Adalbert Stifter: Der Nachsommer

Drei starke Bände! Wir glauben nichts zu riskieren, wenn wir demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.

Friedrich Hebbel

Von Stifter kannte ich bislang nur einige Erzählungen, die zwar etwas konstruiert, aber sonst ganz angängig zu sein schienen. Seine beiden Romane hatte ich – unter dem Vorurteil der Verrisse Arno Schmidts stehend – gemieden. Doch Ende des letzten Jahres war ich im Bücherschrank durch Zufall in die Nähe der kleinen Werkausgabe geraten und hatte, aufgrund des schlechten Gewissens wegen meines schlecht begründeten Vorbehalts, den Band mit Der Nachsommer herausgezogen und auf den Schreibtisch gelegt. Ich habe mich nun durch den ersten Band hindurchgequält und dann die Lektüre aufgegeben. Kurz gesagt: Es ist fürchterlich!

STIFTER’s ›Nachsommer‹ liest sich, zumal im Dialog der ›Gestalten‹, so steiff, als sei das Buch von einem schlechten Übersetzer, um 1850, nach einem nicht guten Original übertragen: Deine Tochter, mein Freund, hat eine schöne Stirn. (Tja, man müßte ihn tatsächlich übersetzen. Stell’n Sie sich ma vor: ›STIFTER, ›Nachsommer‹, Deutsch von Arno Schmidt‹ – capitaler Einfall; ich lach’ jetz schon!)

Arno Schmidt: Julia, oder die Gemälde. BA IV/4, S. 49

Das Ding will einen Entwicklungsroman nach Goethescher Manier vorstellen und übersteigert dabei die abstrakte Prosa des Weimarer Meisters aufs Äußerste. Beinahe alles bleibt im Allgemeinen stecken (ich gebe zu: Hier und da werden einige Blumen und Bäume konkret benannt):

Mein alter Gastfreund saß in einem Lehnsessel und erzählte. Er beschrieb eine Erscheinung, er machte die Erscheinung recht deutlich, zeigte sie, wenn es möglich war, mit den Vorrichtungen seiner Sammlung, oder wo dies nicht möglich war, suchte er sie durch Zeichnung oder Versinnbildlichung darzustellen. Dann erzählte er, auf welchem Wege die Menschen zur Kenntnis dieser Erscheinung gekommen waren. Wenn er dieses vollendet hatte, tat er das gleiche mit einer zweiten, verwandten Erscheinung. Und wenn er nun einen Kreis von zusammengehörigen Erscheinungen, der ihm hinlänglich schien, ausgeführt hatte, dann hob er dasjenige, was allen Erscheinungen gleichartig ist, hervor und stellte die Grunderscheinung oder das Gesetz dar.

S. 190

Wenigstens an einem einzigen konkreten Beispiel wünschte man sich diese Unterrichtsmethode vorgeführt, aber nichts dergleichen ist zu erwarten.

Der Erzähler ergeht sich in zeilenschindenden Wiederholungen, als rede er zu einer Versammlung von Deppen:

Wir stiegen gegen jene Wiese hinan, von der mir mein Gastfreund gestern gesagt hatte, daß sie die nördliche Grenze seines Besitztums sei, und daß er sie nicht nach seinem Willen habe verbessern können. Der Weg führte sachte aufwärts, und in der Tiefe der Wiese kam uns in vielen Windungen ein Bächlein, das mit Schilf und Gestrippe eingefaßt war, entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren, sagte mein Begleiter: »Das ist die Wiese, die ich Euch gestern von dem Hügel herab gezeigt habe, und von der ich gesagt habe, daß bis dahin unser Eigentum gehe, und daß ich sie nicht habe einrichten können, wie ich gewollt hätte. […]«

S. 121

Und dann der gesellige Umgang der Figuren miteinander:

Die Gespräche waren klar und ernst, und mein Gastfreund führte sie mit einer offenen Heiterkeit und Ruhe.

S. 215

Mit Inhalten oder gar verschiedenen Meinungen zu einer konkreten Sache werden wir nicht behelligt; überhaupt sind in den meisten Fällen alle Pappkameraden des Romans einer einzigen, ganz und gar vernünftigen Meinung. Dass es eine andere bei anderen geben könne, ist ihnen wohl als Möglichkeit bewusst, aber solcher Leute Erwähnung zu tun, würde eine Zumutung und Störung darstellen, die weder den Figuren noch dem Leser zugemutet werden kann.

Sie begab sich auch gerne in die Speisekammer, in den Keller oder an andere Orte, die wichtig waren.

S. 222

Man denke nur, sie hätte sich an Orte begeben, die unwichtig waren! Der Roman wäre sogleich in Stücke gesprungen.

Mir fiel es auf, daß er die Frau als ersten Gast zu dem Platze mit den Tellern geführt hatte, den in meiner Eltern Hause meine Mutter einnahm, und von dem aus sie vorlegte. Es mußte aber hier so eingeführt sein; denn wirklich begann die Frau sofort die Teller der Reihe nach mit Suppe zu füllen, die ein junges Aufwartemädchen an die Plätze trug.
Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es war mir, als wenn das immer bisher gefehlt hätte.

S. 215

Wohlgemerkt: Die Teller wurden wirklich (!) der Reihe nach (!) mit Suppe gefüllt! Kein Wunder, dass dem Erzähler dies bislang gefehlt hatte.

Und so geht es in einem fort: Ein sinnloses Durch- und Nacheinander von überflüssigen Details und abstraktester Ungegenständlichkeit, von sinnlosestem Durch-die-Gegend-Laufen, um wenigstens so etwas wie den Anschein einer Handlung zu simulieren, und anderen bei der Arbeit zuschauen. Dann fährt man irgendwelche Nachbarn besuchen, die ebensolche Abziehbilder darstellen wie die bisherigen Figuren und die in der Hauptsache dazu dienen, einen Kontrast zu dem höchst idealen Haushalt des alten Gastfreundes zu liefern. Und das alles wird geschildert, ohne eine einzige erzählerische Mine zu verziehen, vollständig ironie- und humorfrei.

Ich habe mich aus der Literarhistorie schlau gemacht, was in den beiden nachfolgenden Bänden noch als Handlung herhalten muss; lesen muss ich das nicht. Und wahrscheinlich auch niemand sonst.

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Zürich: Ex Libris, o. J. [1978]. Lizenzausgabe der Ausgabe beim Winkler Verlag, 1949. Kunstleder, Fadenheftung, Lesebändchen, 766 Seiten Dünndruck. In dieser Ausgabe selbstverständlich nicht mehr lieferbar.

Joseph Conrad: Lord Jim (2)

Vor knapp vier Jahren habe ich Lord Jim in der Übersetzung durch Manfred Allié hier vorgestellt und das Buch, mit Ausnahme der Ausstattung, sehr gelobt. Nun hat in diesem Jahr der Hanser Verlag eine Neuübersetzung durch Michael Walter, einen der besten Übersetzer aus dem Englischen, vorgelegt. Ich habe Walters Übersetzung jetzt kursorisch gelesen und stichprobenhaft beide Übersetzungen und das Original miteinander verglichen.

Auf Manfred Allíe war ich zuerst durch seine Übersetzung von Das Herz der Finsternis gestoßen, die sich als erste Übersetzung erfolgreich darum bemühte, den Ton des englischen Originals ins Deutsche zu transportieren. Nun stellt Lord Jim andere Anforderungen an den Übersetzer, aber ich fand, auch hier hatte sich Allíe aufs Beste bewährt. Trotzdem muss ich nun zugeben, dass die Lektüre von Walters Übersetzung eine reine Freude ist. Sein Deutsch ist von einer erstaunlich schlichten Eleganz, mit nautischen Begriffen durchsetzt, so wie es sich auch bei Conrad findet; vielleicht ist die Lektüre ein wenig zu widerstandslos, wenn man es mit dem Original vergleicht, aber es ist hier ein her­aus­ra­gen­des Sprachkunstwerk gelungen. Beim Vergleich mit dem Original fällt auf, dass Walter im Zweifel immer versucht, in Struktur und Wortwahl sehr nah am Original zu bleiben. Ich würde von der Übersetzung Allíes nicht abraten, aber wer es sich leisten kann, sollte – auch weil er das unvergleichlich viel schönere und besser gemachte Buch erhält–, unbedingt zur Übersetzung von Michael Walter greifen.

Joseph Conrad: Lord Jim. Aus dem Englischen von Michael Walter. München: Hanser, 2002. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 640 Seiten Dünndruck. 36,– €.

John Williams: Stoner

But William Stoner knew of the world in a way that few of his younger colleagues could understand.

Ein eingängiger, etwas sentimentaler Ent­wick­lungs­ro­man, der bereits 1965 erschienen ist, aber erst in diesem Jahrhundert in den USA wieder- und in Europa entdeckt und systematisch zu einem Bestseller beworben wurde. Williams war zu Lebzeiten immerhin so erfolgreich, dass er 1972 den National Book Award for Fiction verliehen bekam, aber er konnte vom Schreiben nie leben. Stattdessen unterrichtete er, ähnlich wie der Protagonist dieses Romans, bis 1985 Englisch an der Universität Denver.

Beim Protagonisten handelt es sich um William Stoner, der von seinen als Bauern mehr schlecht als recht lebenden Eltern unter großem Verzicht an die Universität von Missouri geschickt wird, um dort Landwirtschaft zu studieren. Stoner verirrt sich aber ins Englische Seminar, beginnt mit dem Lesen von Gedichten und Romanen, die ihm anfangs erheblichen Widerstand entgegensetzen, wechselt das Studienfach und wird statt Diplom-Landwirt akademischer Lehrer für Englisch mit einem deutlichen Interessenschwerpunkt auf dem Einfluss der lateinischen Literatur auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Dichtung Englands. Man muss sich aber als Leser keine Sorgen machen: Nichts von dem spielt im Roman wirklich eine Rolle; Stoner hätte genauso gut eine akademische Karriere als Mathematiker machen können.

Er heirate die erste Frau, die ihn interessiert; Edith wiederum heiratet ihn, um aus ihrem verhassten Elternhaus herauszukommen, wobei unklar bleibt, ob ihr Vater nur ein Tyrann oder ein Pädophiler ist. Sie haben eine gemeinsame Tochter, Grace, die im Konflikt ihrer unglücklich verheirateten Eltern zum Spielball wird; sie wird sich wie ihre Mutter durch eine frühe, eher zufällige Heirat dem elterlichen Elend entziehen und in ihr eigenes geraten. Zusätzlich zum familiären Unglück gerät Stoners akademische Karriere ins Stocken, als er sich seinem unmittelbaren Vorgesetzten widersetzt und dessen Protegé durch eine Prüfung fallen lässt. Eine zwischenzeitliche Affäre mit einer Doktorandin bildet den emotionalen Höhepunkt in Stoners Leben, aber diese Unterbrechung des allgemeinen Unglücks kann in den späten 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts nicht von Dauer sein. Das Buch endet so voraussehbar wie alles in ihm: Stoner stirbt an Magenkrebs, bevor er einen wohlverdienten Ruhestand antreten könnte.

Der Reiz des Romans liegt sicherlich in seinem durchweg unaufgeregten Erzählton, der recht genau auf die stoische Grundhaltung des Protagonisten abgestimmt ist, und in der Welt im kleinen Kreis, die er schildert. Sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg gehen weitgehend spurlos an Stoner vorbei (im Ersten Wertkrieg fällt allerdings einer seiner beiden einzigen Studienfreunde; ein Verlust, der ihn bis zu seinem Ende nicht loslässt), auch die technische und soziale Entwicklung der USA spielen kaum eine Rolle im Roman. Der Konkurs seiner Schwiegereltern in Folge des Börsenkrachs 1929 und der anschließende Selbstmord seines Schwiegervaters berühren Stoner genauso wenig, wie es der Tod seiner eigenen Eltern tut. Was sollen ihn da andere soziale, wirtschaftliche oder gar technische Entwicklungen interessieren; er lebt hauptsächlich in der Welt der alten englischen Literatur, die aber, wie schon erwähnt, inhaltlich im Roman ebenfalls kaum eine Rolle spielt.

Die Übersetzung von Bernhard Robben habe ich diesmal nicht angeschaut; dazu erschien mir das Buch nicht wichtig genug.

John Williams: Stoner. New York: Vintage digital, 2012. Kindle Edition. 288 Seiten. 8,99 €

Fjodor Dostojewskij: Ein grüner Junge

Er war keineswegs dumm, und er war berechnend, aber hitzig und darüber hinaus unerfahren oder, besser gesagt, naiv, das heißt, er kannte sich weder in Menschen noch in der Gesellschaft aus.

Dieser vorletzte große Roman Dostojewskijs erschien bis Ende 1875 nach vergleichsweise kurzer Planung und Niederschrift (seit Februar 1874). Es handelt sich um Dostojewskijs unverstelltesten Beitrag zur Modeform des Entwicklungsromans, wie sie in Europa im 18. und 19. Jahrhundert im Schwange war. Er erfindet zu diesem Zweck einen jungen, naiven und impulsiven Ich-Erzähler, der aus einer nicht-ehelichen, aber langjährigen Beziehung des verarmten Adeligen Andrej Petrowitsch Werssilow und einer Bedienten stammt. Rechtlich gesehen ist der Erzähler Arkadij Makarowitsch der Sohn des Ehemanns seiner Mutter, Makar Iwanowitsch Dolgorukij, dem sein leiblicher Vater die Ehefrau Sofja abgekauft hatte, nachdem er sich leidenschaftlich in sie verliebte. Werssilow hat außerdem noch zwei Kinder aus einer früheren Ehe und eine weitere uneheliche Tochter Lisaweta, deren Mutter ebenfalls Sofja ist.

Die Haupthandlung des Romans setzt ein, als Arkadij nach dem Ende seiner schulischen Ausbildung in einem kleinen Internat auf Einladung seines Vaters nach Petersburg kommt. Er lebt für eine Weile im Haushalt seiner Mutter, in dem auch seine Schwester wohnt. Tägliche Gäste der Familie sind Werssilow und Tatjana Pawlowna Prutkowa, eine Art Faktotum Werssilows und ihm seit Jahrzehnten treu verbunden. Arkadij ist im Internat aufgrund seiner Herkunft als Außenseiter aufgewachsen, schikaniert und verspottet sowohl durch den Leiter der Schule als auch durch seine Mitschüler. Aus dieser Lage heraus hat er den Lebensplan entwickelt, durch den Erwerb eines großen Vermögens – sein Vorbild ist der Bankier Rothschild – Macht und soziale Unabhängigkeit zu erlangen. Außer diesem Ziel sucht er noch nach engem Kontakt zu seinem leiblichen Vater, von dessen Charakter er in Kindheit und Jugend eine stark idealisierte Vorstellung entwickelt hat.

Der verarmte Werssilow befindet sich zu Anfang der Handlung in einem Erbschafts-Prozess gegen das Fürstenhaus Sokolskij, der sehr bald zu seinen Gunsten entschieden wird und ihn von seinen permanenten Geldnöten befreit. Doch Arkadij besitzt aufgrund seiner früheren Moskauer Kontakte zwei „Dokumente“, die beide die Familie des Fürsten Sokolskij betreffen. Das erste ist eine Willenserklärung des Erblassers zu Ungunsten von Werssilows Anspruch; dies Dokument ist zwar juristisch nicht relevant, macht Werssilows Anspruch auf die Erbschaft aber moralisch anfechtbar. Arkadij überreicht Werssilow das Dokument, nachdem der Prozess entschieden ist, was dazu führt, dass Werssilow sofort auf die komplette, gerade erst gewonnene Erbschaft verzichtet. Dieses erste Dokument ist nur vorhanden, um Arkadij in seinem Wahn zu bestärken, dass es sich bei seinem Vater um ein gänzlich selbstloses Wesen von höchster moralischer Integrität handelt.

Um das zweite Dokument herum konstruiert Dostojewskij den eigentlichen Handlungsknoten des Romans, der allerdings erst im letzten Drittel die Handlung weitgehend bestimmen wird. Es handelt sich dabei um einen Brief der einzigen Tochter des Patriarchen Fürst Nikolaj Iwanowitsch Sokolskij, der verwitweten Generalin Katerina Nikolajewna Achmakowa, die in einer zurückliegenden Familienkrise bei einem Anwalt nachgefragt hatte, unter welchen Voraussetzungen es möglich sei, ihren Vater zu entmündigen, um so zu verhindern, dass er das Familienvermögen verschleudere. (Die unwahrscheinliche Vorgeschichte, warum Arkadij im Besitz dieses Briefes ist, kann man getrost vernachlässigen.) Katerina ist nun besorgt, dass ihr Vater sie enterben werde, wenn man ihm den Brief zuspielen würde. Dieses für den Romanschluss entscheidende Dokument hätte Arkadij vernünftigerweise auf Seite 250 verbrennen sollen und Autor und Leser so die ein wenig mühsamen letzten zwei Drittel des Romans ersparen können. Aber so geht es zu im Literaturbetrieb.

Wie bereits in „Böse Geister“ füllt Dostojewskij lange Passagen des Buches mit gesellschaftlichen Intrigen, vertraulichen Gesprächen, die zu überraschend unvertraulichen Handlungen führen, belauschten Aussprachen, ausschweifenden Reflexionen seines naiven und und auch sonst nicht übermäßig hellen Erzählers, Eifersuchtsanfällen, beleidigenden Briefen, ungewollten Schwangerschaften (zugegeben: es ist nur eine), unehelichen Kindern und so weiter und so fort, um dann im letzten Viertel des Romans auf eine vorgebliche Katastrophe zuzusteuern, die aber wenigstens diesmal knapp an der Erzeugung einer Leiche vorbeikommt.

Um die Katastrophe erzählerisch überhaupt als eine solche ausgeben zu können, ist es wesentlich, dass Dostojewskij sich eine literarisch inkompetente Erzählerfigur konstruiert, wie gleich zu Anfang des Romans wiederholt betont wird. Er benötigt zum einen einen Ich-Erzähler, den er ganze Tage von Hinz zu Kunz und zurück laufen lassen kann, wobei alles Entscheidende immer an Orten passiert, an denen sich der Erzähler gerade nicht befindet und von dem er dann um- und missverständlich unterrichtet werden muss. Zum anderen kann er die wirre, zugleich retardierende und dann immer wieder vorausgreifende Erzählweise, die das Ende des Romans bestimmt und die das einzige Mittel ist, mit dem er dem faden Plot zu einiger Spannung verhelfen kann, der Ungeschicklichkeit und Unerfahrenheit seines Erzählers in die Schuhe schieben.

Die Abläufe im Einzelnen nachzuerzählen, lohnt nicht. Der Leser kann aber beruhigt sein, dass sich am Ende alles zum Besten findet, Arkadij zur Vernunft kommt, wahrscheinlich ein Studium aufnehmen und zu einem nützlichen Idioten werden wird und alle anderen von ihren falschen Leidenschaften und unpassenden Heiratsplänen erlöst werden. Nur Russland kann nicht erlöst werden, weil es am rechten Glauben fehlt. Ganz am Ende hängt Dostojewskij einmal mehr ein Kapitel an, indem er erklären möchte, worauf es denn im Buch eigentlich ankommt, falls irgendwer das bei all dem Hin und Her übersehen haben sollte. Man hat es eben nicht leicht, wenn man Schmonzetten mit hochgeistigem Gehalt schreibt.

Sicherlich zu Recht der am wenigsten gelesene der fünf großen Romane.

Fjodor Dostojewskij: Ein grüner Junge. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich: Ammann, 2006. Leinenband, Fadenheftung, 832 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 15,– €.

Joseph Conrad: Lord Jim

Es war eine merkwürdige, melancholische Vorstellung, aus dem Halbbewussten hervorgekommen wie alle unsere Illusionen – die, vermute ich, einfach nur Bilder einer fernen, unerreichbaren Wahrheit sind, die wir nur undeutlich erkennen.

Joseph Conrad gehört zu meinen eher frühen Lektüren, als ich in Schriftstellern noch Denker vermutete und in ihren Büchern einen tieferen Sinn. Gerade hierfür ist Joseph Conrad ein nahezu idealer Kandidat, da er wohl selbst glaubte, dass allem ein geheimer Sinn innewohnt, den er nur nicht recht in Worte zu fassen, den er aber durch eigenes und nacherzähltes Raunen dem Leser anzudeuten vermochte. Insbesondere die unmittelbare Begegnung des Menschen mit den Naturgewalten, vorzüglich dem Meer in seiner Schönheit und Gefährlichkeit führen ihn zu den existentiellen Einsichten, die die Bücher durchraunen. Dabei sind attraktive, zum Teil spannende, immer gut lesbare Texte entstanden.

Lord Jim, das durch sein Erscheinungsdatum die Jahrhundertgrenze markiert, ist einer der langen Romane Joseph Conrads. Man merkt ihm seine Entwicklung aus einem wesentlich kürzeren Entwurf an, da die erzählerische Konstruktion, dass es sich bei mindestens 70 % des Romans um die Erzählung Charles Marlows an einem einzigen Abend handelt, doch sehr strapaziert wirkt. Überhaupt leidet auch dieses Buch unter der Pest des 19. Jahrhunderts, dass alles zu Ende erzählt werden muss und es deswegen mindestens 100 Seiten mehr hat, als ihm gut tut. Es ist wohl nicht falsch, das Buch in zwei Hauptteile einzuteilen, die durch Einleitung, Überleitung und Ende gerahmt sind: Der erste Teil beschäftigt sich mit der Reise des Pilgerschiffs Patna, der zweite Teil mit der Karriere des Titelhelden als Eingeborenenkönig irgendwo in Südostasien. Nach einer auktorialen Einführung der Figur Jims nutzt Conrad den Wechsel zum Erzähler Marlow – den er später unter anderem auch für sein berühmtes Herz der Finsternis gebrauchen sollte – um den Leser für weitere 50 Seiten über den Ausgang der ersten Krise in Jims jungem Leben im Unklaren zu lassen.

Jim jedenfalls versagt für einen Augenblick in einer Krisensituation und wird von der Ironie des Schicksals sofort für dieses Versagen heftig niedergeschlagen: Er verliert sein gerade erst erworbenes Offizierspatent und ist in ein Leben entlang der Küste gezwungen, wo er sich für verschiedene Schiffsausstatter als Hafenagent verdingt. Immer, wenn ihn die Geschichte seiner Schande einholt, zieht er weiter nach Osten. Schließlich trifft er in Mr. Stein einen ihm geneigten Menschen, der ihm einen entlegenen Handelsposten im fiktiven Patusan anbietet, wo Jim als einer von nur zwei Weißen Karriere als eigentliche Macht vor Ort macht, sich in ein Mädchen verliebt und endlich einen kleinen Platz auf der Welt gefunden zu haben scheint, wo er seine Jugendträume von Bedeutung, Einfluss und Verantwortung ausleben kann. Natürlich muss auch hier ein Ende gefunden werden, weshalb das Buch leider in einer Art von Piratengeschichte endet, die nur als angeklebt bezeichnet werden kann.

Abstrakt betrachtet handelt es sich bei Lord Jim um eine Variation auf den im 19. Jahrhundert beliebten Entwicklungsroman mit der besonderen Pointe, dass die Gesellschaft, in der Jim nach seinem Fall seinen Ort und seine Bestimmung findet, am gegenüberliegenden Längengrad der Welt liegt. Man kann dies sowohl als Kritik an  der westlichen Welt und ihrer unmoralischen Moral verstehen wollen oder auch als Missbilligung der merkwürdig hochgespannten Persönlichkeit Jims, der erst sehr spät und sehr endgültig zu einer Einsicht in die tatsächliche Verfasstheit der Welt gelangt. Gerade die letzte Lesart sollte in der Wahrnehmung des Lesers gekontert werden durch die Sympathie, die beide Erzählerfiguren Jim entgegenbringen, indem sie immer und immer wieder betonen, Jim sei „einer von uns“ (diese Formel wird mindestens acht Mal auf den knapp 500 Seiten des Romans benutzt).

Dass ich Lord Jim gerade jetzt wieder gelesen habe, verdankt sich eher einem Zufall: Im letzten Jahr wurde Conrads Die Schattenlinie neu übersetzt – ebenfalls in nächster Zeit hier zu besprechen – und in diesem Zusammenhang habe ich meinem Buchhändler gegenüber einmal mehr die Übersetzung von Herz der Finsternis durch Manfred Allié gelobt; mein Buchhändler fand rasch heraus, dass Allié inzwischen auch den Lord Jim ins Deutsche übertragen hatte. Und auch diesmal hat sich der Übersetzer am Text bewährt. Es ist nicht einfach, das Raunende und Indirekte Conrads zu übersetzen: Es gerät leicht ins mystische Schwafeln oder in die blanke Undeutlichkeit, aber Allié ist es auch hier gelungen, den Grundton Conrads und seine Indirektheit sehr angemessen ins Deutsche zu übertragen.

Das Buch als Buch allerdings ist leider eines der Ärgernisse, wie sie sich immer öfter im Buchhandel finden: Für das sogenannte Hardcover (was einen festen statt eines flexiblen Pappkarton als Umschlag bedeutet, nicht mehr) wurde der Satzspiegel des Taschenbuchs schlicht optisch aufgeblasen (dieses Verfahren hat eine ganze Reihe von Großdruck-Büchern erzeugt), und man hat sich bei Fischer nicht einmal die Mühe gemacht, eine eigenes Cover-Bild für den Schutzumschlag zu entwerfen, sondern einfach den Umschlag des Taschenbuchs benutzt. Daher ziert dieses Hardcover das Logo der Fischer Taschenbuchreihe. Was der Käufer also für die 8,– €, die das Hardcover mehr kostet als das Taschenbuch, bekommt, ist ein optisch hässlicher Buchsatz und einen festen Pappendeckel um das Buch geklebt; auch ein angeklebtes Stofflesezeichen findet sich. Zum Ausgleich kostet wenigstens das E-Book, zu dem ich angesichts der Qualität der gedruckten Ware raten würde, nur 3,99 €.

Joseph Conrad: Lord Jim. Eine Erzählung. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Frankfurt: S. Fischer, 2014. Pappband, Lesebändchen, 493 Seiten. 22,99 €.

Oscar Wilde: Das Bild des Dorian Gray

Wir leben in einer Zeit, wo man zuviel liest, um klug zu sein, und wo man zu viel denkt, um schön zu sein.

Wildes einziger Roman, entstanden 1890, ist eine Mischung gängiger zeitgenössischer literarischer Tendenzen: Je ein Teil Schauer- und Mord-Geschichte, ein Gutteil Dekadenz-Roman, ein wenig Künstler- und der übliche Schuss Entwicklungsroman und schon ist der Plot fertig. Dies alles ist exzellent miteinander legiert worden und bildet auf den ersten Blick eine überzeugende Einheit; es leidet zwar unter dem Mangel eines bedeutenden Teils der Phantastik, nämlich dass das zentrale Motiv – hier die Übertragung von Alter und moralischem Verfall vom Protagonisten auf sein Abbild – gänzlich unerklärt bleiben muss, aber Wilde gelingt es, diesen Einfall geschickt mit der moralischen Ebene des Romans zu verflechten. 

Die Grundzüge der Fabel dürften weithin bekannt sein: Der junge, auffallend gutaussehende Dorian Gray wird von seinem Freund, dem Maler Basil Hallward portraitiert. Während der letzten Sitzung lernt er im Atelier den Dandy Lord Henry Wotton kennen, der ihm seine rhetorische Theorie eines neuen Hedonismus aufschwätzt. Dorian gerät rasch unter den Einfluss Lord Henrys, was sich zum ersten Mal deutlich zeigt, als sich Dorian in eine Schauspielerin verliebt, die gerade als er sie zum ersten Mal seinen Freunden Basil und Lord Henry vorführen will, ihr darstellerisches Vermögen verliert und durchfällt. Enttäuscht und blamiert wendet sich Dorian von ihr ab und stellt daheim fest, dass sich dieser grausame Zug seines Charakters zwar in Hallwards Portrait, nicht aber in seinem Gesicht abgezeichnet hat. Auch die nachfolgende Trauer über den Selbstmord der Schauspielerin verwindet Dorian mit Hilfe von Lord Henrys Geschwätz rasch und wird so ein schlechter Mensch. 

Dorians weitere Karriere zum moralisches Monster erspart Wilde sich und uns, stattdessen bekommen wir in Kapitel 11 einen kunsthistorischen Vortrag serviert, der die umfangreiche Belesenheit Wildes dokumentiert. Wir finden Dorian nach einigen Jahren wieder als einen notorisch bekannten Lebemann, immer noch so schön wie früher und immer noch ebenso hohl. Seine Karriere des moralischen Verfalls gipfelt in einem Mord, den er noch vertuschen kann, der aber zu einer nicht unerheblichen Paranoia führt; hinzukommt, dass der Bruder der Schauspielerin versucht, deren Tod zu rächen, sich aber für den Augenblick von Dorians scheinbarem Alter verwirren lässt. Als jedoch alle diese Schwierigkeiten glücklich überwunden sind, möchte Dorian endlich ein neues Leben beginnen und ein guter Mensch werden. Zu diesem Zweck will er das schicksalshafte Portrait endlich zerstören, das sich aber auch am Ende als mächtiger erweist als er.

Sieht man von all diesem unerklärlichen Unfug ab, so ist es ein ganz nettes Buch. Gerade, dass die Schauer- und Mord-Romantik nur einen Nebenstrang der Erzählung bildet und Wilde das Hauptgewicht auf die moralische Entwicklung seines Protagonisten legt, macht die Geschichte erträglich. Alles in allem ist Das Bild des Dorian Gray das Gesellenstück eines Autors, der sehr genau weiß, wie die zeitgenössische Literatur funktioniert und aus seiner Analyse ein Modell des modernen Romans zu basteln versteht, das er dann mit einer einigermaßen interessanten Handlung auszustaffieren versteht. So schreiben Literaturkritiker oder -professoren ihre Romane.

Die Übersetzung von Hans Wolf ist sehr gut lesbar, wenn sie auch an einigen wenigen Stellen stilistisch nicht ganz auf der Höhe von Wildes sehr elegantem Englisch ist. Sie dürfte aber wohl den wirklich zahlreichen älteren Übersetzungen klar vorzuziehen sein.

Oscar Wilde: Das Bild des Dorian Gray. Aus dem Englischen von Hans Wolf. Werke in 5 Bänden, Bd. 1. Zürich: Haffmans, 1999. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 352 Seiten. Diese Übersetzung ist derzeit bei Zweitausendeins lieferbar.

Philip Roth: Die Kepesh-Trilogie

Philip Roth hat zwischen 1972 und 2001 drei Erzählungen veröffentlicht, in denen der Literaturprofessor David A. Kepesh als Ich-Erzähler fungiert. Der Auftakt-Text »The Breast« (1972) ist eine vergleichsweise kurze Erzählung, während es sich bei den beiden anderen Texten, »The Professor of Desire« (1977) und »The Dying Animal« (2001), um Romane handelt, auch wenn der spätere eher ein Kurzroman ist.

Reflect upon eternity, consider, if you are up to it, oblivion, and everything becomes a wonder. Still, I would submit to you, in all humility, that some things are more wondrous than others, and that I am one such thing.

Roth_LOA_02»The Breast« erzählt eine kurze, abgegrenzte Episode aus dem Leben David Kepeshs: In den frühen Morgenstunden des 18. Februars 1971 verwandelt sich der 38-jährige Literaturprofessor in eine 155 Pfund schwere, weibliche Brust. Kepesh wird bei der Verwandlung ohnmächtig und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich. Er ist blind, kann aber hören und sprechen und so mit seiner Umwelt kommunizieren. Seine regelmäßigen Besucher sind seine 25-jährige Freundin Claire, sein Psychiater Dr. Klinger und sein Vater.

Zwar wird für die Verwandlung selbst irgendeine (schlecht erfundene) medizinische Begründung geliefert, aber Kepesh kommt zu dem nicht unwahrscheinlichen Schluss, dass er wahnsinnig geworden sein muss, da die Verwandlung eines Mannes in eine Brust schlicht unmöglich sei. Kepesh wehrt sich eine ganze Zeitlang erfolgreich gegen die Versuche Dr. Klingers, ihn von der Realität der Verwandlung zu überzeugen, aber – wie Sigmund Freud so treffend bemerkte – erkennt natürlich niemand einen Wahn, solange er ihn noch teilt. Ob Kepeshs Wahn allerdings darin besteht, sich einzubilden, eine Brust zu sein, oder darin, sich einzubilden wahnsinnig zu sein, bleibt bis zum Ende der Erzählung aufgrund ihrer konsequenten Ich-Perspektive unentschieden. Auch findet am Ende der Erzählung keine Rückverwandlung oder irgend eine andere Art von Vermittlung zwischen der Fiktion und der sogenannten Wirklichkeit der Leser statt.

Bei »The Breast« handelt es sich offensichtlich um Literatur aus Literatur. Roth schätzt die Belesenheit seiner US-amerikanischen Leser nicht sehr hoch ein und liefert daher die wichtigsten Quellen seiner Erzählung explizit mit: Kepesh hält einen regelmäßigen Kurs über europäische Literatur, in dem unter anderem auch Franz Kafkas »Die Verwandlung« und Nikolaj Gogols »Die Nase« (1836) behandelt werden. Während ich die Fabel von »Die Verwandlung« als bekannt voraussetzen darf, will ich die der »Nase« wenigstens in ihren Grundzügen nacherzählen: Ein Petersburger Barbier findet eines Morgens beim Frühstück in dem von seiner Frau frisch gebackenen Brot die Nase eines seiner Kunden, des Kollegienassessors Kowalow. Er beseitigt sie, in dem er sie in ein Taschentuch gewickelt in die Newa wirft. Kowalow bemerkt ebenfalls das Fehlen seiner Nase, an deren Stelle sich eine glatte Fläche in seinem Gesicht findet. Kurze Zeit später erkennt Kowalow seine Nase in der Gestalt und Uniform eines Staatsrates wieder. Nach einigen absurden Verwicklungen wird Kowalow seine Nase von der Polizei wieder zugestellt, da sie sich als Hochstapler erwiesen hat und verhaftet wurde. Auch wenn die Nase zuerst nicht wieder mit dem Gesicht ihres Besitzers zusammenwachsen will, so geht doch alles gut aus, als Kowalow eines Morgens unvermittelt wieder mit der Nase an der richtigen Stelle seines Gesichtes erwacht. Gogol beschließt die Novelle mit folgenden Reflexionen:

Aber das Seltsamste, Unbegreiflichste an der Sache ist, wie es nur Schriftsteller geben kann, die sich solche Gegenstände wählen. Ich muß gestehen, das ist mir das Allerunbegreiflichste … in der Tat, das geht vollständig über mein Begriffsvermögen! Denn erstens hat das Vaterland nicht den mindesten Nutzen davon, und dann zweitens – aber auch zweitens springt kein Vorteil dabei heraus. Kurz, ich weiß nicht, was das soll …

Aber dennoch, trotz alledem, obwohl man schließlich dies und jenes und noch ein drittes zugeben kann und vielleicht sogar … wo gibt es denn übrigens keine unsinnigen Dinge? – Wie man die Geschichte auch drehen und wenden mag, irgend etwas ist doch daran. Man rede, was man will, solche Dinge gibt es in der Welt – zwar nur selten, aber sie kommen vor. [Übers. v. Wilhelm Lange.]

Als dritte Quelle weist Roth auf Swift hin, insbesondere auf die zweite von Gullivers Reisen, aus der er offenbar mehr oder weniger direkt die Idee der riesigen weiblichen Brust bezieht:

Den meisten Widerwillen erregten mir aber die Ehrendamen (wenn meine Wärterin mich zu ihnen brachte), wenn sie alle Rücksichten mir gegenüber beiseite setzten, als sei ich ein geschlechtsloses Geschöpf; denn sie pflegten sich nackt auszuziehen und ihre Hemden anzuziehen, während ich auf ihrem Putztisch gerade vor ihren entblößten Gliedern stand […]. Die schönste dieser Ehrendamen, ein hübsches und munteres Mädchen von sechzehn Jahren, setzte mich mitunter mit gespreizten Beinen auf eine ihrer Brüste und spielte mir mehrere Streiche, deren Übergehung der Leser hier entschuldigen wird, da ich nicht langweilig werden will. [Übers. v. Franz Kottenkamp.]

Für den heutigen Leser hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Erzählung eine unmittelbare Reaktion auf das ist, was gerne als die sexuelle Revolution bezeichnet wird. Diesen Zusammenhang wird Roth in der letzten Kepesh-Erzählung weit deutlicher thematisieren. Dass eine satirische Behandlung der Mammae-Fixierung eines bedeutenden Teils der US-amerikanischen Männer (und wahrscheinlich auch des Autors) ein offensichtliches Thema der Zeit gewesen sein muss, kann man an der schönen Koinzidenz ablesen, dass im selben Jahr wie die Erzählung auch Woody Allens Film »Everything You Always Wanted to Know About Sex« in die Kinos kam, in dem in einer Episode als Ergebnis des Experimentes eines verrückten Wissenschaftlers eine gigantische Brust aus einem Labor ausbricht und die Umgebung terrorisiert.

 

Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
(© United Artists 1972)

 

And I can’t stand him any more. But then i can’t stand anyone. Everything everyone says is somehow wrong and drives me crazy.

Roth_LOA_03Fünf Jahre nach dieser literarischen Handübung mit satirischen Untertönen liefert der Roman »The Professor of Desire« die Vorgeschichte des Ich-Erzählers David Kepesh. Beginnend mit seiner Kindheit als Sohn eines jüdischen Hotelbesitzers in den Catskills erzählt David Kepesh seine Lebensgeschichte bis zum Ende der 60er Jahre. Er entkommt aus den proviziellen Verhältnissen seines Elternhauses an die Universität, wo er sich trotz ersten Ablenkungen durch seine sexuelle Begierde als außergewöhnlicher Student erweist und daher für ein Jahr als Fulbright-Stipendiat nach London gehen darf.

In London erst beginnt sein Sexualleben aufzublühen: Nach ersten Abenteuern mit Prostituierten lernt er zwei zusammenlebende Schwedinnen, Elisabeth und Brigitta, kennen und beginnt zuerst mit der einen, dann mit beiden zugleich ein sexuelles Verhältnis. Diese Dreieck scheitert, als Elisabeth versucht sich umzubringen; der Versuch scheitert, und sie kehrt nach Schweden zurück. Kepesh ist zwar von Gewissensbissen geplagt, wohnt aber weiterhin mit Brigitta zusammen und nimmt auch bald darauf die sexuelle Beziehung zu ihr wieder auf. Diese Erziehung des Gefühls gipfelt in einer gemeinsamen Tour durch Frankreich und Europa, die eine offensichtliche Parodie auf die Kavaliersreisen des 18. und 19. Jahrhunderts darstellt. Für Kepesh ist es klar, dass seine bevorstehende Rückkehr in die USA das Ende seiner Beziehung zu Brigitta bedeuten wird; als auch ihr klar wird, dass Kepesh sie nicht mitzunehmen gedenkt, beendet sie das Verhältnis mit ihm sang- und klanglos.

Die Erzählung überspringt ökonomisch einige Jahre und setzt mit dem Beginn von Kepeshs Beziehung zu Helen Baird wieder ein. Helen ist das, was man ein It-Girl nennt. Sie ist aus den spießigen US-amerikanischen Verhältnissen nach Südostasien geflohen, wo sie eine Zeitlang als Gespielin der Reichen und Schönen zugebracht hat. Als einer der Tycoone ihr anbietet, zu ihren Gunsten seine Gattin beseitigen zu lassen, überkommen sie moralische Zweifel, und sie flieht vor ihrem Halbwelt-Leben zurück in die USA, wo sie von Kepesh auf einer Party aufgelesen wird. Er heiratet Helen, die allerdings angesichts der bürgerlichen Verhältnisse, in die sie durch diese Ehe geraten ist, in Depressionen verfällt und sich mit dem Konsum von Alkohol und Drogen betäubt. Verzweifelt flieht sie erneut nach Hongkong und landet dort im Gefängnis, aus dem Kepesh sie mit der Hilfe eines ihrer alten Freunde befreien und in die USA zurückbringen kann. Mit dieser Episode endet die Ehe.

Nach der Scheidung verfällt Kepesh selbst in eine Phase der Depression; er wechselt von der West- an die Ostküste der USA, beginnt den uns schon bekannten Psychiater Dr. Klinger zu sehen und lernt schließlich nach einer ganzen Weile Claire Ovington, eine Grundschullehrerin, kennen, die ihn körperlich an Helen erinnert (beide Frauen haben natürlich große Brüste), der aber Helens Neurosen und Depressionen ganz und gar fremd sind. Mit Claire beginnt die glückliche Phase in Kepeshs Leben. Er entspannt sich und hier und da scheint es fast, als gelinge es ihm für ein Weilchen einfach nur er selbst zu sein, anstatt ständig inneren und äußeren Ansprüchen, Selbst- und Fremdbildern nachzulaufen. Kepesh reist mit Claire nach Europa, und in Venedig glückt es ihm sogar beinahe, mit der Erinnerung an Brigitta Frieden zu schließen. Das Paar kehrt schließlich nach einem Abstecher über Prag (womit das für »The Breast« zentrale Thema Kafka eingeholt wird, dessen Vorbildcharakter in »The Professor of Desire« übrigens von Tschechow übernommen wird) in die Staaten zurück, wo sie sich für den Sommer ein Haus mieten und das Zusammenleben ausprobieren. Der Roman klingt aus mit einer längeren Episode, in der Davids Vater ihn und Claire besucht, was Gelegenheit dazu gibt, den Tod als Thema in den Roman einzuführen. Ich musste unwillkürlich an den Satz Thomas Buddenbrooks denken: wenn das Haus fertig ist , so kommt der Tod.

Als leise, aber unverkennbar ironische Variation des Musters des klassischen Entwicklungsromans liefert »The Professor of Desire« ein solides Fundament für die Kafka/Gogol-Parodie von »The Breast«; allerdings hätte die kurze, phantastische Erzählung von der Verwandlung eines ordentlichen Professors in das obskure Objekt seiner Begierde kaum im Anschluss an diese Vorgeschichte geschrieben werden können oder zumindest nicht in der unvermittelten Weise, wie dies geschehen ist. Es ist daher kein kleiner Glücksfall, dass David Kepesh im Augenblick seiner Verwandlung das Licht der Literatur erblickt hat.

 

Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York
Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York

 

People think that in falling in love they make themselve whole? The Platonic union of souls? I think otherwise. I think you’re whole before you begin. And the love fractures you. You’re whole, and then you’re cracked open.

Roth_LOA_08Erst 2001 erscheint der dritte und letzte Text um David Kepesh. In »The Dying Animal« (der Titel ist ein Yeats-Zitat) ist der Ich-Erzähler inzwischen 70 Jahre alt. Er erinnert sich erzählend an eine acht Jahre zurückliegende Affäre mit einer seiner Studentinnen, Consuela Castillo, der 24-jährigen Tochter eines wohlhabenden kubanischen Exil-Ehepaars, die körperlich dem Grundmuster von Helen und Claire folgt: eine kräftige Frau mit ausladenden Brüsten. Die Affäre dauert anderthalb Jahre und endet, als Kepesh nicht auf der Feier von Consuelas Studienabschluss erscheint, weil er auf dem Weg zum Haus der Castillos von Furcht vor der Begegnung mit der Familie Castillo und dem Bewusstsein der Lächerlichkeit seiner Rolle überwältigt wird. Consuela verzeiht ihm seine Ausrede, dass sein Wagen liegen geblieben sei, nicht.

Die Trennung stürzt Kepesh wieder einmal in eine existenzielle Krise, die er erst nach drei Jahren einigermaßen überwunden hat. Doch am Silversterabend des Jahres 1999 meldet sich Consuela, von der er seit der Trennung nur einige Postkarten erhalten hat (darunter auch eine mit dem Akt Modiglianis, der oben zu sehen ist und von Kepesh ausdrücklich als das Alter Ego Consuelas bezeichnet wird), telefonisch bei ihm und besucht ihn kurz darauf. Sie kommt, um ihm zu sagen, dass man bei ihr Brustkrebs festgestellt und dass sie eine Chemotherapie hinter sich habe und eine Operation in Kürze bevorstehe, bei der man ihr einen Teil der rechten Brust entfernen wird. Sie bittet Kepesh, Fotos von ihr zu machen, die ihren Körper so festhalten, wie Kepesh ihn gekannt und geliebt hat. Anschließend verschwindet sie wieder für einige Wochen, nur um ihm dann mitzuteilen, dass der Operationstermin nun feststehe und man ihr die ganze rechte Brust wird entfernen müssen.

Erzählt wird dies alles als langer Monolog Kepeshs vor einem anonym bleibenden Zuhörer an dem Tag, als Consuela sich wieder bei Kepesh meldet. Consuela ist in Todesangst, und der Text endet damit, dass Kepesh aufbrechen will, um ihr beizustehen. Nur an dieser einen Stelle kommt der Zuhörer von Kepeshs Monolog zu Wort:

Stay if you wish. If you want to stay, if you want to leave . . . Look, there’s no time, I must run!
»Don’t.«
What?
»Don’t go.«
But I must. Someone has to be with her.
»She’ll find someone.«
She’s in terror. I’m going.
»Think about it. Think. Because if you go, you’re finished.«

Mit diesem Satz beendet Roth die Geschichte David Kepeshs. Er ist auch der Grund für die eher ungewöhnliche Erzählperspektive des Textes, da das abschließende Urteil, Kepesh sei erledigt, wenn er seinem Gefühl für Consuela noch einmal nachgebe, nur dann seine ganze Wirkung entfalten kann, wenn es sich dabei nicht um eine weitere der endlosen Selbstbespiegelungen Kepeshs, sondern um das objektive Urteil eines Dritten handelt. Dass dieser Dritte sowohl der Autor als auch der Leser sein kann und sein soll, steht für mich außer Frage.

Der Kurzroman »The Dying Animal« rundet die Kepesh-Trilogie auf elegante Weise ab, indem er das Thema des Todes als Widerlager des sexuellen Begehrens Kepeshs, das am Ende von »The Professor of Desire« kurz erschienen war, aufgreift und durchführt. In diesem Sinne bilden die drei Texte eine relativ geschlossene Einheit. Dies könnte aber darüber hinwegtäuschen, dass Roth sich mit der Biographie Kepeshs erhebliche Freiheiten herausnimmt: In »The Breast« ist Kepesh im Februar 1971, zum Zeitpunkt seiner Verwandlung, 38 Jahre alt, was seine Geburt in das Jahr 1932 oder 1933 (das Geburtsjahr des Autors) legt. Claire ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Fünf Jahre später werden diese Daten leicht variiert: »The Professor of Desire« endet im Jahr 1969 oder 1970; die Terminierung ist dadurch möglich, dass der letzte Teil der Erzählung mindestens ein Jahr nach dem Ende des Prager Frühlings spielt. Kepesh ist in diesem Jahr 34 Jahre alt, während Claire wieder als 25-Jährige auftritt. Der Altersunterschied zwischen beiden ist also um vier Jahre geschrumpft, und Kepeshs Geburtsjahr liegt im Jahr 1935 oder 1936.

Noch heftiger werden die Verwerfungen in »The Dying Animal«: Hier ist Kepesh zu Anfang des Jahres 2000 70 Jahre alt, was sein Geburtsjahr in das Jahr 1929 vorverlegt. Er weiß in diesem Buch nichts mehr von Claire oder Helen, von Brigitta oder Elisabeth, stattdessen hat er einen 42-jährigen Sohn, Kenny, der aus einer Ehe hervorgegangen ist, die wahrscheinlich von 1956 bis 1965 gedauert hat. Kepesh behauptet außerdem, er habe bereits mit 16 eine Geschlechtskrankheit gehabt, die er zusammen mit ihrer Spenderin in »The Professor of Desire« verschwiegen hatte. Andererseits haben auch die Eltern dieses Kepeshs ein Hotel in den Catskills geführt, so dass wenig Zweifel bestehen, dass die beiden anderen Kepeshs mit diesem identisch sein sollen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass Kepesh seinen anonymem Zuhörer mit einer erfundene Biographie täuschen will, da er zum Beispiel an einer Stelle einen Brief seines Sohnes vorliest, also einen physischen Beweis für die Fundiertheit seiner Erzählung liefert, ohne dass dies in irgend einer Weise notwendig wäre. Überhaupt ist kein Grund zu erkennen, warum dieser Kepesh in Sachen seiner Biographie seinen Zuhörer und den Leser anlügen sollte. Es bleibt als Schlussfolgerung nur, dass Roth, um Kepeshs Verwicklung in die Dynamik des studentischen Lebens Mitte der 60er Jahre und die sogenannte sexuelle Revolution wahrscheinlich und sinnvoll zu machen, ihm eine völlig andere Biographie zuschreiben musste. Warum auch nicht, nachdem er ihn schon einmal ganz und gar in eine weibliche Brust transformiert hatte?

Die Kepesh-Trilogie ist ein schönes Muster für die schriftstellerische Durcharbeitung und Fortschreibung einer literarischen Figur und eines Konglomerats von Themen und Motiven, wobei sich die Gewichtung der Motive und ihre perspektivische Darstellung mit dem Alter und der Erfahrung des Autors verändern. Dabei besteht kein Anspruch, mehr zu tun, als den Mitlebenden ein Leben zu erzählen, in dem sie sich mehr oder weniger klar spiegeln können, wobei es ihnen nicht anders ergeht als dem Protagonisten dieses Lebens selbst.

  • Philiph Roth: The Breast. In: Novels 1967–1972. New York: Library of America, 2005. S. 601–641. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.
  • Philiph Roth: The Professor of Desire. In: Novels 1973–1977. New York: Library of America, 2006. S. 679–869. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 27,– €.
  • Philiph Roth: The Dying Animal. In: Novels 2001–2007. New York: Library of America, 2013. S. 1–91. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.

Valdimir Nabokov: Die Mutprobe

Die Aussicht, weitschweifige seichte Werke und ihren Einfluß auf andere weitschweifige seichte Werke zu untersuchen, reizte ihn nicht.

nabokov_werke_02Dieser 1930 unmittelbar im Anschluss an »Der Späher« auf Russisch geschrieben Roman macht lange Zeit den Eindruck eines konventionellen modernen (man entschuldige dieses in der Sache begründete Oxymoron) Entwicklungsromans: Erzählt werden die Jugend- und frühen Erwachsenenjahre des russischen Exilanten Martin Edelweiß (der seinen Namen Schweizer Vorfahren verdankt), der nach der Trennung der Eltern und dem Tod des Vaters mit der Mutter nach Westeuropa zieht, in Cambridge Irgendwas studiert, sich in Sonja, die Tochter einer anderen Exil-Familie verliebt, die aber nichts von ihm wissen will, und schließlich aus unklaren Gründen illegal nach Russland zurückkehrt und dort verschwindet. Eine oberflächliche Lektüre könnte dem Verdacht Vorschub leisten, dass Nabokov hier zur erzählerischen Harmlosigkeit seines ersten Romans »Maschenka« zurückkehrt.

Der Roman fällt allerdings durch zwei Eigenschaften auf: Zum einen wird die oft stagnierende Handlung durch sehr exakte atmosphärische Schilderungen aufgewertet, zum anderen wird das Verschwinden des Protagonisten nicht nur von langer Hand vorbereitet, sondern es wird auch als Verschwinden in eine phantastische, artistische Wirklichkeit dargestellt, was den vorherrschenden realistischen Ton des Romans komplett diskreditiert. Bereits als Kind träumt Martin davon, in dem Landschaftsbild über seinem Bett zu verschwinden, in dem er dem dort dargestellten Waldweg folgt, und Nabokov lässt für den aufmerksamen Leser wenig Zweifel daran, dass Martins letzter Weg ihn in das mit der von ihm geliebten Sonja zusammen erfundene Soorland führt. Dieser Übergang ins Phantastische ist allerdings auch das einzige, was sich vernünftigerweise mit dem durch und durch unpraktischen und weltfremden Martin anfangen lässt.

Der Roman ist alles in allem ganz nett zu lesen und wegen seines romantischen Gegenspiels unter scheinbar realistischer Flagge reizvoll. Am Ende wird ihn der Leser aber wahrscheinlich doch ein wenig enttäuscht zur Seite legen, denn der ästhetische Gewinn des artistischen Spiels fällt für die gut 300 Seiten doch ein wenig dünn aus.

Vladimir Nabokov: Die Mutprobe. Aus dem Englischen von Susanna Rademacher. In: Gesammelte Werke II. Frühe Romane 2. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 22008. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 327 (von 777) Seiten. 29,– €.

Charles Dickens: Große Erwartungen

Armer Junge!

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Dieser 1860/1861 entstandene Roman gehört nach »Oliver Twist« und »David Copperfield« sicherlich zu den beliebtesten Büchern Charles Dickens’. Das liegt wohl auch daran, dass Dickens die Sozialkritik, die etwa in »Bleakhaus« oder »Harte Zeiten« sehr im Vordergrund zu finden ist, hier wieder zugunsten einer eher unverbindlichen und humoristischen Erzählweise zurückgedrängt wurde. Dickens hat das Buch unter großem Zeitdruck in wöchentlichen Lieferungen für seine eigene Zeitschrift »All the Year Round« geschrieben, was sich in einem vergleichsweise reduzierten Figurenensemble und einigen deutlich stagnierenden Passagen niedergeschlagen hat. Auch ist die Konstruktion des Handlungs- und Beziehungsgeflechts bei weitem nicht so komplex wie etwa in »Bleakhaus«.

Erzählt wird die Lebensgeschichte des Jungen Philip Pirip, von allen nur Pip genannt, der als Waise im Haushalt seiner viel älteren, mit einem Schmied verheirateten Schwester lebt. Der Roman beginnt etwa in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts und spielt in der Hauptsache in London und dem östlich davon liegenden Marschland, in dem sich die Themse in die Nordsee ergießt. In diesem Marschland wächst Pip in ärmlichen, aber gesicherten Verhältnissen auf. Der Roman beginnt mit der schicksalshaften Begegnung Pips mit einem Flüchtling von einem der in der Nähe liegenden Gefängnis-Schiffe. Halb aus Mitleid, halb aus Angst vor dem unheimlichen Menschen versorgt ihn Pip mit Nahrunsgmittels und einer aus der Werkstatt seines Ziehvaters gestohlenen Feile. Doch wird der Flüchtige trotzdem bald wieder eingefangen und verschwindet für lange Zeit aus dem Buch.

Zur selben Zeit beginnt Pip damit, regelmäßig das Haus von Miss Havisham zu besuchen. Miss Havisham ist die Erbin eines Brauers und als junge Frau von einem Hochstapler am Tag ihrer Hochzeit sitzen gelassen worden. Seit diesem Tag lebt sie vereinsamt in der elterlichen Villa, in der alles unverändert so geblieben ist, wie es zum Zeitpunkt der geplanten Hochzeit war. Sie selbst trägt noch immer das Hochzeitskleid, das inzwischen so weit heruntergekommen ist wie das Haus, in dem sie lebt. Der etwa sechsjährige Pip wird als Spielgefährte für die gleichaltrige Estella eingeladen, die, dem Anschein nach ebenfalls eine Waise, als Ziehtochter im Hause Havisham lebt. Estella wird von Miss Havisham zu ihrem Rachewerkzeug an den Männern erzogen, und Pip ist eines der ersten Übungsobjekte für die junge Herzlose, was natürlich zu nichts anderem führen kann als dazu, dass er sich unsterblich in das seelenlose Wesen verliebt.

Als Pip in die Pubertät kommt, bricht Miss Havisham den Kontakt zwischen ihm und Estella ab und versorgt den Jungen, in dem sie seine Lehre in der Werkstatt seines Ziehvaters finanziert. Diese Lehre wird nach einigen Jahren durch das überraschende Erscheinen des Londoner Anwalts von Miss Havisham, Mr. Jaggers, abgebrochen, der Pip eröffnet, er sei von einem seiner Klienten als Erbe eines großen Vermögens vorgesehen worden und solle deshalb von nun an zum Gentleman ausgebildet werden. Er werde in London leben, Unterricht erhalten und sich auf das sorgenfreie Leben in der besseren Gesellschaft vorbereiten. Für seinen Unterhalt bis dahin sei gesorgt; er dürfe aber in keinem Fall nach der Identität seines Wohltäters forschen. Für Pip ist nur eine Erklärung möglich: Miss Havisham hat sich eines anderen besonnen und will ihn zum Ehemann für Estella heranziehen. Dass sich diese offensichtliche Lösung des Rätsels als falsch erweisen muss, versteht sich von selbst.

Es ist nicht wichtig, hier die Auflösung dieser langen Exposition nachzuerzählen. Reizvoll ist dieser Entwicklungsroman in der Hauptsache dadurch, dass seine beiden Hauptfiguren über weite Strecken als Marionetten der Intentionen anderer agieren und Pips Erwachsenwerden im wesentlichen Sinne erst einsetzt, als er sich von dem für ihn vorgezeichneten Weg löst und für sich selbst und seinen Wohltäter Verantwortung übernimmt. Dickens verweigert sich dabei dem in der Exposition vorgezeichneten Happy End und überführt seine beiden Protagonisten statt dessen in ein ganz gewöhnliches Unglück.

Wie immer brilliert Dickens besonders in den Rand- und Nebenfiguren des Romans. Sowohl der monomanische Mr. Jaggers als auch sein dualistischer Gehilfe Wemmick machen dem Leser viel Vergnügen, und auch der kinderreiche Haushalt von Pips Lehrer Mr. Pocket hinterlässt mit seinem Chaos einen tiefen Eindruck. Überhaupt finden sich, wie bereits gesagt, zahlreiche humoristische Passagen, auch wenn sie im Gesamtzusammenhang des Romans zum Teil etwas erratisch wirken.

Die Neuübersetzung Melanie Walz ist gut zu lesen und hat sich an den Stellen, an denen ich sie verglichen habe, als zuverlässig und präzise erwiesen. Sie soll im November dieses Jahres auch bei dtv im Taschenbuch erscheinen.

Charles Dickens: Große Erwartungen. Aus dem Englischen übersetzt von Melanie Walz. München: Hanser, 2011. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 829 Seiten. 34,90 €.

John Griesemer: Herzschlag

»Hast Du zurückgeschaut?«
»Nein.«

Vorerst letzter Teil meiner kleinen Lesereihe zum Thema 11. September 2001. Allerdings handelt es sich bei John Griesemer »Herzschlag« nur am Rande um ein Buch zu diesem Thema; in erster Linie ist es ein Theaterroman, der in zahlreichen Details autobiographisch unterfüttert zu sein scheint. Ich-Erzähler des Buches ist der New Yorker Schauspieler Noah Pingree, der zu Beginn kurz vor einer Vorstellung einen Schlaganfall erleidet, danach eine Zeitlang im Koma liegt und, als er wieder zu Bewusstsein kommt, von den Anschlägen auf das World Trade Center erfährt. Allerdings ist die mehrfach wiederholte Einsicht, dass nun »alles anders sei« für einen Schlaganfallpatienten nicht sehr spezifisch.

Der Großteil des Buches wird gefüllt mit der Lebensgeschichte Noahs, der praktisch am Theater aufgewachsen ist: Seine Mutter arbeitet als Sekretärin an einer Schauspielschule, seine meist alkoholisierte Tante ist Schauspielerin, er selbst wird Schauspieler und befreundet sich mit Schauspielern und was der überaus spannenden Ereignisse mehr sind. Für jemanden, der sich in der entsprechenden Szene der Ostküste der USA auskennt, ist das wahrscheinlich mit interessanten Anspielungen und Hinweisen gespickt; für einen Leser wie mich, der Schauspieler nicht allein deswegen für interessant hält, weil es sich um Schauspieler handelt, ist das alles eher unoriginell und erwartbar. Schon Griesemers »Rausch« hatte durchaus seine Längen; hier scheinen die Längen aber den überwiegenden Teil des Textes auszumachen.

Besonders merkwürdig an dem Buch ist aber, dass Griesemer keinen amerikanischen Verlag gefunden zu haben scheint, der an ihm interessiert war. Eine englischsprachige Ausgabe habe ich jedenfalls nicht finden können, und es ist auch im Impressum keine nachgewiesen. Ich habe nicht ausführlich genug bibliographiert, um festzustellen, ob es sich bei der deutschen Ausgabe um die Erstausgabe überhaupt handelt, möglich wäre es aber.

John Griesemer: Herzschlag. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Fischer Tb. 18746. Frankfurt/M.: Fischer, 2012. Broschur, 427 Seiten. 9,99 €.