Philip Roth: Die Kepesh-Trilogie

Philip Roth hat zwischen 1972 und 2001 drei Erzählungen veröffentlicht, in denen der Literaturprofessor David A. Kepesh als Ich-Erzähler fungiert. Der Auftakt-Text »The Breast« (1972) ist eine vergleichsweise kurze Erzählung, während es sich bei den beiden anderen Texten, »The Professor of Desire« (1977) und »The Dying Animal« (2001), um Romane handelt, auch wenn der spätere eher ein Kurzroman ist.

Reflect upon eternity, consider, if you are up to it, oblivion, and everything becomes a wonder. Still, I would submit to you, in all humility, that some things are more wondrous than others, and that I am one such thing.

Roth_LOA_02»The Breast« erzählt eine kurze, abgegrenzte Episode aus dem Leben David Kepeshs: In den frühen Morgenstunden des 18. Februars 1971 verwandelt sich der 38-jährige Literaturprofessor in eine 155 Pfund schwere, weibliche Brust. Kepesh wird bei der Verwandlung ohnmächtig und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich. Er ist blind, kann aber hören und sprechen und so mit seiner Umwelt kommunizieren. Seine regelmäßigen Besucher sind seine 25-jährige Freundin Claire, sein Psychiater Dr. Klinger und sein Vater.

Zwar wird für die Verwandlung selbst irgendeine (schlecht erfundene) medizinische Begründung geliefert, aber Kepesh kommt zu dem nicht unwahrscheinlichen Schluss, dass er wahnsinnig geworden sein muss, da die Verwandlung eines Mannes in eine Brust schlicht unmöglich sei. Kepesh wehrt sich eine ganze Zeitlang erfolgreich gegen die Versuche Dr. Klingers, ihn von der Realität der Verwandlung zu überzeugen, aber – wie Sigmund Freud so treffend bemerkte – erkennt natürlich niemand einen Wahn, solange er ihn noch teilt. Ob Kepeshs Wahn allerdings darin besteht, sich einzubilden, eine Brust zu sein, oder darin, sich einzubilden wahnsinnig zu sein, bleibt bis zum Ende der Erzählung aufgrund ihrer konsequenten Ich-Perspektive unentschieden. Auch findet am Ende der Erzählung keine Rückverwandlung oder irgend eine andere Art von Vermittlung zwischen der Fiktion und der sogenannten Wirklichkeit der Leser statt.

Bei »The Breast« handelt es sich offensichtlich um Literatur aus Literatur. Roth schätzt die Belesenheit seiner US-amerikanischen Leser nicht sehr hoch ein und liefert daher die wichtigsten Quellen seiner Erzählung explizit mit: Kepesh hält einen regelmäßigen Kurs über europäische Literatur, in dem unter anderem auch Franz Kafkas »Die Verwandlung« und Nikolaj Gogols »Die Nase« (1836) behandelt werden. Während ich die Fabel von »Die Verwandlung« als bekannt voraussetzen darf, will ich die der »Nase« wenigstens in ihren Grundzügen nacherzählen: Ein Petersburger Barbier findet eines Morgens beim Frühstück in dem von seiner Frau frisch gebackenen Brot die Nase eines seiner Kunden, des Kollegienassessors Kowalow. Er beseitigt sie, in dem er sie in ein Taschentuch gewickelt in die Newa wirft. Kowalow bemerkt ebenfalls das Fehlen seiner Nase, an deren Stelle sich eine glatte Fläche in seinem Gesicht findet. Kurze Zeit später erkennt Kowalow seine Nase in der Gestalt und Uniform eines Staatsrates wieder. Nach einigen absurden Verwicklungen wird Kowalow seine Nase von der Polizei wieder zugestellt, da sie sich als Hochstapler erwiesen hat und verhaftet wurde. Auch wenn die Nase zuerst nicht wieder mit dem Gesicht ihres Besitzers zusammenwachsen will, so geht doch alles gut aus, als Kowalow eines Morgens unvermittelt wieder mit der Nase an der richtigen Stelle seines Gesichtes erwacht. Gogol beschließt die Novelle mit folgenden Reflexionen:

Aber das Seltsamste, Unbegreiflichste an der Sache ist, wie es nur Schriftsteller geben kann, die sich solche Gegenstände wählen. Ich muß gestehen, das ist mir das Allerunbegreiflichste … in der Tat, das geht vollständig über mein Begriffsvermögen! Denn erstens hat das Vaterland nicht den mindesten Nutzen davon, und dann zweitens – aber auch zweitens springt kein Vorteil dabei heraus. Kurz, ich weiß nicht, was das soll …

Aber dennoch, trotz alledem, obwohl man schließlich dies und jenes und noch ein drittes zugeben kann und vielleicht sogar … wo gibt es denn übrigens keine unsinnigen Dinge? – Wie man die Geschichte auch drehen und wenden mag, irgend etwas ist doch daran. Man rede, was man will, solche Dinge gibt es in der Welt – zwar nur selten, aber sie kommen vor. [Übers. v. Wilhelm Lange.]

Als dritte Quelle weist Roth auf Swift hin, insbesondere auf die zweite von Gullivers Reisen, aus der er offenbar mehr oder weniger direkt die Idee der riesigen weiblichen Brust bezieht:

Den meisten Widerwillen erregten mir aber die Ehrendamen (wenn meine Wärterin mich zu ihnen brachte), wenn sie alle Rücksichten mir gegenüber beiseite setzten, als sei ich ein geschlechtsloses Geschöpf; denn sie pflegten sich nackt auszuziehen und ihre Hemden anzuziehen, während ich auf ihrem Putztisch gerade vor ihren entblößten Gliedern stand […]. Die schönste dieser Ehrendamen, ein hübsches und munteres Mädchen von sechzehn Jahren, setzte mich mitunter mit gespreizten Beinen auf eine ihrer Brüste und spielte mir mehrere Streiche, deren Übergehung der Leser hier entschuldigen wird, da ich nicht langweilig werden will. [Übers. v. Franz Kottenkamp.]

Für den heutigen Leser hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Erzählung eine unmittelbare Reaktion auf das ist, was gerne als die sexuelle Revolution bezeichnet wird. Diesen Zusammenhang wird Roth in der letzten Kepesh-Erzählung weit deutlicher thematisieren. Dass eine satirische Behandlung der Mammae-Fixierung eines bedeutenden Teils der US-amerikanischen Männer (und wahrscheinlich auch des Autors) ein offensichtliches Thema der Zeit gewesen sein muss, kann man an der schönen Koinzidenz ablesen, dass im selben Jahr wie die Erzählung auch Woody Allens Film »Everything You Always Wanted to Know About Sex« in die Kinos kam, in dem in einer Episode als Ergebnis des Experimentes eines verrückten Wissenschaftlers eine gigantische Brust aus einem Labor ausbricht und die Umgebung terrorisiert.

 

Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
(© United Artists 1972)

 

And I can’t stand him any more. But then i can’t stand anyone. Everything everyone says is somehow wrong and drives me crazy.

Roth_LOA_03Fünf Jahre nach dieser literarischen Handübung mit satirischen Untertönen liefert der Roman »The Professor of Desire« die Vorgeschichte des Ich-Erzählers David Kepesh. Beginnend mit seiner Kindheit als Sohn eines jüdischen Hotelbesitzers in den Catskills erzählt David Kepesh seine Lebensgeschichte bis zum Ende der 60er Jahre. Er entkommt aus den proviziellen Verhältnissen seines Elternhauses an die Universität, wo er sich trotz ersten Ablenkungen durch seine sexuelle Begierde als außergewöhnlicher Student erweist und daher für ein Jahr als Fulbright-Stipendiat nach London gehen darf.

In London erst beginnt sein Sexualleben aufzublühen: Nach ersten Abenteuern mit Prostituierten lernt er zwei zusammenlebende Schwedinnen, Elisabeth und Brigitta, kennen und beginnt zuerst mit der einen, dann mit beiden zugleich ein sexuelles Verhältnis. Diese Dreieck scheitert, als Elisabeth versucht sich umzubringen; der Versuch scheitert, und sie kehrt nach Schweden zurück. Kepesh ist zwar von Gewissensbissen geplagt, wohnt aber weiterhin mit Brigitta zusammen und nimmt auch bald darauf die sexuelle Beziehung zu ihr wieder auf. Diese Erziehung des Gefühls gipfelt in einer gemeinsamen Tour durch Frankreich und Europa, die eine offensichtliche Parodie auf die Kavaliersreisen des 18. und 19. Jahrhunderts darstellt. Für Kepesh ist es klar, dass seine bevorstehende Rückkehr in die USA das Ende seiner Beziehung zu Brigitta bedeuten wird; als auch ihr klar wird, dass Kepesh sie nicht mitzunehmen gedenkt, beendet sie das Verhältnis mit ihm sang- und klanglos.

Die Erzählung überspringt ökonomisch einige Jahre und setzt mit dem Beginn von Kepeshs Beziehung zu Helen Baird wieder ein. Helen ist das, was man ein It-Girl nennt. Sie ist aus den spießigen US-amerikanischen Verhältnissen nach Südostasien geflohen, wo sie eine Zeitlang als Gespielin der Reichen und Schönen zugebracht hat. Als einer der Tycoone ihr anbietet, zu ihren Gunsten seine Gattin beseitigen zu lassen, überkommen sie moralische Zweifel, und sie flieht vor ihrem Halbwelt-Leben zurück in die USA, wo sie von Kepesh auf einer Party aufgelesen wird. Er heiratet Helen, die allerdings angesichts der bürgerlichen Verhältnisse, in die sie durch diese Ehe geraten ist, in Depressionen verfällt und sich mit dem Konsum von Alkohol und Drogen betäubt. Verzweifelt flieht sie erneut nach Hongkong und landet dort im Gefängnis, aus dem Kepesh sie mit der Hilfe eines ihrer alten Freunde befreien und in die USA zurückbringen kann. Mit dieser Episode endet die Ehe.

Nach der Scheidung verfällt Kepesh selbst in eine Phase der Depression; er wechselt von der West- an die Ostküste der USA, beginnt den uns schon bekannten Psychiater Dr. Klinger zu sehen und lernt schließlich nach einer ganzen Weile Claire Ovington, eine Grundschullehrerin, kennen, die ihn körperlich an Helen erinnert (beide Frauen haben natürlich große Brüste), der aber Helens Neurosen und Depressionen ganz und gar fremd sind. Mit Claire beginnt die glückliche Phase in Kepeshs Leben. Er entspannt sich und hier und da scheint es fast, als gelinge es ihm für ein Weilchen einfach nur er selbst zu sein, anstatt ständig inneren und äußeren Ansprüchen, Selbst- und Fremdbildern nachzulaufen. Kepesh reist mit Claire nach Europa, und in Venedig glückt es ihm sogar beinahe, mit der Erinnerung an Brigitta Frieden zu schließen. Das Paar kehrt schließlich nach einem Abstecher über Prag (womit das für »The Breast« zentrale Thema Kafka eingeholt wird, dessen Vorbildcharakter in »The Professor of Desire« übrigens von Tschechow übernommen wird) in die Staaten zurück, wo sie sich für den Sommer ein Haus mieten und das Zusammenleben ausprobieren. Der Roman klingt aus mit einer längeren Episode, in der Davids Vater ihn und Claire besucht, was Gelegenheit dazu gibt, den Tod als Thema in den Roman einzuführen. Ich musste unwillkürlich an den Satz Thomas Buddenbrooks denken: wenn das Haus fertig ist , so kommt der Tod.

Als leise, aber unverkennbar ironische Variation des Musters des klassischen Entwicklungsromans liefert »The Professor of Desire« ein solides Fundament für die Kafka/Gogol-Parodie von »The Breast«; allerdings hätte die kurze, phantastische Erzählung von der Verwandlung eines ordentlichen Professors in das obskure Objekt seiner Begierde kaum im Anschluss an diese Vorgeschichte geschrieben werden können oder zumindest nicht in der unvermittelten Weise, wie dies geschehen ist. Es ist daher kein kleiner Glücksfall, dass David Kepesh im Augenblick seiner Verwandlung das Licht der Literatur erblickt hat.

 

Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York
Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York

 

People think that in falling in love they make themselve whole? The Platonic union of souls? I think otherwise. I think you’re whole before you begin. And the love fractures you. You’re whole, and then you’re cracked open.

Roth_LOA_08Erst 2001 erscheint der dritte und letzte Text um David Kepesh. In »The Dying Animal« (der Titel ist ein Yeats-Zitat) ist der Ich-Erzähler inzwischen 70 Jahre alt. Er erinnert sich erzählend an eine acht Jahre zurückliegende Affäre mit einer seiner Studentinnen, Consuela Castillo, der 24-jährigen Tochter eines wohlhabenden kubanischen Exil-Ehepaars, die körperlich dem Grundmuster von Helen und Claire folgt: eine kräftige Frau mit ausladenden Brüsten. Die Affäre dauert anderthalb Jahre und endet, als Kepesh nicht auf der Feier von Consuelas Studienabschluss erscheint, weil er auf dem Weg zum Haus der Castillos von Furcht vor der Begegnung mit der Familie Castillo und dem Bewusstsein der Lächerlichkeit seiner Rolle überwältigt wird. Consuela verzeiht ihm seine Ausrede, dass sein Wagen liegen geblieben sei, nicht.

Die Trennung stürzt Kepesh wieder einmal in eine existenzielle Krise, die er erst nach drei Jahren einigermaßen überwunden hat. Doch am Silversterabend des Jahres 1999 meldet sich Consuela, von der er seit der Trennung nur einige Postkarten erhalten hat (darunter auch eine mit dem Akt Modiglianis, der oben zu sehen ist und von Kepesh ausdrücklich als das Alter Ego Consuelas bezeichnet wird), telefonisch bei ihm und besucht ihn kurz darauf. Sie kommt, um ihm zu sagen, dass man bei ihr Brustkrebs festgestellt und dass sie eine Chemotherapie hinter sich habe und eine Operation in Kürze bevorstehe, bei der man ihr einen Teil der rechten Brust entfernen wird. Sie bittet Kepesh, Fotos von ihr zu machen, die ihren Körper so festhalten, wie Kepesh ihn gekannt und geliebt hat. Anschließend verschwindet sie wieder für einige Wochen, nur um ihm dann mitzuteilen, dass der Operationstermin nun feststehe und man ihr die ganze rechte Brust wird entfernen müssen.

Erzählt wird dies alles als langer Monolog Kepeshs vor einem anonym bleibenden Zuhörer an dem Tag, als Consuela sich wieder bei Kepesh meldet. Consuela ist in Todesangst, und der Text endet damit, dass Kepesh aufbrechen will, um ihr beizustehen. Nur an dieser einen Stelle kommt der Zuhörer von Kepeshs Monolog zu Wort:

Stay if you wish. If you want to stay, if you want to leave . . . Look, there’s no time, I must run!
»Don’t.«
What?
»Don’t go.«
But I must. Someone has to be with her.
»She’ll find someone.«
She’s in terror. I’m going.
»Think about it. Think. Because if you go, you’re finished.«

Mit diesem Satz beendet Roth die Geschichte David Kepeshs. Er ist auch der Grund für die eher ungewöhnliche Erzählperspektive des Textes, da das abschließende Urteil, Kepesh sei erledigt, wenn er seinem Gefühl für Consuela noch einmal nachgebe, nur dann seine ganze Wirkung entfalten kann, wenn es sich dabei nicht um eine weitere der endlosen Selbstbespiegelungen Kepeshs, sondern um das objektive Urteil eines Dritten handelt. Dass dieser Dritte sowohl der Autor als auch der Leser sein kann und sein soll, steht für mich außer Frage.

Der Kurzroman »The Dying Animal« rundet die Kepesh-Trilogie auf elegante Weise ab, indem er das Thema des Todes als Widerlager des sexuellen Begehrens Kepeshs, das am Ende von »The Professor of Desire« kurz erschienen war, aufgreift und durchführt. In diesem Sinne bilden die drei Texte eine relativ geschlossene Einheit. Dies könnte aber darüber hinwegtäuschen, dass Roth sich mit der Biographie Kepeshs erhebliche Freiheiten herausnimmt: In »The Breast« ist Kepesh im Februar 1971, zum Zeitpunkt seiner Verwandlung, 38 Jahre alt, was seine Geburt in das Jahr 1932 oder 1933 (das Geburtsjahr des Autors) legt. Claire ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Fünf Jahre später werden diese Daten leicht variiert: »The Professor of Desire« endet im Jahr 1969 oder 1970; die Terminierung ist dadurch möglich, dass der letzte Teil der Erzählung mindestens ein Jahr nach dem Ende des Prager Frühlings spielt. Kepesh ist in diesem Jahr 34 Jahre alt, während Claire wieder als 25-Jährige auftritt. Der Altersunterschied zwischen beiden ist also um vier Jahre geschrumpft, und Kepeshs Geburtsjahr liegt im Jahr 1935 oder 1936.

Noch heftiger werden die Verwerfungen in »The Dying Animal«: Hier ist Kepesh zu Anfang des Jahres 2000 70 Jahre alt, was sein Geburtsjahr in das Jahr 1929 vorverlegt. Er weiß in diesem Buch nichts mehr von Claire oder Helen, von Brigitta oder Elisabeth, stattdessen hat er einen 42-jährigen Sohn, Kenny, der aus einer Ehe hervorgegangen ist, die wahrscheinlich von 1956 bis 1965 gedauert hat. Kepesh behauptet außerdem, er habe bereits mit 16 eine Geschlechtskrankheit gehabt, die er zusammen mit ihrer Spenderin in »The Professor of Desire« verschwiegen hatte. Andererseits haben auch die Eltern dieses Kepeshs ein Hotel in den Catskills geführt, so dass wenig Zweifel bestehen, dass die beiden anderen Kepeshs mit diesem identisch sein sollen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass Kepesh seinen anonymem Zuhörer mit einer erfundene Biographie täuschen will, da er zum Beispiel an einer Stelle einen Brief seines Sohnes vorliest, also einen physischen Beweis für die Fundiertheit seiner Erzählung liefert, ohne dass dies in irgend einer Weise notwendig wäre. Überhaupt ist kein Grund zu erkennen, warum dieser Kepesh in Sachen seiner Biographie seinen Zuhörer und den Leser anlügen sollte. Es bleibt als Schlussfolgerung nur, dass Roth, um Kepeshs Verwicklung in die Dynamik des studentischen Lebens Mitte der 60er Jahre und die sogenannte sexuelle Revolution wahrscheinlich und sinnvoll zu machen, ihm eine völlig andere Biographie zuschreiben musste. Warum auch nicht, nachdem er ihn schon einmal ganz und gar in eine weibliche Brust transformiert hatte?

Die Kepesh-Trilogie ist ein schönes Muster für die schriftstellerische Durcharbeitung und Fortschreibung einer literarischen Figur und eines Konglomerats von Themen und Motiven, wobei sich die Gewichtung der Motive und ihre perspektivische Darstellung mit dem Alter und der Erfahrung des Autors verändern. Dabei besteht kein Anspruch, mehr zu tun, als den Mitlebenden ein Leben zu erzählen, in dem sie sich mehr oder weniger klar spiegeln können, wobei es ihnen nicht anders ergeht als dem Protagonisten dieses Lebens selbst.

  • Philiph Roth: The Breast. In: Novels 1967–1972. New York: Library of America, 2005. S. 601–641. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.
  • Philiph Roth: The Professor of Desire. In: Novels 1973–1977. New York: Library of America, 2006. S. 679–869. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 27,– €.
  • Philiph Roth: The Dying Animal. In: Novels 2001–2007. New York: Library of America, 2013. S. 1–91. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

978-3-446-23634-9Ein Buch vom Sterben des Vaters. Arno Geiger erzählt von der Entwicklung der Demenzerkrankung seines Vaters und von seinem langsam Schwinden aus der Welt. Es ist zugleich eine berührende Liebeserklärung an den Vater, den Arno Geiger schon fast für sich verloren geglaubt hatte, zu dem aber aber durch die Krankheit einen Weg zurück findet. Was die Krankheit des Vaters den Sohn lehrt, ist Geduld zu haben und die Bereitschaft zu entwickeln, in der Welt des Vaters zu leben, da der nicht mehr in die des Sohnes wechseln kann. Der Schriftsteller lernt die aus der Demenz heraus entwickelte neue Sprache des Vaters schätzen, findet in ihr schließlich auch den ursprünglichen Charakter des Vaters wieder, den er schon verloren geglaubt hatte. Ja, es ist sogar so, dass die Familie, die sich schon weit auseinandergelebt hatte, aufgrund der Krankheit des Vaters wieder näher zusammenrückt.

Nebenbei fallen natürlich auch einige Betrachtungen über Krankheit und Tod im allgemeinen ab:

Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen. Denn Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben.

Oder:

In der Zeitung heißt es, dass Kakerlaken auf dem Bikini-Atoll Atombombentests überlebt haben und dass sie am Ende auch die Menschheit überleben werden. Schon wieder etwas, das mich überleben wird. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass mich der Wein und die Mädchen überleben werden. Aber dass es Kakerlaken geben wird, die sich ihres Lebens erfreuen, während ich habe abtreten müssen, das schmerzt ein wenig.

Ein berührendes Buch, das die Vorwürfe, die ihm in einigen Feuilletons gemacht wurden, durchaus nicht verdient hat.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Hanser, 2011. Pappband, 189 Seiten. 17,90 €.

Ruth Klüger: unterwegs verloren

978-3-552-05441-7 Eine alte Frau schreibt ihre Erinnerungen auf. Sie ist Überlebende des Holocaust, hat ein Buch über diese Erfahrung geschrieben, das ein Bestseller geworden ist in Deutschland und dann auch in der Welt. Nun wird uns eine Fortsetzung angeboten. Woran erinnert sie sich? Da hat sie einer nicht gegrüßt, als er ihr Haus betrat. Ein anderer hat sie nicht in seinem Seminar haben wollen. Ein dritter hat sie zwar gefördert, sie aber nicht so ernst genommen, wie sie ernst genommen werden wollte. Wieder andere haben ihr nicht das soziale Umfeld bereitet, das sie sich erhofft hatte. Noch andere haben sie als berufliche Konkurrentin wahrgenommen und behandelt. Sie alle stehen unter dem Generalvorwurf, zumindest Frauenfeinde zu sein, wahrscheinlicher aber Antisemiten.

Warum war ich ihnen zuwider? Frau oder Jüdin? Zufall war’s nicht …

Und dann steht da plötzlich dieser eine Satz:

Ich frage mich allerdings, warum die Frauen immer meinen, sie könnten es besser als ihre Vorgängerinnen, anstatt sich vor geschiedenen Männern zu hüten.

Ein solcher Satz kann einem ein ganzes Buch zerschlagen. Das ist von einer so bodenlosen zwischenmenschlichen Dummheit, dass ich ganz fassungslos werde. Das schreibt eine Frau, deren Söhne angeblich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollen, deren Schwiegertochter jeden Kontakt mit ihr vermeidet, deren Enkel ihr zu distanziert sind, mit der die meisten Kollegen keinen Umgang haben wollten und der dennoch eines ganz sicher ist: Am Scheitern von Ehen sind die Männer schuld, und wem einmal eine missraten ist, der trägt ein Stigma.

Der Autorin selbst ist hier kein Vorwurf zu machen, aber denen, die mit ihrer Bekanntheit Geld verdienen, die nicht eingegriffen haben, das Manuskript nicht behutsam zur Seite gelegt haben, sondern die es gedruckt haben in dem klaren Bewusstsein, damit einen Bestseller zu produzieren. Das ist ekelerregend, und es ist verächtlich. Ich habe selten ein so peinliches Buch in der Hand gehabt.

Ruth Klüger: unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien: Zsolnay, 2008. Pappband, 238 Seiten. 19,90 €.

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän

978-3-518-37234-0 Im Mittelpunkt dieser Erzählung um Alter und Demenz steht der 73-jährige Herr Geiser, der als Pensionär in einem Bergtal des Tessin, wohl dem Onsernone-Tal, lebt. Die Erzählung umfasst einige Wochen eines verregneten Sommers. Aufgrund eines Erdrutsches ist das Dorf, in dem Herr Geiser lebt, für eine Weile von der Außenwelt abgeschnitten; auch der Strom fällt zeitweilig aus. Herr Geiser langweilt sich, er mag auch nicht immer nur lesen. Die Gartenarbeit fehlt ihm, und außerdem macht er sich Sorgen, dass der Berghang, an dem sein Haus liegt, abrutschen könne.

In dieser weitgehend isolierten Lage beginnt Herr Geiser sich um sein Gedächtnis zu sorgen. Er versucht mithilfe eines 12-bändigen Brockhaus und einiger anderer Bücher, die Geschichte des Tessin und die Erdgeschichte überhaupt zu rekapitulieren. Als Gedächtnisstütze schneidet er aus den Büchern kleine Abschnitte aus, die er an die Wand heftet; das Buch dokumentiert einen Teil dieser Ausschnitte.

Höhepunkt der sprachlich schlichten und weitgehend ereignislosen Erzählung stellt ein Fluchtversuch Geisers dar: Er versucht in einem Gewaltmarsch Locarno zu erreichen, von wo aus er mit dem Zug nach Basel reisen könnte, bricht das Unternehmen aber nach ¾ des Weges ab, da er nicht mehr weiß, was er überhaupt in Basel will. Heimgekehrt erleidet er offensichtlich einen Schlaganfall und wird schließlich von seiner Tochter aus seiner Isolation befreit.

Die Erzählung beeindruckt durch die personale Erzähl-Perspektive, durch die der Leser ganz eng mit dem Erleben Geisers verbunden ist. Der Verfall seines Gedächtnisses, der Kampf um das Wissen, der Schritt für Schritt verloren geht und letztlich in die Repetition des bereits einmal Gesagten übergeht, der beinahe schon gewaltsame Versuch, sich aus all dem zu befreien, das alles ist in einer sehr zurückhaltenden Prosa überzeugend dargestellt.

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän. Suhrkamp Taschenbuch 734. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 172006. 147 Seiten. 6,50 €.

Das Unheil, das in den Kulissen wartet

everymanSpätestens seit dem Erfolg von »Der menschliche Makel« sind Neuveröffentlichungen von Philip Roth auch in Deutschland ein Ereignis. In den USA ist Roth inzwischen fraglos ein Klassiker geworden: Die »Library of America« hat mit einer Roth-Werkausgabe begonnen. Und es gibt weltweit eine wachsende Schar von Roth-Lesern, die jedes Jahr darauf warten, dass das Nobelpreis-Komitee endlich ein Einsehen hat und Roth ehrt, solange es noch möglich ist. Nun hat der große alte Mann der amerikanischen Literatur ein Buch über den Tod geschrieben, seine Auseinandersetzung mit dem Unausweichlichen.

Das Buch beginnt mit der Beerdigung des namenlosen Protagonisten, um auch nicht einen Moment lang einen Zweifel daran zu lassen, wie die Geschichte ausgehen wird. Am Grab von Roth’ Jedermann versammelt sich eine kleine Schar Verwandter und Bekannter: Seine Tochter Nancy – die einzige Personen, zu der er zuletzt noch eine engere Beziehung gehabt hatte –, die mittlere seiner drei Ex-Frauen, sein Bruder, die beiden Söhne aus erster Ehe, die ihn gehasst haben, ein paar ehemalige Kollegen und einige Mitbewohner des Seniorendorfs, in dem er zuletzt gelebt hatte. Der Friedhof ist trist und heruntergekommen, aber ›Jedermanns‹ Eltern liegen dort begraben und seine Tochter hatte sich gedacht, er würde vielleicht gern dort liegen, wo er nicht so gänzlich alleine sei.

Nachdem die Trauergemeinde auseinander gegangen ist, setzt die Erzählung vom lebenslangen Sterben des Toten ein: von seiner ersten Operation eines Leistenbruchs in seinen Kinderjahren über einen Blinddarm-Durchbruch, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte über eine schwere Herz-Operation, in der im fünf Bypässe gelegt werden bis hin zur Verstopfung einer Nierenarterie, mit der im eigentlichen Sinne das Alter des Protagonisten beginnt.

Roth erzählt in kurzen Abschnitten, und beinahe alles, was er erzählt, handelt von Verlust, Scheitern und Tod im Leben seines Helden. Selbst dort, wo für einige Zeit etwas zu gelingen scheint, ist es nur Vorspiel für eine weiteren Niederlage, den nächsten Schritt zum Untergang hin. Roth’ Protagonist nimmt nicht leicht Abschied, er blickt mit Trauer und Reue auf sein Leben zurück; nur seine Tochter Nancy scheint ohne Abstriche auf der Haben-Seite seiner Lebensbilanz zu stehen, alles andere erscheint gemischt aus Lust und Leid: Seine drei Ehen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen gescheitert sind, seine Leidenschaft für die Malerei, die sich nicht als die späte Erfüllung seines Lebens erwiesen hat, auf die er gehofft hatte, seine innige Beziehung zu seinem Bruder, die er aus Neid und Eifersucht auf dessen anscheinend unerschütterliche Gesundheit langsam in die Brüche gehen lässt.

Roth erspart seinem Helden nicht die Einsamkeit des Sterbens und die Härten des Abschieds: Kurz nachdem sein Jedermann noch einmal aus einer Laune heraus vergeblich versucht, ein sexuelles Abenteuer mit einer jungen Frau zu initiieren, bekommt er die Nachricht, dass seine zweite Frau Phoebe – Nancys Mutter – eine Schlaganfall erlitten hat und dass von drei Kollegen, mit denen er eng und freundschaftlich zusammengearbeitet hat, einer verstorben ist und zwei ernsthaft erkrankt sind. Zu all dem kommt hinzu, dass er sich selbst einmal mehr einer Operation unterziehen muss, eigentlich ein leichter Eingriff, der ihn aber nichtsdestotrotz in Todesangst versetzt.

Das Buch findet seinen grandiosen Abschluss in einem Friedhofsbesuch: Auf dem Friedhof, mit dem das Buch beginnt, unterhält sich Roth’ Jedermann bei einem Besuch am Grab seiner Eltern mit dem lokalen Totengräber, selbst schon ein alter Mann, der das Gewerbe zusammen mit seinem Sohn betreibt. In diesem sachlichen Gespräch über das Handwerk des Totengräbers erlangt der Namenlose plötzlich Ruhe. Er trifft einen Menschen, für den der Umgang mit dem Tod alltäglich ist, der die Toten seines Friedhofs und ihre Geschichten kennt. Diese Alltäglichkeit des Todes und die Sorgfalt, mit der der Totengräber seine Arbeit verrichtet, versöhnen den Protagonisten mit einem Mal – nur wenige Seiten später ist er tot.

Roth’ »Jedermann« schließt sich nur sehr locker an die Tradition des Jedermann-Stoffs an. Der auffälligste Unterschied dürfte sein, dass Roth Gott explizit aus seinem Buch ausschließt: Sein Jedermann wird nicht von einem Gott vor Gericht zitiert, sein Held ist sicher, dass der Tod bloß der Tod ist »– sonst nichts.« Dieser »Jedermann« ist eine sehr säkularisierte Fassung des alten »Spiels vom Sterben des reichen Mannes«. Einzig bei der abschließenden Begegnung mit dem Totengräber meint man einen Hauch von Mysterium zu spüren, als unterhalte sich Jedermann hier auf einmal mit dem Tod selbst, als räsoniere Hamlet noch einmal mit dem alten Totengräber über Yoricks Schädel. Aber vielleicht gilt auch hierfür das Wort Horatios: »Die Dinge so betrachten, hieße sie allzugenau betrachten.«

Philip Roth: Jedermann. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Hanser, 2006. 172 Seiten. 17,90 €.

Vladimir Nabokov: Lolita

lolita

Als Vladimir Nabokov im Sommer 1953 begann, seinen Roman »Lolita« zu schreiben, war er ein unbekannter russischer Emigrant, der an der Cornell University in New York Literatur unterrichtete und Romane in englischer Sprache schrieb, die zwar Kollegen und Kritiker schätzten, die aber sonst kaum gelesen wurden. Als im November 1959 der englische Generalstaatsanwalt bekannt gab, dass er gegen die Publikation und den Vertrieb des Romans »Lolita« in England nicht vorgehen würde, war der Weltruhm Nabokovs endgültig gesichert: Es war von staatlicher Seite anerkannt worden, dass es sich bei »Lolita« um Kunst, nicht um Pornographie handelt.

Vladimir Nabokov ist in den Augen einer breiten Öffentlichkeit der Autor eines einzigen Buches: »Lolita«. Mit dem Skandal um dieses Werk ist Nabokov in die Weltliteratur eingegangen, und das, obwohl es sich für die meisten bei »Lolita« wohl eher um ein Gerücht als um ein Buch handeln dürfte. Viele haben sicherlich inzwischen eine der beiden Verfilmungen gesehen: Die frühe von 1962, die den Regisseur Stanley Kubrick zu einer Marke machte, und die spätere von 1997, die – wenn auch nur unwesentlich freizügiger als die 35 Jahre ältere – auch heute noch in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern keine Jugendfreigabe besitzt.

Lolita erzählt die Geschichte einer Obsession. Erzählt wird sie vom Protagonisten des Romans – einem Professor für romanische Literatur – aus der Ich-Perspektive als Erinnerung und Rechtfertigung für die Tat, wegen der er im Gefängnis sitzt und auf seinen Prozess wartet: Er hat einen Mann erschossen und versucht nun sich selbst, der Jury und der Welt begreiflich zu machen, was zu diesem Mord geführt hat. Als das Buch erscheint, ist sein Held bereits tot: Gestorben in der Untersuchungshaft an einem gebrochenen Herzen – »Koronarthrombose« nennt es der Totenschein –, nur einen guten Monat bevor das Objekt seiner Begierden und Sehnsüchte, seine geliebte Lolita stirbt.

Humbert Humberts – so der obskure Name des Erzählers, der aber nur ein Pseudonym sein soll – Geschichte beginnt aber nicht damit, dass er Lolita kennenlernt, sondern mit der Erzählung von einer Jugendliebe: Als er 13 Jahre alt ist verliebt er sich im Hotel seines Vaters an der Riviera in die Tochter eines Gastes, eine kurze, leidenschaftliche Sommerliebe zweier Kinder, die damit endet, dass Annabel vier Monate später auf Korfu an Typhus stirbt. Humbert hat diesen Verlust nie verwunden.

Und so ist er sich selbst weitgehend wehrlos ausgeliefert, als er sich viele Jahre später – inzwischen amerikanischer Staatsbürger – für den Sommer in das kleine Städtchen Ramsdale begibt, um dort an einem Buch zu arbeiten, und dabei auf Lolita, die Tochter seiner alleinstehenden Wirtin trifft.

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.

Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuß zehn groß in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.

Humbert verliebt sich rettungslos in das kokette Mädchen, dem es Spaß macht, mit dem etwas weltfremden Kauz zu flirten und ihre Macht über ihn auszuspielen. Humbert geht soweit, ihre Mutter zu heiraten, bloß um in Lolitas Nähe bleiben zu können. Als ein »glücklicher Zufall« zum Tod der Mutter führt, beginnt Humbert eine ziellose Fahrt mit Lolita durch Amerika, von Motel zu Motel, immer in der Furcht entdeckt, verfolgt, verhaftet zu werden.

Die Geschichte endet wie sie enden muss: Humberts Eifersucht – die nicht unbegründet ist, wie sich herausstellt – führt zu Streit und Entzweiung, und schließlich verschwindet Lolita eines Tages mit dem Mann, den Humbert Jahre später erschießen wird, weil er ihm Lolita geraubt hat.

»Lolita« ist wesentlich ein trauriges Buch, das Buch eines Sentimentalen, der auf sein gescheitertes Leben zurück- und einem Todesurteil entgegenblickt. »Lolita« ist alles andere als ein erotisches Buch – auch wenn sein Thema die sexuelle Beziehung eines alten Mannes zu einem minderjährigen Mädchen ist – und nichts in dem Buch rechtfertigt auch nur den den Verdacht, es können sich um ein pornographisches Werk handeln. »Lolita« ist allerdings ein herausragendes Buch, geschrieben von einem der lesenswerten Autoren des 20. Jahrhunderts, der ohne den Skandal um das Buch sicherlich auch weiterhin eine Randexistenz im Literaturbetrieb seiner Zeit hätte führen müssen.

Ich rate all denen, die das Buch noch nicht kennen, »Lolita« auf die Leseliste zu setzen und dadurch vielleicht einen Autor kennen zu lernen, der über dieses eine Buch hinaus ein Gesamtwerk geschaffen hat, das zu den intelligentesten und literarischsten des 20. Jahrhunderts gehört!

Vladimir Nabokov: Lolita. Aus dem Englischen von Helen Hessel, Maria Carlsson, Kurt Kusenberg, Heinrich M. Ledig-Rowohlt und Gregor Rezzori bearb. von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999. 8,90 €.