Theodor Fontane: Der Stechlin

ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen

Niemand, der über dieses letzte Buch Fontanes (Mathilde Möhring ist aus dem Nachlass herausgegeben worden) spricht oder schreibt, kommt um das Bonmot herum, mit dem Fontane den Inhalt dieses Buch umriss: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.“ (Brief-Entwurf an Adolf Hoffmann, Mai/Juni 1897.) So ganz ohne „Konflikte“ ist das Buch zwar nicht, aber es sind weniger persönliche als gesellschaftliche, die tatsächlich nur zu beschreiben, nicht zu lösen sind.

Die Handlung spielt in der Hauptsache am und um den Stechlinsee herum sowie in Berlin. Im Zentrum steht der alternde Dubslav von Stechlin, der als Major a. D. auf Schloss Stechlin residiert. Sein einziger Sohn Woldemar ist als Dragoner in Berlin stationiert und verkehrt viel im Hause des Grafen von Barby, ebenso alt wie Dubslav von Stechlin, weil er die beiden Töchter des Hauses umwirbt – Melusine und Armgard, die schließlich seine Braut werden wird. Die eigentliche Handlung beschränkt sich auf einen Besuch Woldemars zusammen mit zwei Regimentskameraden bei seinem Vater und seiner Tante, der Vorsteherin des nahe gelegenen Kloster Wutz, die Werbungszeit um Armgard, die Hochzeit, die eher summarisch abgehandelt wird, und abschließend die Zeit der Krankheit und des Todes von Dubslav von Stechlin.

Den sozialen Hintergrund bilden die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mit den religiösen und sozialen Verwerfungen der Zeit: der immer noch starke Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken sowie der zwischen den konservativen Kräften (zu denen Dubslav ebenso zählt wie Graf Barby) und den aufkommenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen (mit denen Woldemar zumindest sympathisiert, ohne als deren politischer Anhänger zu erscheinen). Quasi quer zu diesen Kräften wird immer erneut das Verhältnis der Geschlechter zueinander thematisiert, wobei die Sexualität immer wieder mit einer für die Zeit überraschenden Deutlichkeit thematisiert wird:

»Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort – auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren.«
»Weiß, weiß. Endlos.«
»Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.«
»Liebste Melusine, wie beklag’ ich Sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber so gleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.«

S. 351

Das Buch lebt ganz und gar von seinen Charakteren – neben Dubslav von Stechlin bilden Melusine von Barby-Ghiberti und der lokale Pastor Lorenzen den Kernbestand, der von zahlreichen Nebenfiguren umstellt ist (auch Woldemar und Armgard müssen unter diese Nebenfiguren eingeordnet werden). Es verzichtet auf jeden Versuch, die zahlreichen anekdotischen Szenen durch irgendeine Form von artistischer Konstruktion einzubinden, sondern gibt sich mit einem lockeren Faden des Nacheinanders vollständig zufrieden (hierin ist der alte Fontane vielen zeitgenössischen Kollegen weit voraus). Es erscheint im formalen Sinne als künstlerisch schlicht und anspruchslos, doch könnte nicht besser sein, als es geworden ist. Ein Zeitbild, wie man es selten findet, aus der Feder eines der besten melancholischen Chronisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Theodor Fontane: Der Stechlin. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 17. Berlin: Aufbau, 2001. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 716 Seiten. 48,– €.

John Williams: Stoner

But William Stoner knew of the world in a way that few of his younger colleagues could understand.

Ein eingängiger, etwas sentimentaler Ent­wick­lungs­ro­man, der bereits 1965 erschienen ist, aber erst in diesem Jahrhundert in den USA wieder- und in Europa entdeckt und systematisch zu einem Bestseller beworben wurde. Williams war zu Lebzeiten immerhin so erfolgreich, dass er 1972 den National Book Award for Fiction verliehen bekam, aber er konnte vom Schreiben nie leben. Stattdessen unterrichtete er, ähnlich wie der Protagonist dieses Romans, bis 1985 Englisch an der Universität Denver.

Beim Protagonisten handelt es sich um William Stoner, der von seinen als Bauern mehr schlecht als recht lebenden Eltern unter großem Verzicht an die Universität von Missouri geschickt wird, um dort Landwirtschaft zu studieren. Stoner verirrt sich aber ins Englische Seminar, beginnt mit dem Lesen von Gedichten und Romanen, die ihm anfangs erheblichen Widerstand entgegensetzen, wechselt das Studienfach und wird statt Diplom-Landwirt akademischer Lehrer für Englisch mit einem deutlichen Interessenschwerpunkt auf dem Einfluss der lateinischen Literatur auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Dichtung Englands. Man muss sich aber als Leser keine Sorgen machen: Nichts von dem spielt im Roman wirklich eine Rolle; Stoner hätte genauso gut eine akademische Karriere als Mathematiker machen können.

Er heirate die erste Frau, die ihn interessiert; Edith wiederum heiratet ihn, um aus ihrem verhassten Elternhaus herauszukommen, wobei unklar bleibt, ob ihr Vater nur ein Tyrann oder ein Pädophiler ist. Sie haben eine gemeinsame Tochter, Grace, die im Konflikt ihrer unglücklich verheirateten Eltern zum Spielball wird; sie wird sich wie ihre Mutter durch eine frühe, eher zufällige Heirat dem elterlichen Elend entziehen und in ihr eigenes geraten. Zusätzlich zum familiären Unglück gerät Stoners akademische Karriere ins Stocken, als er sich seinem unmittelbaren Vorgesetzten widersetzt und dessen Protegé durch eine Prüfung fallen lässt. Eine zwischenzeitliche Affäre mit einer Doktorandin bildet den emotionalen Höhepunkt in Stoners Leben, aber diese Unterbrechung des allgemeinen Unglücks kann in den späten 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts nicht von Dauer sein. Das Buch endet so voraussehbar wie alles in ihm: Stoner stirbt an Magenkrebs, bevor er einen wohlverdienten Ruhestand antreten könnte.

Der Reiz des Romans liegt sicherlich in seinem durchweg unaufgeregten Erzählton, der recht genau auf die stoische Grundhaltung des Protagonisten abgestimmt ist, und in der Welt im kleinen Kreis, die er schildert. Sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg gehen weitgehend spurlos an Stoner vorbei (im Ersten Wertkrieg fällt allerdings einer seiner beiden einzigen Studienfreunde; ein Verlust, der ihn bis zu seinem Ende nicht loslässt), auch die technische und soziale Entwicklung der USA spielen kaum eine Rolle im Roman. Der Konkurs seiner Schwiegereltern in Folge des Börsenkrachs 1929 und der anschließende Selbstmord seines Schwiegervaters berühren Stoner genauso wenig, wie es der Tod seiner eigenen Eltern tut. Was sollen ihn da andere soziale, wirtschaftliche oder gar technische Entwicklungen interessieren; er lebt hauptsächlich in der Welt der alten englischen Literatur, die aber, wie schon erwähnt, inhaltlich im Roman ebenfalls kaum eine Rolle spielt.

Die Übersetzung von Bernhard Robben habe ich diesmal nicht angeschaut; dazu erschien mir das Buch nicht wichtig genug.

John Williams: Stoner. New York: Vintage digital, 2012. Kindle Edition. 288 Seiten. 8,99 €

Iwan Turgenjew: Das Adelsgut

Letztlich ist alles möglich. Vor allem hier bei Ihnen in Russland.

Es ist ja seit einiger Zeit Mode, Neu­über­set­zun­gen dadurch zu markieren, dass man Ihnen einen neuen Titel mitgibt; so auch hier: Aus dem Adelsnest (Dworjanskoje gnesdo) wird das semantisch sicherlich ebenso korrekte Adelsgut, was ein wenig verwundern darf, denn nicht nur nimmt es dem Titel das Heimische zusammen mit dem Provinziellen, es spielt im ganzen Roman ein Adelsgut auch keine bedeutende Rolle. Aber erfahrene Leser wissen, dass über die Titel der Bücher nicht immer die Übersetzerin entscheidet, auch wenn sie die Entscheidung nachträglich zu rechtfertigen hat. Lassen wir es auf sich beruhen.

Das Adelsgut (erschienen 1859) ist Turgenews zweiter Roman und sicherlich derjenige, der ihn in Russland als Romanautor fest etabliert hat. Erzählt werden eine Ehe- und eine Liebesgeschichte, beide unglücklich, die der etwas träge Fjodor Iwanytsch Lawrezki durchlebt. Lawrezki entstammt einer Mesalliance zwischen seinem adeligen Vater und einer Bedienten, die jener geschwängert und dann nur geheiratet hatte, um damit wiederum seinem Vater einen Tort anzutun. Lawrezki wächst unter der rationalistischen Fuchtel seines Vaters auf, versucht nach dessen Tod in Moskau zu studieren, verkuckt sich in Warwara Pawlowna, die lebenslustige Tochter eines Generals a.D., die ihn nicht nur heiratet, sondern von seinem Geld auch ein großes Haus in Paris führt, ihn in seinen Studien einschläfert und nebenbei nach Strich und Faden betrügt. Als Lawrezki entdeckt, dass er betrogen wird, läuft er einfach davon, zuerst nach Italien und dann zurück nach Russland, wo er sich der Bewirtschaftung seines Gutes widmen will. Unterwegs macht er Station bei entfernten Verwandten im Städtchen O., in dessen Nähe er über ein kleines Gut verfügt.

Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Lawrezki, inzwischen 35 Jahre alt, verliebt sich in die 19jährige Tochter des Hauses, Lisaweta Michailowna. Es fällt ihm nicht schwer, die Gegenliebe der jungen Frau zu gewinnen, und als er aus einer Zeitungsmeldung vom vorgeblichen Tod seiner Gattin erfährt, ist die offene Liebeserklärung gleich gemacht. Aber natürlich kommt es, wie es kommen muss: Als die beiden Liebenden reif sind, einander in die Arme und andere Körperteile zu fallen, taucht unvermittelt die tot geglaubte Warwara mit dem gemeinsamen Töchterchen wieder auf. Herzzerreißend verzichten die Liebenden auf einander, zähneknirschend vergibt Lawrezki seiner Frau und stimmt zu, für eine Weile mit ihr unter einem Dach zu leben, um seiner Tochter nicht den Weg in die gute Gesellschaft zu verbauen. Auf jegliches weltliche Glück verzichtend geht die fromme und weltfremde Lisa ins Kloster, während sich Warwara so gut wie bisher zu amüsieren versteht. Am Ende ist sie die Einzige, die aus dem allgemeinen Elend glücklich hervorgeht und bekommt, was sie will.

An diese insgesamt etwas seichte und flache Geschichte, der auch nicht durch die in ihr spielenden Charaktere aufgeholfen wird– nur die Figur Warwaras sticht mit ihrem amoralischen Erfolg etwas aus der literarischen Einheitsware heraus –, klebt Turgenew einen unerträglich Epilog, der acht Jahre nach der Haupthandlung den Gutsbesitzer Lawrezki an den Ort seines Unglücks zurückkehren lässt. Dort lebt nun eine neue Generation, fröhlich umeinanderspringend wie junge Hunde, deren Hauptbeschäftigung im Lachen und Hopsen besteht und die daher die positive Zukunft darstellt. Man sollte sich die Lektüre dieser abschließenden Dummheit ersparen!

Dass dieser Roman inhaltlich schwächelt bzw. deutlich dem damaligen populären Literaturgeschmack huldigt, bemerkte schon die zeit­­g­enös­sische Kritik (auch Turgenew selbst macht sich an einer Stelle ein wenig darüber lustig). Hoch gelobt wurde er aber wegen seiner sprachlichen Aus­ge­stal­tung, die man nun leider in einer anderen Sprache immer nur bedingt wiedergeben kann. Die Neuübersetzung von Christiane Pöhlmann ist angenehm zu lesen und so beweglich, dass sie in jeder Szene auf der Höhe des Erzählten ist. Auch mildert sie im Epilog das Pathos des Erzählers nicht ab, um einer heutigen Lesererwartung entgegenzukommen. Alles in allem hinterlässt der deutsche Text einen sehr runden Eindruck. Wenn nur der Inhalt etwas weniger klischeehaft wäre …

Iwan Turgenjew: Das Adelsgut. Aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann. Zürich: Manesse, 2018. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 382 Seiten. 25,– €.

Marguerite Duras: Heiße Küste

Seit dem Einsturz der Dämme und seit sie Joseph nicht mehr schlug, schlug die Mutter Suzanne viel öfter als vorher. »Wenn sie niemand mehr hat, dem sie Prügel austeilen kann«, sagte Joseph, »wird sie sich selbst in die Fresse hauen.«

Ich muss gestehen, dass ich erst durch eine ARTE-Dokumentation auf Marguerite Duras gestoßen wurde. Sicherlich war sie mir dem Namen nach bekannt, aber ich hatte kaum eine Vorstellung von ihrer Literatur. Wahr­schein­lich hat auch der deutsche Titel ihres be­rühm­tes­ten Werks, das im Original Un barrage contre le Pacifique (Ein Damm gegen den Pazifik) heißt, dazu beigetragen, der mit Heiße Küste denkbar nichtssagend daherkommt. Erst die Do­ku­men­ta­tion machte mir die Bedeutung dieses Bu­ches in der Diskussion des Kolonialismus in Frankreich deutlich. Duras, so darf man wohl sagen, war allein dafür verantwortlich, dass sich ein bedeutender Teil der französischen Be­völ­ke­rung im Jahr 1950 erstmals kritisch mit den Zuständen in den Kolonien, insbesondere in Französisch-Indochina auseinandergesetzt hat.

Duras wurde 1914 in der Nähe von Saigon geboren; ihr Roman spielt wohl Anfang der 30er-Jahre an der Pazifikküste Kambodschas. Im Zentrum steht eine Familie, die aus einer namenlosen Mutter, dem 20-jährigen Sohn Joseph und der 17-jährigen Tochter Suzanne besteht. Die Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und als junge Lehrerin zusammen mit ihrem Mann in die Kolonie ausgewandert. Nachdem ihr Mann gestorben ist, hat sie ihre Familie mit Klavierspielen und -unterricht über Wasser gehalten; sie war sogar in der Lage, soviel zu sparen, dass sie eine Konzession auf eine Farm erwerben konnte, auf der die Familie nun lebt. Leider erweist sich der Großteil des erworbenen Landes als unbebaubar, da es jährlich vom Pazifik überflutet wird. Nachdem sich die Mutter vergeblich beim zuständigen Katasteramt beschwert hat, organisiert sie zusammen mit einheimischen Bauern den Bau eines Dammes gegen den Pazifik, der aber schon im ersten Jahr unterspült wird und zusammenbricht. Seitdem lebt die Familie in ärmlichen Verhältnissen auf der mit Hypotheken belasteten Farm. Die Hoffnung darauf, noch einmal einen kräftigeren Damm errichten und damit doch noch über die überwältigende Natur siegen zu können, ist es, was die offenbar herzkranke Mutter am Leben hält.

Den eigentlichen Erzählanlass bildet eine in diese Verhältnisse einschneidende Änderung: Beim Besuch im nächsten Dorf fällt Suzanne dem Sohn eines reichen Kaufmanns und Kautschuk-Farmers aus dem Norden des Landes auf, dessen Ziel es über die nächsten 100 Seiten ist, mit Suzanne zu schlafen, was nicht nur durch Suzannes Gleichgültigkeit ihm gegenüber verhindert wird, sondern auch durch die Mutter, die ihre Tochter mit diesem Herrn Jo zu verheiraten und damit ihre Familie aus der Krise zu retten gedenkt. Herr Jo ist sich aber darüber im Klaren, dass sein Vater einer Hochzeit mit Suzanne niemals zustimmen würde, doch kann er sich von seiner Begierde nach dem Mädchen nicht losmachen und ist am Ende so von seiner Leidenschaft regiert, dass er Suzanne einen Diamantring seiner Mutter schenkt, der – wenigstens seiner Aussage nach – 20.000 Francs wert sein soll. Kurz nachdem sie diesen Ring geschenkt bekommen hat, teilt Suzanne Herrn Jo denkbar trocken mit, dass seine Besuche nicht weiter erwünscht seien.

Der Anfang des zweiten Teils des Romans spielt in der nächstgelegenen Provinzstadt – vielleicht Kampot –, wo die Mutter versucht, den Ring für den ihr genannten Preis zu verkaufen. Der Diamant weist allerdings einen Einschluss auf, so dass die Händler nur etwa die Hälfte des Preises zu zahlen bereit sind. Für die Mutter aber liegt in den 20.000 Franc die Hoffnung auf die Fortsetzung ihres Damm-Projektes, so dass sie zu keinem niedrigeren Preis verkaufen will. Während sie von Händler zu Händler läuft, beginnt Joseph eine leidenschaftliche Affäre mit einer verheirateten Frau, während Suzanne durch die Oberstadt streift und das Kino besucht. Am Ende gelingt es Joseph nicht nur, den Ring zum Wunschpreis an seine Geliebte zu verkaufen, er findet ihn zu seiner eigenen Überraschung auch in seiner Jackentasche wieder, als er mit Mutter und Schwester zur Farm zurückkehrt. Die Mutter hat das gerade erworbene Geld zur Tilgung eines Teils ihrer Schulden zur Bank getragen, muss dort aber feststellen, dass ein Großteil des Geldes von den aufgelaufenen Zinsen aufgefressen wird und sie von der Bank keinerlei neuerlichen Kredit erwarten darf. Mit der Rückkehr zur Farm beginnt der letzte und destruktivste Teil des Buches; aber das soll jede und jeder selbst lesen.

Das Buch ist tief getränkt von den persönlichen Erfahrungen der Autorin, erschöpft sich aber durchaus nicht in dieser autobiographischen Ebene. Im Gegenteil erweist sich das Projekt der Mutter als zentrale Allegorie des Textes, sie selbst als die eigentlich bestimmenden Figur, wenn auch nahezu gleichgewichtig die Coming-of-age-Geschichte Suzannes erzählt wird. Selbst an den Stellen, an denen die Fiktion nicht wirklich trägt – so etwa wenn Joseph Suzanne von seiner Affäre erzählt – ist der Stoff des Romans immer überzeugend und ursprünglich. Er lebt nicht nur von den zerrütteten Verhältnissen der Familie, sondern auch von der Schilderung der gesellschaftlichen Strukturen der Kolonie sowie der Armut und des Elends der einheimischen Bevölkerung. Ein in hohem Grad authentisches und zugleich literarisches Buch, wie man es nur selten findet.

Marguerite Duras: Heiße Küste. Aus dem Französischen von Georg Goyert. st 1581. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 62009. Broschur, 281 Seiten. 4,95 €.

George Eliot: Middlemarch

«Ehemänner sind eine untergeordnete Klasse von Männern, die man zur Ordnung rufen muss.»

Diese Lektüre stand nun seit über 30 Jahren an! Während meines Studiums hegte ich als ein mögliches Buchprojekt, etwas über die Darstellung der Ehe in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts (also so ungefähr zwischen Jane Austen und Theodor Fontane) zu schreiben. Die Institution der Ehe als zentrale Organisationsform bürgerlichen Lebens war dem späten 18. Jahrhundert offensichtlich schon sehr fragwürdig geworden, doch die volle Krise setzt erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein. Sie wird verschärft durch die Liebes-Ideologie der Romantik, die Spiegelungen der Trivialliteratur, den zunehmenden Individualismus und die sich aus dem 18. Jahrhundert fortsetzende Krise des christlichen Glaubens.

Offensichtlich profitierte von England bis Russland, von Skandinavien bis nach Italien eine ganze Schriftsteller-Tradition davon, diese Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses zu thematisieren, und erschuf neben dem Liebes- auch explizit den Eheroman, der sich von der Eheanbahnung bis zur Analyse des Scheiterns allen Phasen, Durchgangs- und sonstigen Erscheinungsformen der Institution widmete. Noch heute zehrt ein Gutteil jener Trivial-Dramen, die für Film und Fernsehen produziert werden, vom Ausschlachten dieser Romantradition.

Als ich damals versuchte, mir einen wenigstens ungefähren Überblick zu verschaffen, was denn für einen solches Projekt zu lesen wäre, ist mir natürlich auch George Eliots Middlemarch (1871–1874) untergekommen. Das Buch hat in Großbritannien und darüber hinaus in der englischsprachigen Welt einen legendären Ruf und taucht mit großer Konstanz in den Auflistungen der besten Werke der englischen Literatur auf. Und es ist – wenigstens zu einem bedeutenden Teil – auch ein Eheroman, eigentlich sogar der Roman zweier Ehen, wenn auch noch viel mehr Eheleute in ihm vorkommen. Aber er ist eben auch 1.200 Seiten lang und wurde deshalb in der Liste der zu lesenden Bücher regelmäßig nach unten verschoben. Nun sind aber im vergangenen Jahr anlässlich des 200. Geburtstages der Autorin gleich zwei Neuausgaben des Romans erschienen: eine Bearbeitung der Übersetzung von Rainer Zerbst aus den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts und eine neue Übersetzung durch Melanie Walz. Da ich ihre Übersetzungen sehr schätze, war dies der Anlass, das Buch endlich zu lesen.

Und der geübte Leser merkt gleich von der ersten Seite an, dass es sich bei diesem Buch tatsächlich um eines der ganz großen der Literatur des 19. Jahrhunderts handelt. Erzählt wird die Geschichte von etwa zwei Dutzend Figuren in und um den kleinen fiktiven mittelenglischen Ort Middlemarch herum, wobei die Handlung ungefähr fünf Jahre um das Jahr 1830 herum umfasst. Es beginnt und endet mit der Geschichte Dorothea Brookes, einer jungen Frau mit großem Wissensdurst, der durch ihren Erziehungs- und Bildungsgang nicht gesättigt wurde. Sie lebt zusammen mit ihrer jüngeren Schwester im Haushalt ihres Onkels, der eine Art von Universal-Stümper darstellt, auf allen Wissensgebieten beleckt, aber nirgendwo richtig nass geworden. Dorothea hat also eine Vorstellung davon entwickelt, was alles zu wissen wäre, ohne dass sie in ihrem Drang irgend eine Unterstützung gefunden hätte. Quasi ersatzweise ist sie überaus fromm geworden und in Middlemarch stark sozial engagiert.

Diese auffallende junge Frau heiratet nun einen Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie sie, einen Geistlichen, der seit Jahrzehnten an einer umfassenden Darstellung der europäischen Mythologie arbeitet, die aber über den Status gesammelter Notizen und fragmentarischer Aufsätze nie hinausgekommen und fachwissenschaftlich seit langem überholt ist. Dorothea heiratet Edward Casaubon in der Vorstellung, sie könne ihn als Sekretärin unterstützen und sich auf diese Weise langsam das Wissen erarbeiten, dass sie in Casaubon verkörpert sieht. Natürlich wird diese Hoffnung rasch enttäuscht: Zwar erlaubt ihr Ehemann einige Zuarbeiten, aber zu einer wirklichen Zusammenarbeit lässt er es nie auch nur ansatzweise kommen. Im Gegenteil beweist er sich schon auf der gemeinsamen Hochzeitsreise nach Rom als eigenbrötlerischer Sonderling, der kaum in der Lage ist, auf die Bedürfnisse, Erwartungen und Gefühle seiner jungen Frau einzugehen.

Die zweite Ehekatastrophe des Romans steht unter gänzlich anderen Vorzeichen: Ihren Mittelpunkt bildet Tertius Lydgate, ein junger Arzt, der nach Middlemarch kommt, da er hier eine etablierte Praxis übernehmen kann. Er bringt neue Vorstellungen und Methoden mit in die Provinz, die er auch eloquent vertritt und durch die er nicht nur seine eingesessenen Kollegen verärgert, sondern auch seine potenziellen Patienten verstört. Er wird rasch medizinischer Leiter eines neuen Fieberhospitals, das durch den lokalen Bankier Nicholas Bulstrode gebaut und finanziert wird, und kommt in Kontakt mit der wohlhabenden Kaufmanns-Familie Vincy, deren beide Kinder Fred und Rosamond weitere prominente Figuren des Romans sind. Eigentlich will Lydgate ledig bleiben, doch lässt er sich auf einen Flirt mit der attraktiven Rosamond ein, der unglücklicher Weise in eine Verlobung hineinrutscht. Auch diese Ehe erweist sich nicht als ideal: Lydgate hat sich durch die Hochzeit, die Einrichtung eines großen Hauses und Geschenke an seine anspruchsvolle Verlobte finanziell übernommen und bemerkt zu spät, dass seine Einnahmen nicht ausreichen, um seine Schulden bezahlen zu können. Da sein Schwiegervater nicht willens und wohl auch nicht in der Lage ist, das Ehepaar aus der Notlage zu befreien, und auch Lydgates Verwandte abwinken, muss das Ehepaar eine Pfändung über sich ergehen lassen. In dieser Krise geraten Lydgate, der sich ganz praktisch in bescheidenere Verhältnisse fügen will, und seine Frau sehr aneinander und es scheint über viele Seiten hinweg so zu sein, als habe diese Ehe, die darüber hinaus auch noch durch eine frühe Fehlgeburt belastet ist, überhaupt keine Zukunft.

Um diese beiden zentralen Ehegeschichten herum erzählt Eliot ein ganzes Geflecht weiterer Schicksale und Ereignisse: Von Rosamonds Bruder Fred, einem Taugenichts, der lange braucht, um einen passenden Platz in der Welt Middlemarchs zu finden, von der halben Künstlernatur Will Ladislaw, der als Gegenfigur zu seinem Cousin Edward Casaubon fungiert und für Dorothea so etwas wie ein gänzlich anderes Leben repräsentiert, vom politischen Leben der Provinz, in dem Onkel Brooke sich als Abgeordneter bewerben möchte, von den verschiedenen Pfarrhäusern der Gegend, von Bulstrodes Vorgeschichte, die einen unheiligen Einfluss nicht nur auf sein Leben, sondern auch auf das Lydgate haben soll – diese Nebenhandlung mit ihrem Bösewicht Raffles ist die einzige, die ein wenig nach Dickens riecht, was wiederum deutlich macht, wie überlegen das ganze übrige des Romans ist –, vom reichen Erbonkel Peter Featherstone, der Fred mit der Aussicht auf ein üppiges Erbe terrorisiert, von den medizinischen Gepflogenheiten der Zeit und der vom Kontinent her drohenden Cholera-Epidemie, von der Armut der Hintersassen, die auf Gedeih und Verderb von der Qualität des Grundherrn oder seines Verwalters abhängig sind, von den religiösen Verwerfungen der Zeit, die als Folgen der Reformation immer noch Vorurteile und Ausgrenzungen in der Gesellschaft erschaffen und was der Dinge mehr sind.

Das Buch ist von einem erstaunlichen Reichtum gesellschaftlicher Details, psychologisch in den Hauptfiguren außergewöhnlich fein gearbeitet, in der Konstruktion auf der Höhe der besten Zeitgenossen, ohne dass es in seiner Wirkung auf diese Konstruktion angewiesen wäre, sprachlich aufs sorgfältigste differenziert – kurz: ein echtes Wunderwerk der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Sicherlich ist es für einen nachgeborenen Leser nicht vollkommen: Gerade in der Auflösung der Geschichten Dorotheas und Lydgates zeigen sich deutlich Muster der Trivialliteratur, wie sie von den Leserinnen schlicht von einem Roman erwartet wurden. Aber das sind Nebensächlichkeiten, die sich aus den Zwängen des Marktes ergeben, denen sich immer nur ganz wenige Ausnahmen entziehen können. Mit dem, was der Autorin gelungen ist, überstrahlt das Buch auch die besten Exemplare der zeitgenössischen Literatur. Es kann in der Übersetzung von Melanie Walz jeder ernsthaften Leserin nur dringend empfohlen werden!

George Eliot: Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Hamburg: Rowohlt, 2019. Leinen, Lesebändchen, bedrucktes Vorsatzpapier, 1263 Seiten. 45,– €.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming

Diese Lektüre bedarf einiges an Erläuterungen. August Heinrich Julius Lafontaine (1758–1831) war ein Massenschriftsteller der Goethe-Zeit, der seine Romane in serieller Produktion schrieb. Er hatte einen ungeheuren Erfolg beim Publikum, wurde aber von den Kritikern, wenigstens von jenen, die wir auch heute noch lesen, im besten Falle als ein Trivialautor, im schlimmsten als ein Schreiberling unterster Kategorie angesehen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er zu Recht weitgehend vergessen; dennoch ist das vorliegende Buch ein Nachdruck aus dem Jahr 2008 und in einer – wenigstens damals noch – halbwegs prominenten Buchreihe erschienen, den Haidnischen Alterthümern.

Bei den Haidnischen Alterthümern handelt es sich um eine in lockerer Folge herausgegebene Reihe von Büchern, die allesamt auf Hinweise Arno Schmidts zurückgehen. Schmidt hatte Mitte der 1950er Jahre damit begonnen, für den Südfunk Stuttgart, für den Alfred Andersch damals als Redakteur tätig war, sogenannte Nachtprogramme zu schreiben. Es handelte sich um dialogisch aufbereitete Essays zur Literatur, die spät abends gesendet wurden. Damals war die Arbeit für den Rundfunk für die meisten Schriftsteller recht attraktiv, da die Funkhäuser vergleichsweise gut bezahlten. Schmidt, dessen eigene Werke zwar Anerkennung bei Kritik und Kollegen fanden, sich aber nur schleppend verkauften, war auf Brotarbeiten wie Übersetzungen, Texte fürs Feuilleton oder eben auch die Nachtprogramme für den Funk dringend angewiesen.

Die Aufmachung der 2. Serie
der Haidnischen Alterthümer

Für die Funk-Essays griff Schmidt auf seine breite Lektüre der Belletristik des 18. und 19. Jahrhunderts zurück und konnte auf einige Autoren und Werke hinweisen, die damals halbwegs oder weitgehend vergessen waren. Als Schmidt dann nach dem Erscheinen von Zettel’s Traum (1970) auch für ein etwas breiteres Publikum zu einem Gerücht geworden war, wurden 1978 die Haidnischen Alterthümer begründet, die angeblich die Lieblingsbücher Arno Schmidts herauszubringen gedachten. Man könnte über diesen Anspruch nun Band für Band diskutieren, aber dafür ist hier kaum der richtige Platz. Wie dem auch sei: Es erschienen in 30 Jahren insgesamt 16 Titel, für die sich allesamt eine Empfehlung Arno Schmidts konstruieren ließ.

Im Jahr 2008 fand die Reihe dann ihr Ende mit dem hier besprochenen Roman. Schmidt hatte 1965 einen entsprechenden Funk-Essay verfasst, der den etwas merkwürdigen Titel Eine Schuld wird beglichen trug. Anlass dafür war, dass sich Schmidt in seiner umfangreichen Biographie über den Romantiker Friedrich de la Motte Fouqué dem Urteil der Zeitgenossen folgend über August Lafontaine abfällig geäußert hatte. Angeblich hatte er damals auch drei von dessen Romanen gelesen und für schlecht befunden. Nun aber habe er sich eines Besseren belehrt, weitere Romane konsumiert und müsse Abbitte leisten: So schlecht seien Lafontaines Romane gar nicht gewesen. Ganz am Ende bespricht Schmidt dann auch für einige Minuten eben jenen Quinctius Heymeran von Flaming, der es deshalb zur Ehre eines Nachdrucks gebracht hat.

Der vierbändige Roman vom Ende des 18. Jahrhunderts umfasst 1.200 Seiten, auf denen leider nicht viel mehr steht, als bequem auch auf 300 gepasst hätte. Erzählt wird eine endlose Abfolge von Liebeshändeln, wobei Lafontaine auf dem Rücken dieses Stroms von Ge- und Missverständnissen eine milde Satire auf einige gelehrte Theorien seiner Zeit transportiert. Der Titelheld, der aus einem shandyianischen Adels-Haushalt stammt, dessen Hausherr besessen über seine Ahnenreihe dilettiert, eignet sich auf der Universität eine obskure Rassentheorie an, mit der er nun die Welt interpretiert und dabei natürlich aufs Vortrefflichste scheitert. Es wird unsäglich viel geweint – der Beweis der Echtheit der Gefühle in der bürgerlichen Literatur der Zeit – und geschwätzt, die Missverständnisse und ihre Auflösung sind sehr trivial und vorhersehbar. Auch der Humor, den man dem Buch durchaus nicht absprechen kann, reicht nur für den ersten Band aus; danach ist es wie auf der Rückreise von einer Kaffeefahrt: Man ist sicher, dass man jede mögliche Pointe schon mindestens zweimal gehört hat.

Es handelt sich bei diesem Buch um ganz gewöhnliche Unterhaltungsware des späten 18. Jahrhunderts, wie sie so seitdem in ungebrochener Tradition den Buchmarkt betritt und wieder verlässt. Der dünne satirische Anstrich hebt das Buch zwar ein wenig über die Masse hinaus, doch macht sich hier nur einer über ganz offensichtlichen Unfug der Anthropologen seiner Zeit lustig, ohne dabei wirklich das Niveau eines originellen und freien Denkens zu erreichen. Lafontaine steckt im Gegenteil ganz tief in der bürgerlichen Moral seiner Zeit fest und bedient letztlich die entsprechenden Vorurteile zuverlässig. Auch sind die meisten seiner Figuren gänzlich eindimensional und verfügen ausschließlich über Charakterzüge, die dem Verlauf der Handlung dienlich sind. Einzig die Mutter Flaming ist ihm ein wenig menschlich geraten; er wusste also schon, was er da treibt.

Mit Blick auf Arno Schmidt und seine banal-psychoanalytische Sprachtheorie – „Das’ss ja heutzutage bekannt genug, daß jeder Könner zu seinem Können grundsätzlich åuch noch ’ne gänzlich zwecklose Theorie hinzuerfindn muß.“ – ist es nicht unwitzig, dass er einen Roman in den Druck zurückgelobt hat, dessen Protagonist mit einer kruden, selbstgezimmerten Theorie durch die Welt läuft, mit der er überall nur Celten, Mongolen, Slaven und Neger wahrnimmt, aber nicht in der Lage ist, die Realität oder Individualität seiner Mitmenschen zu erfassen.

Wer sich einen Eindruck verschaffen will – auch weil das Buch in die in Deutschland nur dünn besetzte Epoche der Empfindsamkeit gehört – kann getrost nach der Lektüre des zweiten der ursprünglichen vier Bände aufhören; ich selbst habe die letzten 450 Seiten nur mehr quer gelesen.

August Lafontaine: Quinctius Heymeran von Flaming. Frankfurt/M.: Zweitausendeins, 2008. 2 Pappbände mit Leinenrücken, Silber-Kopfschnitt, Lesebändchen, 632 + 822 Seiten. 39,90 €.

Fjodor Dostojewskij: Der Idiot

Gut, so was steht in Romanen! Das, lieber Fürst, sind alte Märchen, heute ist die Welt viel klüger geworden, und nun ist das alles Unsinn!

Der zweite der letzten fünf großen Romanen Dostojewskijs erschien 1869 nach einem Zeitungsvorabdruck als Buch. Dostojewskij lebte während der gesamten Niederschrift mit seiner Frau Anna im Ausland, hauptsächlich in der Schweiz und in Italien. Der Idiot war eines der Projekte, mit denen Dostojewskij einen Teil seiner Schulden in Russland abzahlen und seine Rückkehr ermöglichen konnte.

Erzählt wird die Geschichte des Fürsten Myschkin, ein etwa 25 Jahre junger Mann, der nach über vier Jahren Behandlung in einem Schweizer Sanatorium nach Russland zurückkehrt. Er ist Epilektiker und war vor seiner Behandlung aufgrund der Krankheit kaum lebens- oder kommunikationsfähig. Im Zug nach Petersburg lernt er Pafjon Rogoschin kennen, dessen Vater gerade gestorben ist und der aus der Provinz nach Sankt Petersburg fährt, um sein Erbe anzutreten und um eine Frau zu werben, in die er verliebt ist. In Sankt Petersburg angekommen, begibt sich Myschkin zur Wohnung des Generals Jepantschin, mit dessen Frau Lisaweta er weitläufig verwand ist. Hier wird er von der Familie überraschend freundlich aufgenommen und lernt auch die drei unverheirateten Töchter des Ehepaars kennen, von denen die jüngste, Aglaja, eine wichtige Rolle im weiteren Roman spielen wird.

Noch am selben Abend lernt er auch die Frau kennen, um die Rogoschin wirbt: Nastassja Filippowna  Baraschkowa stammt aus einfachen Verhältnissen, wurde aber aufgrund ihrer überragenden Schönheit von ihrem Gutsbesitzer ausgewählt und zur Kurtisane erzogen und ausgehalten. Aus diesem Zwangsverhältnis hat sich Nastassja befreit und verdreht nun als selbstständige Frau in Sankt Petersburg den Männern die Köpfe. Auch Myschkin verfällt ihrer Schönheit bereits beim Betrachten eines Porträts, um so mehr als er ihr persönlich begegnet. Bei dieser ersten Begegnung bei Nastassjas Geburtstagsfeier erweist sich Myschkin auch eindeutig als äußerst merkwürdige Natur, denn er macht Nastassja, kaum hat er sie kennengelernt sogleich einen Heiratsantrag, offenbar in der Absicht, sie vor einer Beziehung mit Rogoschin zu retten.

Nach der Zuspitzung gleich dieses ersten Tages verschwinden zuerst Rogoschin und Nastassja nach Moskau; Myschkin folgt ihnen unmittelbar. Der zweite von vier Teilen des Romans beginnt etwa sechs Monate nach diesen Ereignissen als Myschkin nach Sankt Petersburg zurückkehrt und sehr bald  erfährt, dass sich Nastassja in Pawlowsk – der Sommerresidenz des Zaren – aufhält. Er reist ihr nach, mietet sich bei einer der Nebenfiguren des Romans ein und kommt hier auch wieder in Kontakt mit der Familie Jepantschin. In den Kreisen, in denen Myschkin verkehrt, weiß man, dass er in der Zwischenzeit wenigstens eine Weile lang mit Nastassja im selben Haushalt zusammengelebt hat, sie ihm am Ende aber weggelaufen sei. Einerseits erklärt Myschkin sein Interesse an Nastassja als vom Mitleid mit dieser Frau getragen, die er mehrfach als wahnsinnig bezeichnet, andererseits scheint Myschkin sich nun für Aglaja Iwanowna Jepantschin zu interessieren, der er während seines Aufenthalts in Moskau auch einen merkwürdig vertraulichen Brief geschrieben zu haben scheint. Aglaja ist wiederum einerseits offensichtlich von Myschkin und seinem Außenseitertum fasziniert, andererseits scheint er ihr aufgrund seiner gesellschaftlichen Ungeschicklichkeit und seiner großen Naivität als Ehemann vollkommen ungeeignet. Ein bedeutender Teil der Erzählung beschäftigt sich nun mit der langsamen Zubereitung Myschkins als Ehekandidaten für Aglaja, eine Hoffnung, die bei dem ersten großen Empfang, bei dem Myschkin in den Freundes-, Bekannten- und Gönnerkreis der Jepantschins eingeführt werden soll, musterhaft scheitert, als sich Myschkin nicht nur anlässlich einer religiösen Frage in Rage redet, sondern die Feier auch noch dadurch beendet, dass er einen epileptischen Anfall erleidet.

Als sei dies nicht genug, kommt es zu einem weiteren Skandal, als Myschkin Aglaja auf deren Wunsch hin zu Nastassja begleitet, die Aglaja mehrfach geschrieben hat, angeblich um deren Hochzeit mit Myschkin zu befördern. Es kommt zu einer exzessiven Eifersuchtsszene zwischen den beiden Frauen, und anstatt Aglaja bei deren wütendem Abgang zu folgen, bleibt Myschkin bei der nervlich zerrütteten Nastassja. Nun scheint seine Hochzeit mit ihr eine beschlossene Sache zu sein. Aber auch dieser Plan scheitert und der Roman endet in einer größtmöglichen Katastrophe. Myschkin wird durch die letzten Ereignisse des Romans so erschüttert, dass er in den katatonischen Zustand zurückkehrt, in dem er fünf Jahre zuvor in die Schweiz gebracht worden war. Er wird in dasselbe Hospital gebracht, doch diesmal erklärt der Schweizer Doktor ihn für unheilbar.

Der Idiot ist unzweifelhaft ein sehr ungewöhnlicher Roman: Auf der einen Seite arbeitet er als ein Liebes- und Eheanbahnungsroman eines der trivialen Muster der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts ab, auf der anderen führt er aber ein diesem Muster offensichtlich zuwiderlaufendes Gedankenexperiment durch, das in dem Versuch besteht, einen weitgehend unsozialisierten Menschen – Myschkin wird mehrfach als Kind bezeichnet und hat seine einzigen sozialen Kontakte in der Schweiz mit Kindern gehabt – auf die russische Gesellschaft mit all ihren Ritualen, Rangstufungen und Intrigen loszulassen. Myschkin ist ein weiteres Exemplar des Naturmenschen in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in diesem Fall nicht durch seine Herkunft, sondern durch seinen Lebensweg und seine Krankheit von der Sozialisation abgeschnitten. Ihm ist jede Boshaftigkeit fremd, jede Lust daran, anderen zu schaden, jegliche Leidenschaft, jegliche Gier, jegliche Selbstsucht. Seine Liebe erscheint stets uneigennützig und rein, wenn sie auch zu Aglaja und Nastassja sicherlich unterschiedlich motiviert ist. Myschkin ist der von der Gesellschaft  noch nicht verdorbene Mensch. Sein Schicksal ist eine scharfe Kritik des Christen Dostojewskij an der Gesellschaft seiner Zeit, auch wenn Myschkin letztlich nicht an dieser Gesellschaft, sondern an einem Verbrechen scheitert, das offenbar aus Leidenschaft begangen wird. Myschkin zerbricht an der Realität des Menschen, nicht nur an der Konstruktion seines Zusammenlebens.

Auch diesmal hat sich für mich wieder die Übersetzung Swetlana Geiers bewährt: Der Idiot ist der einzige Roman Dostojewskijs, den ich in der Übersetzung Hermann Röhls komplett gelesen hatte, aber ohne mich mit ihm anfreunden zu können. Die differenzierte und oft lakonische Sprache Geiers hat auch diesen Roman für mich geöffnet.

Fjodor Dostojewskij: Der Idiot. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Lizenzausgabe. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995. Pappband, Fadenheftung, 911 Seiten. Lieferbar als Fischer Taschenbuch für 15,– €.

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen

Man muss allem ehrlich ins Gesicht sehn und sich nichts weismachen lassen und vor allem sich selber nichts weismachen.

Der kleine Roman aus dem Jahr 1887 spielt in Berlin in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre und erzählt die Liebesgeschichte zwischen der Näherin Lene Nimptsch und Baron Botho von Rienäcker. Kennengelernt haben sich die beiden, als Botho Lene und eine Freundin bei einem Bootsausflug aus einer Notlage errettet und anschließend nach Hause begleitet. Seitdem ist Botho regelmäßiger Gast in der beim Zoologischen Garten gelegenen Gärtnerei, bei der Lene zusammen mit ihrer Ziehmutter wohnt. Für Lene ist es nicht die erste Freundschaft mit einem Adeligen; für Botho ist es eine entspannende Auszeit vom Umgang in der adeligen Gesellschaft, den er als bemüht und anstrengend empfindet. Die Beziehung der beiden gipfelt in einer gemeinsamen Nacht, die sie in einem etwas abgelegenen Gasthaus miteinander verbringen. Doch ist dies zugleich der Anfang vom Ende.

Botho steht von Seiten seiner Familie unter Druck, eine schon lange verabredete Verlobung mit seiner wohlhabenden Kusine endlich zu realisieren. Die Familie Bothos ist auf das Geld angewiesen, und Botho gibt den Vernunftgründen nach, trennt sich von Lene und heiratet das Geld. Seine Frau Käthe erweist sich als eine fröhliche, wenn auch etwas oberflächliche Natur, mit der sich gut auskommen lässt. Dennoch hängt Botho auch nach seiner Hochzeit immer noch seiner Liebe zu Lene nach. Auch Lene macht die Trennung zu schaffen, aber sie bewältigt ihre Trauer: Sie sorgt für den Umzug mit ihrer Mutter in eine bessere Gegend und lernt einen soliden, älteren Mann kennen, der sie trotz ihrer Vorgeschichte heiratet. Sowohl Botho als auch Lene wachsen am Ende über ihre Liebe hinaus und werden vom Autor in eine ernüchternde Normalität entlassen.

Fontane selbst hat Irrungen, Wirrungen ebenso wie den nachfolgenden Roman Stine, der von einer ganz ähnlichen Beziehung erzählt, als „harmlos“ bezeichnet. Offensichtlich handelt es sich in beiden Fällen um Literatur aus Literatur, also eine Variation eines damals populären und in der Trivialliteratur der Zeit viel behandelten Stoffs. Doch das von Fontane gewählte Ende von Irrungen, Wirrungen, das sich sowohl einer Tragödie als auch dem Happy End der Komödie verweigert, hebt seine Abwandlung aus dem zeitgenössischen Schema heraus: Nichts Dramatisches ereignet sich, niemandes Leben wird zerstört, aber es werden auch keine Standesgrenzen gesprengt und das kleine, private Glück der Liebe gefeiert. Lene und Botho bleiben beide mit einem „Knax für’s Leben“ zurück – um noch einmal Fontane selbst zu zitieren –, doch bleibt es bei der „Berliner Alltagsgeschichte“, als die der Roman im Zeitungsvorabdruck bezeichnet wird.

Neben der Liebesgeschichte liefert Fontane besonders im ersten Teil ein breit ausgemaltes Bild vom einfachen Leben im Berlin der 1870er Jahre. Für wie gelungen man das hält, muss jede und jeder für sich entscheiden; mir ist der darin vorherrschende etwas süßliche Idyllenton schon ein wenig auf die Nerven gegangen.

Das Buch hat bei der Vorab-Veröffentlichung einen ziemlichen Skandal gemacht; besonders die gemeinsame Übernachtung der beiden Unverheirateten hat damals einige Gemüter in Wallung gebracht, obwohl es sich gerade bei dieser Passage um die noch dezenteste des ganzen Buchs handelt. An anderen Stellen werden die Umstände, unter denen der „Storch“ die Kinder in die Welt bringt, weit deutlicher angesprochen. Auch wenn sich das für heutige Leser alles gänzlich harmlos liest, kann man hier gut erkennen, welchen Empfindlichkeiten sich ein Autor am Ende des 19. Jahrhunderts noch gegenüber sah.

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. RUB 18741. Stuttgart: Reclam, 2010. Broschur, 199 Seiten. 4,40 €.

Theodor Fontane: Schach von Wuthenow

Unsere Prinzipien dauern gerade so lange, bis sie mit unsern Leidenschaften oder Eitelkeiten in Konflikt geraten und ziehen dann jedesmal den Kürzeren.

Schach von Wuthenow aus dem Jahr 1882 (Buchausgabe: 1883) ist nach Vor dem Sturm Fontanes zweiter Roman, dessen Handlung in der Napoleonischen Zeit spielt. Ob die Gattungsbezeichnung korrekt ist, wird seit langer Zeit diskutiert; Fontane selbst nannte den Text mehrfach eine Novelle, so dass man je nach Geschmack entweder von einem kurzen Roman oder einer ausgefallenen Novelle sprechen kann. Wie zahlreichen anderen Texten Fontanes liegt auch diesem ein historischer Fall zugrunde, den Fontane dramaturgisch strafft und zuspitzt.

Die Handlung spielt in Berlin im Jahr 1806 am Vorabend der preußischen Niederlage gegen Napoleon. Erzählt wird von dem jungen Baron Schach von Wuthenow, Angehöriger des Regiments Gendarmes, der als ein Außenseiter und eingebildeter Schönling gilt. Schach verkehrt im Salon der verwitweten Josephine von Carayon, die mit ihrer Tochter Victoire in keineswegs luxuriösen Umständen in der Nähe des Gendarmenmarktes wohnt. Ihn verbindet eine offensichtliche Sympathie mit der Mutter; zugleich lässt sich eine Verliebtheit der mit ihm etwa gleichaltrigen Tochter in Schach aber nicht leugnen.

Der erste Teil des Romans widmet sich ausführlich der Schilderung der Situation Preußens, das einen fragilen Frieden mit Frankreich erreicht hat, an dessen Dauer aber niemand recht glauben kann. Zur Knüpfung des dramatischen Knotens kommt es, als Schach eines Abends unangemeldet bei den Carayons vorspricht und Victoire allein antrifft. Statt sich sofort wieder zu verabschieden, wie es sein erster Impuls ist, bleibt Schach und beginnt, mit Victoire zu plaudern.

Ach, das waren die Worte, nach denen ihr Herz gebangt hatte, während es sich in Trotz zu waffnen suchte. Und nun hörte sie sie willenlos und schwieg in einer süßen Betäubung.

Die Zimmeruhr schlug neun und die Turmuhr draußen antwortete. Victoire, die den Schlägen gefolgt war, strich das Haar zurück, und trat ans Fenster und sah auf die Straße.
» Was erregt dich?«

Der Übergang des Dialogs vom formellen Sie zum intimen Du muss genügen, um das eigentliche Geschehen zu schildern. Victoire ist eine ehemalige Schönheit, die durch eine Erkrankung an Blattern entstellt ist. Alles, was der Leser sonst von ihr erfährt, macht sie zu einer potentiell idealen Gattin Schachs, doch fürchtet der eine offizielle Verbindung mit ihr, die ihn möglicherweise dem Spott seiner Kameraden aussetzen würde. Schach versucht daher in den folgenden Wochen konsequent jede intimere Begegnung mit Victoire zu vermeiden, die auch diese Wendung ihrer Beziehung zu Schach klag- und kommentarlos hinnimmt, bis sie eines Tages zusammenbricht und ihrer Mutter das Geschehene verrät, wohl auch, weil es sich ohnehin nur noch eine begrenzte Zeit würde verheimlichen lassen.

Frau von Carayon stellt Schach daraufhin bestimmt, wenn auch nicht unfreundlich zur Rede, der sich sofort zu seiner Verantwortung bekennt und mit der Mutter sowohl den Verlobungs- als auch den Hochzeitstermin festlegt. Doch in der Woche vor der Bekanntmachung der Verlobung erscheinen in Berlin Stück für Stück drei Karikaturen, die Schachs Verhältnis sowohl zur Mutter als auch zur Tochter thematisieren. Schachs einziger Einfall ist es, sich sofort und ohne sich zu verabschieden auf sein Schloss Wuthenow zurückzuziehen und dort quasi zu verstecken.

Die düpierte Frau von Carayon, die von den Karikaturen noch nichts weiß, glaubt Schach wolle sich nun doch vor der Ehe mit Victoire drücken und nutzt ihre Verbindung zum Hof, um die Einhaltung von Schachs Versprechen einzufordern. Der König – Friedrich Wilhem III. –, zitiert ihn an den Hof und teilt ihm ziemlich lakonisch mit, dass er von ihm die Erfüllung seiner Pflicht oder seinen Abschied als Offizier erwarte. Sogar Königin Louise lässt sich dazu herbei, Schach ins Gewissen zu reden.

Die gnädigen Worte beider Majestäten hatten eines Eindrucks auf ihn nicht verfehlt; trotzdem war er nur getroffen, in nichts aber umgestimmt worden. Er wusste, was er dem König schuldig sei: Gehorsam! Aber sein Herz widerstritt, und so galt es denn für ihn, etwas ausfindig zu machen, was Gehorsam und Ungehorsam in sich vereinigte, was dem Befehle seines Königs und dem Befehle seiner eigenen Natur gleichmäßig entsprach.

Dieses „etwas“ bildet nun die eigentliche Pointe des Textes: Schach verlobt sich und heiratet Victoire, wie es von ihm erwartet wird, und auf der Rückfahrt von der Hochzeitsfeier nach Hause – am nächsten Tag soll das Brautpaar in die Flitterwochen reisen – erschießt er sich in seinem Wagen.

Fontane schließt mit zwei Deutungen des „Falls Schach“: Zum einen durch den damals berühmten Militärhistoriker von Bülow, der Schach als ein Symbol für den aushöhlten Ehrbegriff des preußischen Militärs versteht, zum anderen durch Schachs Ehefrau Victoire, die den Freitot ihres Mannes als Flucht vor der von ihm gefürchteten Institution der Ehe deutet und sich mit dem Glück ihres Kindes bescheidet. Wie durch den ganzen Text hindurch repräsentiert Victoire den Sieg des Stoizismus über die Welt.

Natürlich bietet sich eine dritte Deutung des Buch, nicht so sehr des „Falls Schach“ an: Fontane wollte seine Erzählungen als eine Fortsetzung des Programms der Weimar Klassiker unter Überspringen des romantischen Denkens und Erzählens verstehen. Von daher kann Schach von Wuthenow programmatisch gelesen werden, die sozusagen im Rückblick der Romantik den Spiegel vorhält und sagt: Seht dies war Eure Welt und solche Stoffe standen Euch zur Verfügung, und nichts davon findet sich in Euren Romanen wieder. Dass diese Sicht nicht nur anachronistisch, sondern auch ungerecht wäre, ist sowohl offensichtlich als auch wenig erheblich. Klappern gehört eben zum Handwerk, auch dem eines Schriftstellers.

Nur am Rande sei hier noch auf eine außerordentliche Auseinandersetzung mit diesem Text hingewiesen: Uwe Johnson lässt im vierten Band seiner Jahrestage Gesine Cresspahl in ihrem letzten Schuljahr diesen Roman unter Anleitung eines jungen, gerade von der Universität kommenden Kandidaten lesen und liefert so einen wundervollen Kommentar eines Schriftstellers zu einem Meisterstück eines seiner Vorgänger. Unbedingt lesenswert.

Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes. RUB 19518. Stuttgart: Reclam, 2019. Broschur, 214 Seiten. 4,40 €.

John Steinbeck: Der Winter unseres Missvergnügens

«Die ganze Wahrheit? Wenn man ein Huhn zerlegt, Ethan, ist alles Huhn, trotzdem gibt es helles und dunkles Fleisch.»

Der Winter unseres Miss­ver­gnü­gens von 1961 ist John Steinbeck letzter Roman. Der Literaturnobelpreis, den er 1962 erhielt, veränderte seinen Status als Prominenter so stark, dass er danach bei zunehmender Krankheit vor lauter öffentlichem Engagement nur noch wenig zum Schreiben kam. So sind dieser Roman und die 1962 noch erschienene, autobiographische Reise mit Charlie seine letzten Bücher gewesen. Erzählt wird im Winter unseres Missvergnügens hauptsächlich die Geschichte Ethan Allen Hawleys, eines jungen Mannes, verheiratet, mit zwei Kindern, der seine Familie und sich als Verkäufer in einem Leb­ens­mit­tel­la­den über Wasser hält. Der Laden hat im einmal gehört, aber er war als ein unerfahrener Kriegsheimkehrer pleite gegangen und der Käufer des Ladens, ein italienischer Einwanderer, hatte ihm eine Stelle als Verkäufer im selben Geschäft angeboten.

Die Handlung spielt in zwei kurzen Episoden um Ostern und den 4. Juli 1960 herum in dem kleinen, fiktiven, us-amerikanischen Ostküstenstädtchen New Baytown. Ethan gehört zu einer der Gründerfamilien des Städtchen, die ehemals durch den Walfang reich geworden, dann aber heruntergekommen war. Ethans Vater hatte die Reste des Familienvermögens durchgebracht und so bleibt Ethan nichts als das Haus und der Nachruhm der Familie. Sein Misserfolg als Kaufmann hängt ihm immer noch nach, aber um die Osterfeiertage herum beschließt er, in die Klasse der wohlhabenden Bürger zurückzukehren. Den Plan, mit dem er das ins Werk setzen will, entwickelt er im Laufe dieser Tage.

An der Oberfläche erzählt der Roman den Ablauf einiger weniger Tage, an denen sich eine entscheidende Wendungen in Ethans Leben einstellt. Im Hintergrund aber erzählt Steinbeck auch die Geschichte einer kleinen, von Tradition und Korruption gezeichneten Gemeinde und einer Gesellschaft, die trotz ihrer öffentlichen Moral von Ehrlichkeit, Fleiß und Rechtschaffenheit im Wesentlichen von Eigennutz, Betrug und Lügen geprägt ist.

New Baytown hatte so lange geschlafen. Jene Männer, die die Stadt regierten, in politischer, moralischer und wirtschaftlicher Hinsicht, beherrschten das Gemeinwesen schon so lang, dass sie in ihren Gewohnheiten festgefahren waren. Stadtdirektor und Stadtrat, Richter und Polizei waren für die Ewigkeit eingesetzt. Der Stadtdirektor verkaufte Baumaterial an die Stadt, und die Richter ließen Strafzettel verschwinden, wie sie es seit jeher taten, weshalb ihnen dies auch nicht illegal schien – obwohl die Gesetzbücher es behaupteten. Sie fanden es nicht unmoralisch, weil sie normale Menschen waren. Kein Mensch war unmoralisch. Die Nachbarn ausgenommen.

In diesem normalen Städtchen ist Ethan so etwas wie ein Einhorn: ein ehrlicher Mann, der sich – zumindest zu Anfang – weigert, an dem allgemeinen Spiel des Betrugs und der Bereicherung teilzunehmen. Als er dann beschließt, doch mitzumachen, soll das nicht ohne Folgen bleiben. Aber das soll jeder Leser selbst entdecken.

Der Roman ist in locker wechselnder Perspektive erzählt: Personales und Ich-Erzählen lösen einander ab; im zweiten Teil gibt es auch Kapitel, die ganz traditionell auktorial daherkommen. Breite Passagen sind dialogisch gefasst; überhaupt ist der Gegensatz zwischen dem, was die Figuren sagen, dem, was sie denken und beabsichtigen und schließlich dem, was sie tun, das zentrale Spannungselement des Romans. Steinbeck lässt sich lange Zeit, bevor er seinen Lesern erlaubt, seinem Protagonisten auf die Spur zu kommen, und selbst als der dann endlich weiß, was Ethan plant, sollte er sich nicht zu sehr darauf verlassen.

Die Neuausgabe bei Manesse ersetzt die ältere, bereits 1963 erschienene Übersetzung von Harry Kahn (Geld bringt Geld). Diese Übersetzung machte zumindest klar, wie schwierig es ist, Steinbeck gut zu übersetzen. Steinbecks Texte haben bei aller Ernsthaftigkeit ihrer Stoffe einen leichten, immer humoristischen Grundton, der insbesondere auch die Dialoge prägt. Zugleich gibt es in Der Winter unseres Missvergnügens einen durchgängigen, peu à peu wachsenden zornigen Unterton, der im letzten Kapitel auf ganz überraschende Weise kulminiert. Es ist sehr, sehr schwierig, das in einer anderen Sprache nachzubilden. Bernhard Robben ist dies alles andere als kleine Kunststück mit einer Souveränität gelungen, die man nur bewundern kann. Robben gehört schon lange zu den besten Übersetzern aus dem Englischen, aber hier ist ihm ein besonderes Meisterstück gelungen. Dem deutschen Text fehlt nichts von der Leichtigkeit und Eingängigkeit des Originals; insbesondere die ehelichen Dialoge zwischen Ethan und Mary sind mit einer Genauigkeit getroffen, die man bei Kenntnis des Originals kaum für möglich halten würde. Ein echter Glücksfall!

John Steinbeck: Der Winter unseres Missvergnügens. Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Robben. Zürich: Manesse, 2018. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 606 Seiten. 25,– €.