen literarischen Offiziers-Klischee der Zeit: Er gibt sich „schneidig“, schwätzt viel Unfug, macht Schulden (wenn auch nur mäßig) und langweilt sich im Dienst. Offenbar denkt er ernsthaft darüber nach, als Abenteurer nach Afrika zu ziehen, um dort sein Glück zu suchen.

Aus dieser Grundkonstellation entwickelt Fontane ein Nichts von Handlung: Leo besucht seine Mutter zu Ihrem Geburtstag, man trifft den Onkel Eberhard (den Schwager der Mutter), der als Deus ex machina Leos Rückfahrt zu seinem Standort finanziert, Sophie fährt mit Onkel Eberhard nach Hause, um seiner Frau Josephine – ebenfalls einer Bürgerlichen, die in die Familie Poggenpuhl eingeheiratet hat – Gesellschaft zu leisten. Sophie bricht sich ein Bein, bemalt die Wände der örtlichen Kirche und erlebt, wie ihr Onkel binnen weniger Tage an der Tuberkulose verstirbt. Nach der Beerdigung eröffnet Josephine Albertine, dass sie den privaten Teil ihres Vermögens zugunsten von deren Töchtern einsetzen wird, so dass alle drei Schwestern nun Aussicht auf eine Ehe haben werden. Auch Leo soll geholfen werden (Wendelin wird natürlich auch nicht vergessen, aber der spielt ohnehin im Roman kaum eine wirkliche Rolle), auf dass er nicht nach „Afri- od- Ameriko“ entfliehen muss. Insgesamt wird viel geredet, und sonst passiert kaum etwas.

Was im Gegensatz zu Der Stechlin fehlt, sind echte Charaktere: Zwar gehen Onkel Eberhard und seine Gattin gerade noch dafür durch, aber ansonsten ist vieles einfach nur Markierung einer Position oder Karikatur: Therese als eingebildete Adelige, die weder über Einfluss noch Land noch anderes Vermögen verfügt, ist nur eine lächerliche Figur, Leos Status als Klischee ist schon festgestellt worden, Sophie ist leider etwas zu frühklug und volksreligiös geraten und Manon ist eigentlich kaum etwas Eigenständiges und dient nur dazu, den neuen, jüdischen Geldadel wenigstens am Rande mit in den Roman zu bringen. Wer Fontane mag, wird sich unterhalten; alle anderen, so fürchte ich, werden sich langweilen.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 16. Berlin: Aufbau, 2006. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 292 Seiten. 28,– €.

Theodor Fontane: Der Stechlin

ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen

Niemand, der über dieses letzte Buch Fontanes (Mathilde Möhring ist aus dem Nachlass herausgegeben worden) spricht oder schreibt, kommt um das Bonmot herum, mit dem Fontane den Inhalt dieses Buch umriss: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.“ (Brief-Entwurf an Adolf Hoffmann, Mai/Juni 1897.) So ganz ohne „Konflikte“ ist das Buch zwar nicht, aber es sind weniger persönliche als gesellschaftliche, die tatsächlich nur zu beschreiben, nicht zu lösen sind.

Die Handlung spielt in der Hauptsache am und um den Stechlinsee herum sowie in Berlin. Im Zentrum steht der alternde Dubslav von Stechlin, der als Major a. D. auf Schloss Stechlin residiert. Sein einziger Sohn Woldemar ist als Dragoner in Berlin stationiert und verkehrt viel im Hause des Grafen von Barby, ebenso alt wie Dubslav von Stechlin, weil er die beiden Töchter des Hauses umwirbt – Melusine und Armgard, die schließlich seine Braut werden wird. Die eigentliche Handlung beschränkt sich auf einen Besuch Woldemars zusammen mit zwei Regimentskameraden bei seinem Vater und seiner Tante, der Vorsteherin des nahe gelegenen Kloster Wutz, die Werbungszeit um Armgard, die Hochzeit, die eher summarisch abgehandelt wird, und abschließend die Zeit der Krankheit und des Todes von Dubslav von Stechlin.

Den sozialen Hintergrund bilden die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mit den religiösen und sozialen Verwerfungen der Zeit: der immer noch starke Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken sowie der zwischen den konservativen Kräften (zu denen Dubslav ebenso zählt wie Graf Barby) und den aufkommenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen (mit denen Woldemar zumindest sympathisiert, ohne als deren politischer Anhänger zu erscheinen). Quasi quer zu diesen Kräften wird immer erneut das Verhältnis der Geschlechter zueinander thematisiert, wobei die Sexualität immer wieder mit einer für die Zeit überraschenden Deutlichkeit thematisiert wird:

»Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort – auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren.«
»Weiß, weiß. Endlos.«
»Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.«
»Liebste Melusine, wie beklag’ ich Sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber so gleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.«

S. 351

Das Buch lebt ganz und gar von seinen Charakteren – neben Dubslav von Stechlin bilden Melusine von Barby-Ghiberti und der lokale Pastor Lorenzen den Kernbestand, der von zahlreichen Nebenfiguren umstellt ist (auch Woldemar und Armgard müssen unter diese Nebenfiguren eingeordnet werden). Es verzichtet auf jeden Versuch, die zahlreichen anekdotischen Szenen durch irgendeine Form von artistischer Konstruktion einzubinden, sondern gibt sich mit einem lockeren Faden des Nacheinanders vollständig zufrieden (hierin ist der alte Fontane vielen zeitgenössischen Kollegen weit voraus). Es erscheint im formalen Sinne als künstlerisch schlicht und anspruchslos, doch könnte nicht besser sein, als es geworden ist. Ein Zeitbild, wie man es selten findet, aus der Feder eines der besten melancholischen Chronisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Theodor Fontane: Der Stechlin. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 17. Berlin: Aufbau, 2001. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 716 Seiten. 48,– €.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen (1893–1912)

Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerke Ruhm bereiten.

Cover

Thomas Mann gilt den meisten Lesern in Deutschland nicht nur als einer der besten Roman-Autoren ihrer neueren Literatur, sondern auch als ein Meister der kürzeren Form. Um es gleich vorweg zu sagen: Ich teile diese Meinung nur sehr eingeschränkt. Zwar glaube ich, dass die Mehrzahl der Mannschen Romane zum Besten gehören, was die Tradition des 19. (sic!) Jahrhunderts hervorgebracht hat (auch hier gibt es durchaus Ausreißer), dagegen fallen jedoch seine Erzählungen im engeren Sinne deutlich ab, wenn man sie in ihrer Gesamtheit betrachtet. Sicherlich finden sich auch hier sorgfältig konstruierte und minutiös ausgeführte Stücke, aber in der Menge sind Manns Erzählungen oft seicht und scheinen geschrieben, um eben etwas geschrieben zu haben und gedruckt zu werden, selbstgefälliges, manieristisches Kunsthandwerk.

Der Weg zum Friedhof lief immer neben der Chaussee, immer an ihrer Seite hin, bis er sein Ziel erreicht hatte, nämlich den Friedhof. An seiner anderen Seite lagen anfänglich menschliche Wohnungen, Neubauten der Vorstadt, an denen zum Teil noch gearbeitet wurde; und dann kamen Felder. Was die Chaussee betraf, die von Bäumen, knorrigen Buchen gesetzten Alters flankiert wurde, so war sie zur Hälfte gepflastert, zur Hälfte war sie’s nicht.

Auch inhaltlich sind einige der frühesten Stücke eher verstörend (etwa Gefallen, Luischen oder Tobias Mindernickel), ohne dass ich erkennen könnte, dass sie auf mehr als einen Effekt abzielen.

Nun bin ich sofort bereit zuzugestehen, dass diese Texte nicht geschrieben wurden, um in einem Zuge und direkt nacheinander gelesen zu werden; die daraus resultierende Wahrnehmung erzeugt wohl ein vergleichendes, ungerechtes Urteil gerade für die schwächeren Stücke, das durch eine Rezeption der Stücke über den längeren Zeitraum hinweg gemildert würde.

Bleiben die beiden zu recht bekannteren Stücke Tonio Kröger (ein Seitenstück zu Buddenbrooks) und Der Tod in Venedig, die bei der jetzigen erneuten Lektüre aber bei weitem nicht mehr die Wirkung auf mich hatten wie vor über 30 Jahren. Doch das liegt natürlich an mir; ich bin einfach nicht mehr geeignet für solch eher gestellten als gekonnten Stücke.

Insgesamt mehr „naja, soso“ als alles andere.

Thomas Mann: Frühe Erzählungen. 1893–1912. In der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe. Kindle-Edition. Frankfurt: Fischer, 22008. 604 Seiten (in der Druckfassung; die Seitenzählung der Kindle-Ausgabe ist defekt). 9,99 €.

Wird fortgesetzt …

Johannes Willms: Der Mythos Napoleon

Der Bestand des napoleonischen Empire zeigt die Stabilität eines Kartenhauses. Deren Ursache hat dessen Schöpfer bis zuletzt nicht verstanden.

Cover

Johannes Willms ist in Juli 2022 im Alter von 74 Jahren verstorben. Ich habe über viele Jahre hinweg beinahe alle seine Bücher mitverfolgt und hier vorgestellt; allein bei seiner de-Gaulle-Biographie (Beck, 2019) habe ich nach einem Viertel des Buches gestreikt, nicht weil das Buch schlecht wäre, sondern weil ich einfach das Interesse für diesen machtversessenen Heini nicht weiter aufbringen konnte.

Im Jahr 2019 ist Willms wohl letztes Buch über Napoleon erschienen, der spätestens seit der großen Biographie von 2005 ein immer wiederkehrender Fixpunkt in Willms Beschäftigung mit der Geschichte Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert war. Zumindest dem Untertitel Verheißung * Verbannung * Verklärung nach, handelt es sich bei diesem Buch um so etwas wie eine erweiterte Neufassung seines Buches Napoleon. Verbannung und Verklärung (Droemer, 2000), doch weist nichts in dem neuen Buch auf einen solchen Rückbezug hin. Da ich das frühere Buch nicht kenne, muss ich es (vorerst?) bei diesem Hinweis belassen.

Erzählt werden, wie der Untertitel es andeutet, drei Phasen der Entstehung des Napoleon-Mythos: der Beginn seines militärischen Ruhms als junger General in Italien, die letzten Jahre als französischer Kaiser und die Jahre der Verbannung und schließlich sein Nachleben im Frankreich des 19. Jahrhunderts, als sein Ruhm und seine Leiche als politisches Kapital fungieren. Das Buch schließt mit einem sehr schmalen Exkurs zu den französischen Napoleon-Biographien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts; leider fehlt ein Ausblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz und eine Erörterung der Frage, warum der Mythos Napoleon bis heute immer noch wirksam ist, obwohl die mediokren Seiten dieser Figur inzwischen gut dokumentiert sind.

Willms ist natürlich ein exzellenter Kenner des Materials, und er versteht es, Napoleons Selbst- und Fremdinszenierungen stringent und einleuchtend nachzuerzählen. Dabei fehlt es nicht an kritischer Distanz, auch wenn zumindest ich mir gewünscht hätte, dass die napoleonische Selbstüberhöhung hier und da ein wenig schärfer beurteilt werden würde.

Ein sehr gut lesbares Buch, das trotz seiner Konzentration auf bestimmte Phasen eine gute Alternative zu den umfangreicheren Napoleon-Biographien liefert. Im März 2023 soll dann als Willms letztes Buch seine Biographie über Louis XIV erscheinen.

Johannes Willms: Der Mythos Napoleon. Verheißung * Verbannung * Verklärung. Stuttgart: Klett-Cotta, 2022. Pappband, 382 Seiten. 26,– €.

Adalbert Stifter: Der Nachsommer

Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.

Friedrich Hebbel

Von Stifter kannte ich bislang nur einige Erzählungen, die zwar etwas konstruiert, aber sonst ganz angängig zu sein schienen. Seine beiden Romane hatte ich – unter dem Vorurteil der Verrisse Arno Schmidts stehend – gemieden. Doch Ende des letzten Jahres war ich im Bücherschrank durch Zufall in die Nähe der kleinen Werkausgabe geraten und hatte, aufgrund des schlechten Gewissens wegen meines schlecht begründeten Vorbehalts, den Band mit Der Nachsommer herausgezogen und auf den Schreibtisch gelegt. Ich habe mich nun durch den ersten Band hindurchgequält und dann die Lektüre aufgegeben. Kurz gesagt: Es ist fürchterlich!

STIFTER’s ›Nachsommer‹ liest sich, zumal im Dialog der ›Gestalten‹, so steiff, als sei das Buch von einem schlechten Übersetzer, um 1850, nach einem nicht guten Original übertragen: Deine Tochter, mein Freund, hat eine schöne Stirn. (Tja, man müßte ihn tatsächlich übersetzen. Stell’n Sie sich ma vor: ›STIFTER, ›Nachsommer‹, Deutsch von Arno Schmidt‹ – capitaler Einfall; ich lach’ jetz schon!)

Arno Schmidt: Julia, oder die Gemälde. BA IV/4, S. 49

Das Ding will einen Entwicklungsroman nach Goethescher Manier vorstellen und übersteigert dabei die abstrakte Prosa des Weimarer Meisters aufs Äußerste. Beinahe alles bleibt im Allgemeinen stecken (ich gebe zu: Hier und da werden einige Blumen und Bäume konkret benannt):

Mein alter Gastfreund saß in einem Lehnsessel und erzählte. Er beschrieb eine Erscheinung, er machte die Erscheinung recht deutlich, zeigte sie, wenn es möglich war, mit den Vorrichtungen seiner Sammlung, oder wo dies nicht möglich war, suchte er sie durch Zeichnung oder Versinnbildlichung darzustellen. Dann erzählte er, auf welchem Wege die Menschen zur Kenntnis dieser Erscheinung gekommen waren. Wenn er dieses vollendet hatte, tat er das gleiche mit einer zweiten, verwandten Erscheinung. Und wenn er nun einen Kreis von zusammengehörigen Erscheinungen, der ihm hinlänglich schien, ausgeführt hatte, dann hob er dasjenige, was allen Erscheinungen gleichartig ist, hervor und stellte die Grunderscheinung oder das Gesetz dar.

S. 190

Wenigstens an einem einzigen konkreten Beispiel wünschte man sich diese Unterrichtsmethode vorgeführt, aber nichts dergleichen ist zu erwarten.

Der Erzähler ergeht sich in zeilenschindenden Wiederholungen, als rede er zu einer Versammlung von Deppen:

Wir stiegen gegen jene Wiese hinan, von der mir mein Gastfreund gestern gesagt hatte, daß sie die nördliche Grenze seines Besitztums sei, und daß er sie nicht nach seinem Willen habe verbessern können. Der Weg führte sachte aufwärts, und in der Tiefe der Wiese kam uns in vielen Windungen ein Bächlein, das mit Schilf und Gestrippe eingefaßt war, entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, sagte mein Begleiter: »Das ist die Wiese, die ich Euch gestern von dem Hügel herab gezeigt habe, und von der ich gesagt habe, daß bis dahin unser Eigentum gehe, und daß ich sie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte. […]«

S. 121

Und dann der gesellige Umgang der Figuren miteinander:

Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit einer offenen Heiterkeit und Ruhe.

S. 215

Mit Inhalten oder gar verschiedenen Meinungen zu einer konkreten Sache werden wir nicht behelligt; überhaupt sind in den meisten Fällen alle Pappkameraden des Romans einer einzigen, ganz und gar vernünftigen Meinung. Dass es eine andere bei anderen geben könne, ist ihnen wohl als Möglichkeit bewusst, aber solcher Leute Erwähnung zu tun, würde eine Zumutung und Störung darstellen, die weder den Figuren noch dem Leser zugemutet werden kann.

Sie begab sich auch gerne in die Speisekammer, in den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren.

S. 222

Man denke nur, sie hätte sich an Orte begeben, die unwichtig waren! Der Roman wäre sogleich in Stücke gesprungen.

Mir fiel es auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm, und von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu füllen, die ein junges Aufwartemädchen an die Plätze trug.
Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das immer bisher gefehlt hätte.

S. 215

Wohlgemerkt: Die Teller wurden wirklich (!) der Reihe nach (!) mit Suppe gefüllt! Kein Wunder, dass dem Erzähler dies bislang gefehlt hatte.

Und so geht es in einem fort: Ein sinnloses Durch- und Nacheinander von überflüssigen Details und abstraktester Ungegenständlichkeit, von sinnlosestem Durch-die-Gegend-Laufen, um wenigstens so etwas wie den Anschein einer Handlung zu simulieren, und anderen bei der Arbeit zuschauen. Dann fährt man irgendwelche Nachbarn besuchen, die ebensolche Abziehbilder darstellen wie die bisherigen Figuren und die in der Hauptsache dazu dienen, einen Kontrast zu dem höchst idealen Haushalt des alten Gastfreundes zu liefern. Und das alles wird geschildert, ohne eine einzige erzählerische Mine zu verziehen, vollständig ironie- und humorfrei.

Ich habe mich aus der Literarhistorie schlau gemacht, was in den beiden nachfolgenden Bänden noch als Handlung herhalten muss; lesen muss ich das nicht. Und wahrscheinlich auch niemand sonst.

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Zürich: Ex Libris, o. J. [1978]. Lizenzausgabe der Ausgabe beim Winkler Verlag, 1949. Kunstleder, Fadenheftung, Lesebändchen, 766 Seiten Dünndruck. In dieser Ausgabe selbstverständlich nicht mehr lieferbar.

Joseph Conrad: Lord Jim (2)

Vor knapp vier Jahren habe ich Lord Jim in der Übersetzung durch Manfred Allié hier vorgestellt und das Buch, mit Ausnahme der Ausstattung, sehr gelobt. Nun hat in diesem Jahr der Hanser Verlag eine Neuübersetzung durch Michael Walter, einen der besten Übersetzer aus dem Englischen, vorgelegt. Ich habe Walters Übersetzung jetzt kursorisch gelesen und stichprobenhaft beide Übersetzungen und das Original miteinander verglichen.

Auf Manfred Allíe war ich zuerst durch seine Übersetzung von Das Herz der Finsternis gestoßen, die sich als erste Übersetzung erfolgreich darum bemühte, den Ton des englischen Originals ins Deutsche zu transportieren. Nun stellt Lord Jim andere Anforderungen an den Übersetzer, aber ich fand, auch hier hatte sich Allíe aufs Beste bewährt. Trotzdem muss ich nun zugeben, dass die Lektüre von Walters Übersetzung eine reine Freude ist. Sein Deutsch ist von einer erstaunlich schlichten Eleganz, mit nautischen Begriffen durchsetzt, so wie es sich auch bei Conrad findet; vielleicht ist die Lektüre ein wenig zu widerstandslos, wenn man es mit dem Original vergleicht, aber es ist hier ein her­aus­ra­gen­des Sprachkunstwerk gelungen. Beim Vergleich mit dem Original fällt auf, dass Walter im Zweifel immer versucht, in Struktur und Wortwahl sehr nah am Original zu bleiben. Ich würde von der Übersetzung Allíes nicht abraten, aber wer es sich leisten kann, sollte – auch weil er das unvergleichlich viel schönere und besser gemachte Buch erhält–, unbedingt zur Übersetzung von Michael Walter greifen.

Joseph Conrad: Lord Jim. Aus dem Englischen von Michael Walter. München: Hanser, 2002. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 640 Seiten Dünndruck. 36,– €.

James F. Cooper: Conanchet oder die Beweinte von Wish-Ton-Wish

Im Falle Cooper beginnt die erstaunliche Tatsache sich abzuzeichnen, daß jede Übersetzung, sie kann nicht anders, besser werden muß, als das Original!

Arno Schmidt

Auch diese Lektüre gehört in die Reihe meiner Revisionen der Übersetzungen Arno Schmidts. Cooper gehört schon früh unter die Schmidtschen literarischen Hausheiligen und seine Übersetzung von The Wept of Wish-Ton-Wish (1829) ist wohl so etwas wie ein Testballon gewesen für seine spätere Übersetzung der Littlepage-Trilogie (die ebenfalls demnächst noch einmal gelesen werden soll). Was Schmidt bewogen hat, ausgerechnet dieses sowohl inhaltlich als auch sprachlich antiquarische Buch zu übersetzen, soll etwas später erwogen werden.

Das Stück spielt in Connecticut in den Jahren zwischen etwa 1660 bis 1675. Ort der Handlung ist eine abgelegene Puritaner-Siedlung, eine Gründung des Hauptmanns Marcus Heathcote, der sich zu Anfang des Romans mit seiner Familie und seinen Bediensteten aufmacht, um in der Wildnis noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Die Handlung selbst konzentriert sich im Wesentlichen auf zwei Episoden in der Geschichte der Ansiedlung, die beide den kriegerischen Konflikt mit den lokalen Indianern thematisieren. In beiden spielt ein Häuptling der Narragansets, eben der bei Schmidt titelgebende Conanchet eine zentrale Rolle. Im ersten Teil wird der Häuptling als junger Mann von den Siedlern gefangengenommen und lebt für einige Monate mit ihnen zusammen, wobei er langsam aber sicher das Vertrauen der Siedler gewinnt, ohne sich tatsächlich mit ihnen einzulassen. Diese erste Episode endet mit einem die Siedlung nahezu komplett zerstörenden Überfall durch die Narragansets, den allerdings die meisten der Siedler wie durch ein Wunder überleben.

Die zweite Episode schildert die Verwicklung der wieder erblühten Siedlung in den sogenannten King Philip’s War, die erste große kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Indianer im Nordosten der späteren USA und den weißen Siedlern. Im Verlauf dieses Krieges kehrt Conanchet an den Ort seiner früheren Gefangenschaft zurück, und es stellt sich heraus, dass er ein im früheren Überfall verschwundenes und für tot gehaltenes junges Mädchen, Ruth, entführt und zu seiner Frau gemacht hat. Seine emotionale Verbindung mit den von ihm wiederum für tot gehaltenen Siedlern verhindert die nochmalige Zerstörung der Siedlung und bringt ihn in Konflikt mit seinen Verbündeten im Krieg. Die Handlung endet in einer melodramatischen Tragödie, die hier nicht im Detail geschildert werden muss.

Neben den zum Teil äußerst drastischen Schilderungen der Kampf­hand­lun­gen ist der Roman weitgehend angefüllt mit der ausführlichen Be­schrei­bung puritanischen Lebens und ebensolcher Dialoge, die bereits nach kurzer Zeit dazu geeignet sind, den Leser bis aufs Äußerste zu strapazieren. Schmidt hat als Grundlage seiner Übersetzung die erste deutsche Übertragung durch Karl Meurer (wohl ebenfalls bereits 1829 erstmals erschienen) zugrunde gelegt, wobei er sie über weite Strecken in den sprachlichen Details präzisiert und über den gesamten Text hinweg um knapp 5 % gekürzt hat.1 Wirklich überzeugen kann das Buch dennoch nicht.

Auch Schmidts Nachwort, das hauptsächlich deutsche Leser mit Cooper und der Breite seines Werks vertraut machen soll, gibt keinen echten Aufschluss darüber, warum gerade dieses Werk ausgewählt wurde, um eine Cooper-Renaissance in Deutschland anzustoßen. Schmidt selbst lässt an Coopers Fabeln und Hauptfiguren kaum ein gutes Haar und lobt dagegen im Allgemeinen dessen Landschaftsschilderungen und Nebenfiguren. Und so wird es – neben den Motiven der Zivilisationsflucht und des Lebens in der Isolation, die in Schmidts eigenen Inselphantasien eine bedeutende Rolle gespielt haben – wahrscheinlich eine der Nebenfiguren des Romans sein, die Schmidts Aufmerksamkeit gefesselt hat: Bei dem im Text nur unter dem angenommenen Namen Submissus auftretenden Einzelgänger, der die Siedler beim ersten Angriff der Indianer vor dem Untergang rettet und auch im zweiten Teil eine durchgehende Nebenrolle spielt, handelt es sich wohl um ein Porträt des sogenannten Königsmörder William Goffe, der zum unmittelbaren Umfeld Cromwells gehörte und maßgeblich am Prozess gegen Charles I beteiligt war. Er war einer jener unter Charles II Ver­ur­teil­ten, denen es gelungen war, nach Amerika zu entkommen, aber auch dort immer noch durch Agenten der englischen Regierung verfolgt wurden. Schmidt liebte solche Verflechtungen von Fiktion und Historie und hat mit seinem Das steinerne Herz selbst ein Muster für das Historische im Roman geliefert.

Alles in allem eine eher zähe Lektüre, die zwar einmal mehr den edlen amerikanischen Wilden feiert, bis auf wenige Passagen aber weder historisch interessant noch anderweitig belangreich ist.

James F. Cooper: Conanchet oder die Beweinte von Wish-Ton Wish. Aus dem Englischen von Arno Schmidt. Fischer Tb. 1287. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 21977. Broschur, 414 Seiten. Derzeit nicht im Druck.


1 – Günter Jürgensmeier war so freundlich, mir einen vergleichenden Text der beiden Übersetzungen zusammen mit einigen wichtigen statistischen Details zur Verfügung zu stellen.

Wilkie Collins: Die Frau in Weiß

Diesen Roman habe ich zusammen mit den meisten anderen Übersetzungen Arno Schmidts am Ende meiner Studienzeit während der Niederschrift meiner Dissertation nebenbei gelesen. Nun hat mich die Schmidt-Biografie von Sven Hanuschek noch einmal neugierig gemacht, meinen damaligen, nicht so sehr guten Eindruck noch einmal zu überprüfen. Und es hat sich wenigstens teilweise gelohnt: Während ich vor 25 Jahren den Roman durchgehend bemüht und langweilig fand, habe ich mich diesmal wenigstens über einige Strecken hinweg durchaus amüsiert, wenn der Roman auch nicht so ist, dass er eine zweite Lektüre wirklich vertragen würde.

Erzählt wird in der Hauptsache die Geschichte des Zeichenlehrers Walter Hartrights und seiner Liebe zu seiner Schülerin Laura Fairlie, einer jungen Frau, die als potenzielle Erbin eines großen Vermögens als Gattin Walters zumindest zu Beginn des Romans nicht in Frage kommt. Ganz getreu dem Motto, Literatur habe zu erzählen, was wahrscheinlich passiert, wenn etwas Unwahrscheinliches passiert, begegnet Walter in der Nacht, bevor er seine Stelle als Zeichenlehrer bei den Fairlies antritt, auf dem nächtlichen Heimweg einer geheimnisvollen Frau in weißen Kleidern, die sich nicht nur als Doppelgängerin Lauras erweist, sondern mit ihr auch in der Kindheit eine Zeitlang zusammengelebt hat. Den eigentlichen Handlungsknoten aber schürzt dann die Hochzeit Lauras mit Sir Percival Glyde, dem es offensichtlich nur darum geht, an das Vermögen Lauras zu kommen, um seine drängenden Schulden zu bezahlen. Es dürfte nicht zuviel verraten sein, wenn man sagt, dass etwa in der Mitte des Buches die Katastrophe eintritt, Laura beerdigt wird, ohne gestorben zu sein, und Sir Percival in den Besitz des Geldes kommt, das ihn aber auch nicht vor dem Untergang retten kann. Die zweite Hälfte des Buches wird auf’s Umständlichste damit verbracht, den bis dahin erzielten Schaden wenigstens einigermaßen wieder gut zu machen.

Trotz seiner Länge und Behäbigkeit besonders im zweiten Teil scheint sich das Buch seit über 150 Jahren ungebrochen der Sympathie der Leser zu erfreuen. Das mag zum einen an seiner Vielfalt von Erzählerfiguren liegen, die Abwechslung in der Einöde vortäuscht, zum anderen aber sicherlich auch an seiner wichtigsten Nebenfigur, dem Italiener Conte Fosco, der zwischen gebildetem Gentleman und schmierigem Intriganten changiert. Schmidts Übersetzung ist, wie viele seiner späten Übersetzungen, ein wenig manieristisch, insgesamt aber gut lesbar.

Wilkie Collins: Die Frau in Weiß. Aus dem Englischen von Arno Schmidt. Kindle-Edition. Frankfurt/M.: Fischer E-Books, 2014. 896 Seiten (Druck-Ausgabe). 9,99 €.