William Beckford: Vathek

Jedermann fiel ohne den geringsten Widerstand oder Kampf: so daß Vathek sich schon innerhalb weniger Augenblicke von den Leichen seiner getreusten Untertanen umgeben sah; welche sämtlich auf den Haufen geworfen wurden.

Da gerade William Beckfords italienisches Reisebuch Dreams, Waking Thought, and Incidents zum ersten Mal auf Deutsch erschienen ist, habe ich seinen sogenannten Roman Vathek noch einmal aus dem Bücherschrank geholt und die nur noch vage Erinnerung aufgefrischt. Der Text soll nach einer vom Autor kolportierten Legende im Jahr 1782 (Beckford war gerade 21 Jahre alt) innerhalb von nur drei schlaflosen Tagen auf Französisch niedergeschrieben worden sein, was man angesichts der gelieferten literarischen Qualität durchaus glauben mag. Erstmals veröffentlicht wurde er 1786 anonym in englischer Übersetzung, wobei der Übersetzer gleich die nächste Legende aufsetzte, in dem er behauptete, er habe den Text direkt aus dem Arabischen übersetzt. Obwohl das Buch durchaus dem modischen Interesse an orientalischen Erzählungen entgegenkam, war das Buch kein Erfolg und wurde in der Hauptsache von anderen Schriftstellern rezipiert. Beckford blieb den meisten seiner Zeitgenossen eher als verrückter Exzentriker bekannt, denn als Künstler oder Schriftsteller.

Seine eigentliche Karriere machte Vathek erst nach seiner Wie­der­ver­öf­fent­li­chung 1891. Er bediente perfekt die Faszination an und das phantastische Spiel mit der Dichotomie von Gut und Böse – das vom Autor ohnehin nur apologetisch angeklebte „moralische“ Ende ließ sich bequem ignorieren – und den westeuropäischen Geschmack an orientalischer Üppigkeit. So wurde Vathek nachträglich als Quelltext einer bösen Phantastik kanonisiert.

Erzählt wird die Geschichte des Kalifen Vathek, der in einem sehr erfundenen Orient sich dem Bösen verschreibt und versucht, die absolute Macht zu erreichen, über die er – zumindest nach Ausweis der Erzählung – ohnehin bereits verfügt. Der Text ist vollständig anekdotisch gebaut, widerspricht sich auch auf kurzen Strecken gern selbst und exzelliert einzig in einer üppigen, grausamen, aber auch gern sexuellen Phantasie, die ihn für die meisten zeitgenössischen Leser sicherlich unzumutbar machte. Nicht dass nun jemand zu viel erwartet: Nach dem heutigen Geschmack ist der Text so dezent, dass gerade das Sexuelle nur andeutungsweise zu finden ist; aber das 18. Jahrhundert hatte da noch gänzlich andere Em­pfind­lich­kei­ten.

Die Handlung ist kaum der Rede wert und muss daher auch nicht nacherzählt werden. Der Protagonist ist ein brutaler Aufschneider und Verschwender, der unter dem Pantoffel seiner machthungrigen und vom Bösen faszinierten Mutter steht, die ihn geradewegs im wörtlichen Sinne zur Hölle schickt. Am Ende werden, wie schon angedeutet, die Bösen zwar bestraft, aber das hat mit dem vorherigen Text kaum etwas zu tun und ist erzählerisch auch in keiner Weise vorbereitet.

Wer Lust am Zelebrieren des Bösen um des Bösen willen hat, wird hier sein Vergnügen finden; alle, die derartigen Mummenschanz eher albern finden, können sich die Lektüre beruhigt sparen. Warnen möchte ich aber vor der Übersetzung Franz Bleis (1907), die über Strecken nur so ungefähr etwas mit dem Original zu tun hat.

Willam Beckford: Vathek. Eine orientalische Erzählung. Aus dem Englischen von Wolfram Benda. Mit 11 Illustrationen von Gottfried Helnwein. München: Artemis/Winker, 1987. Leinen, Fadenheftung, 196 Seiten. Diese Ausgabe ist nur noch antiquarisch greifbar, der Text selbst aber leicht im Internet zu finden.

Marguerite Duras: Heiße Küste

Seit dem Einsturz der Dämme und seit sie Joseph nicht mehr schlug, schlug die Mutter Suzanne viel öfter als vorher. »Wenn sie niemand mehr hat, dem sie Prügel austeilen kann«, sagte Joseph, »wird sie sich selbst in die Fresse hauen.«

Ich muss gestehen, dass ich erst durch eine ARTE-Dokumentation auf Marguerite Duras gestoßen wurde. Sicherlich war sie mir dem Namen nach bekannt, aber ich hatte kaum eine Vorstellung von ihrer Literatur. Wahr­schein­lich hat auch der deutsche Titel ihres be­rühm­tes­ten Werks, das im Original Un barrage contre le Pacifique (Ein Damm gegen den Pazifik) heißt, dazu beigetragen, der mit Heiße Küste denkbar nichtssagend daherkommt. Erst die Do­ku­men­ta­tion machte mir die Bedeutung dieses Bu­ches in der Diskussion des Kolonialismus in Frankreich deutlich. Duras, so darf man wohl sagen, war allein dafür verantwortlich, dass sich ein bedeutender Teil der französischen Be­völ­ke­rung im Jahr 1950 erstmals kritisch mit den Zuständen in den Kolonien, insbesondere in Französisch-Indochina auseinandergesetzt hat.

Duras wurde 1914 in der Nähe von Saigon geboren; ihr Roman spielt wohl Anfang der 30er-Jahre an der Pazifikküste Kambodschas. Im Zentrum steht eine Familie, die aus einer namenlosen Mutter, dem 20-jährigen Sohn Joseph und der 17-jährigen Tochter Suzanne besteht. Die Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und als junge Lehrerin zusammen mit ihrem Mann in die Kolonie ausgewandert. Nachdem ihr Mann gestorben ist, hat sie ihre Familie mit Klavierspielen und -unterricht über Wasser gehalten; sie war sogar in der Lage, soviel zu sparen, dass sie eine Konzession auf eine Farm erwerben konnte, auf der die Familie nun lebt. Leider erweist sich der Großteil des erworbenen Landes als unbebaubar, da es jährlich vom Pazifik überflutet wird. Nachdem sich die Mutter vergeblich beim zuständigen Katasteramt beschwert hat, organisiert sie zusammen mit einheimischen Bauern den Bau eines Dammes gegen den Pazifik, der aber schon im ersten Jahr unterspült wird und zusammenbricht. Seitdem lebt die Familie in ärmlichen Verhältnissen auf der mit Hypotheken belasteten Farm. Die Hoffnung darauf, noch einmal einen kräftigeren Damm errichten und damit doch noch über die überwältigende Natur siegen zu können, ist es, was die offenbar herzkranke Mutter am Leben hält.

Den eigentlichen Erzählanlass bildet eine in diese Verhältnisse einschneidende Änderung: Beim Besuch im nächsten Dorf fällt Suzanne dem Sohn eines reichen Kaufmanns und Kautschuk-Farmers aus dem Norden des Landes auf, dessen Ziel es über die nächsten 100 Seiten ist, mit Suzanne zu schlafen, was nicht nur durch Suzannes Gleichgültigkeit ihm gegenüber verhindert wird, sondern auch durch die Mutter, die ihre Tochter mit diesem Herrn Jo zu verheiraten und damit ihre Familie aus der Krise zu retten gedenkt. Herr Jo ist sich aber darüber im Klaren, dass sein Vater einer Hochzeit mit Suzanne niemals zustimmen würde, doch kann er sich von seiner Begierde nach dem Mädchen nicht losmachen und ist am Ende so von seiner Leidenschaft regiert, dass er Suzanne einen Diamantring seiner Mutter schenkt, der – wenigstens seiner Aussage nach – 20.000 Francs wert sein soll. Kurz nachdem sie diesen Ring geschenkt bekommen hat, teilt Suzanne Herrn Jo denkbar trocken mit, dass seine Besuche nicht weiter erwünscht seien.

Der Anfang des zweiten Teils des Romans spielt in der nächstgelegenen Provinzstadt – vielleicht Kampot –, wo die Mutter versucht, den Ring für den ihr genannten Preis zu verkaufen. Der Diamant weist allerdings einen Einschluss auf, so dass die Händler nur etwa die Hälfte des Preises zu zahlen bereit sind. Für die Mutter aber liegt in den 20.000 Franc die Hoffnung auf die Fortsetzung ihres Damm-Projektes, so dass sie zu keinem niedrigeren Preis verkaufen will. Während sie von Händler zu Händler läuft, beginnt Joseph eine leidenschaftliche Affäre mit einer verheirateten Frau, während Suzanne durch die Oberstadt streift und das Kino besucht. Am Ende gelingt es Joseph nicht nur, den Ring zum Wunschpreis an seine Geliebte zu verkaufen, er findet ihn zu seiner eigenen Überraschung auch in seiner Jackentasche wieder, als er mit Mutter und Schwester zur Farm zurückkehrt. Die Mutter hat das gerade erworbene Geld zur Tilgung eines Teils ihrer Schulden zur Bank getragen, muss dort aber feststellen, dass ein Großteil des Geldes von den aufgelaufenen Zinsen aufgefressen wird und sie von der Bank keinerlei neuerlichen Kredit erwarten darf. Mit der Rückkehr zur Farm beginnt der letzte und destruktivste Teil des Buches; aber das soll jede und jeder selbst lesen.

Das Buch ist tief getränkt von den persönlichen Erfahrungen der Autorin, erschöpft sich aber durchaus nicht in dieser autobiographischen Ebene. Im Gegenteil erweist sich das Projekt der Mutter als zentrale Allegorie des Textes, sie selbst als die eigentlich bestimmenden Figur, wenn auch nahezu gleichgewichtig die Coming-of-age-Geschichte Suzannes erzählt wird. Selbst an den Stellen, an denen die Fiktion nicht wirklich trägt – so etwa wenn Joseph Suzanne von seiner Affäre erzählt – ist der Stoff des Romans immer überzeugend und ursprünglich. Er lebt nicht nur von den zerrütteten Verhältnissen der Familie, sondern auch von der Schilderung der gesellschaftlichen Strukturen der Kolonie sowie der Armut und des Elends der einheimischen Bevölkerung. Ein in hohem Grad authentisches und zugleich literarisches Buch, wie man es nur selten findet.

Marguerite Duras: Heiße Küste. Aus dem Französischen von Georg Goyert. st 1581. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 62009. Broschur, 281 Seiten. 4,95 €.

Alfred Döblin: Die drei Spünge des Wang-lun

doeblin-drei-spruengeEs passiert einem doch vergleichsweise hartnäckigen und trainierten Leser wie mir selten, dass ich an einem Roman eines Autors, der mich interessiert, vollständig scheitere. Bei „Die drei Sprünge des Wang-lun“ habe ich nach einem Viertel des Romans aufgegeben, noch ein wenig im dritten und vierten Teil gestöbert und das Buch dann zur Seite gelegt mit dem deutlichen Eindruck, dass, was immer nun noch erzählt werden wird, mich einfach nicht interessiert.

Dass Unverständnis beginnt schon damit, dass mir in Sekundärtexten gesagt wird, der Roman spiele im China des 18. Jahrhunderts. Das tut er nicht. Der Roman spielt nirgendwo und nirgendwann, in irgendwelchen Städten und Dörfern, Bergen und Tälern, Höhlen und Hütten, die alle vollkommen gesichtslos und einander gleich sind. Seine Charaktere sind flach wie die Hermann Hesses, ihre vorgeblichen Gedanken wuschig wie die Peter Sloterdijks und die Episoden der Handlung so zufällig aufgereiht wie die Lottozahlen. Es mag schon sein, dass das alles zusammen irgendetwas bedeutet, dass die Zahnräder des Romans an irgendeiner Stelle in irgendeine irgendwann existiert habende Wirklichkeit eingegriffen und etwas angetrieben haben, aber falls dem so sein sollte, ist es mir vollständig verschlossen geblieben.

So weit ich es beurteilen kann, wird im Roman die Geschichte Wang-luns erzählt: Sohn eines Fischers, ein wilder und unerzogener Knabe eines eingebildeten Vaters, der zu einem Kerl heranwächst, der stiehlt und sich über andere lustig macht. Dann wird ihm von der Polizei ein Freund erschlagen, er wiederum erwürgt den Polizisten, flieht in die Berge und wird ein frommer Mann. Viele Dummköpfe strömen ihm zu. Er ermordet einen Teil der Dummköpfe. Er geht fort, angeln. Der Kaiser ermordet einen anderen Teil der Dummköpfe. Da wendet sich Wang-lun an der Spitze der verbliebenen Dummköpfe gegen den Kaiser. Und dann lässt er es wieder bleiben. Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer chinesisch dekorierten Märchenwelt. Hermann Hesses „Siddharta“ ist ähnlich undeutlich, aber viel, viel kürzer.

Das Buch gehört in die Reihe der China-Bücher vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts (Karl May, Elisabeth von Heyking, Klabund, Hans Bethge, Albert Ehrenstein, Bert Brecht), steht aber mit seiner Entstehungszeit 1912/13 relativ früh in dieser Reihe. Es ist für seinen abgehobenen Inhalt erstaunlich gut verkauft und noch vor 1933 ins Dänische und Französische übersetzt worden. Es muss also wohl was dran sein. Nur was, habe ich nicht herausfinden können.

Gelesen habe ich: Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman. Olten/Freiburg i.Br.: Walter, 1977. Leinen, Fadenheftung, 502 Seiten.

Lieferbar ist: Dass. Fischer-Tb. 90460. Frankfurt/M.: Fischer, 2013. Broschur, 528 Seiten. 10,99 €.