Anthony Burgess: Betten im Orient

Plötzlich, während er mit einem Streichholz nach den aufgequollenen Zigarettenkippen im Wasser des Aschenbecher stocherte, erschien ihm all dies als romantisch – der letzte Legionär, seine Einsamkeit, die aussichtslose Sache wirklich aussichtslos –, und instinktiv zog er den Bauch ein, strich sich, um den nackten Teil der Kopfhaut zu bedecken, übers Haar und wischte sich den Schweiß von den Wangen.

Der abschließende Teil der Malayan Trilogy erschien nur ein Jahr nach Der Feind in der Decke und schließt ohne präzise Zeitangabe an die Handlung des vorherigen Teils an. Die Handlung erstreckt sich nur wenig über den Unabhängigkeitstag der Föderation Malaya, den 31. August 1957 hinaus. Von einer konkreten, zusammenhängenden Handlung lässt sich in diesem Buch noch weniger sprechen als in den beiden vorhergehenden Teilen, das Figurenensemble ist noch lockerer miteinander verknüpft und der Protagonist Victor Crabbe erscheint nur noch als eine Figur unter anderen. Er ist nominell immer noch Leiter der staatlichen Schulbehörde des fiktiven Kleinstaates Negeri Dahaga, doch besteht seine Hauptaufgabe darin, seinen malaysischen Nachfolger einzuarbeiten und von diesem als Trouble Shooter benutzt zu werden. Als privates Projekt versucht er, dem jungen chinesischen Komponisten Robert Loo zum Durchbruch zu verhelfen, der allerdings parallel dazu eine erhebliche Wandlung durchläuft und schließlich ganz anders endet, als Crabbe sich das gewünscht hätte.

Parallel dazu werden die Geschichten einer außergewöhnlich gut aussehenden Lehrerin erzählt, die verzweifelt einen Traumprinzen zum Heiraten sucht, eines Polizei-Schreibers, der aus seinem Job gedrängt wird und den dafür verantwortlichen Kollegen mehrfach verprügelt, seines Sohns, der mit drei Freunden an einer versuchten Erpressung nur knapp vorbeischliddert, eines muslimischen Tierarztes, der versucht die Lehrerin zu heiraten, um den Heiratsplänen seiner Mutter zu ergehen, der gesamten malaysischen Gesellschaft, die von tiefen Vorurteilen der ethnischen Gruppen untereinander geprägt ist und schließlich auch der abziehenden Engländer, die durch US-Amerikaner ersetzt werden, um Malaya nicht den kommunistischen Revolutionären zu überlassen; viel Stoff für knapp 240 Seiten. Das Buch klingt aus mit einer milden Parodie auf Heart of Darkness, die die finale Bedeutungslosigkeit Victor Crabbes manifestiert.

Der Titel ist natürlich eine Anspielung auf Shakespeares Antony and Cleopatra, wobei das Zitat selbst mehrfach in Der Feind in der Decke vorkam, hier aber bis auf den Titel wohl absichtlich komplett fehlt. Man kann in dieser Trilogie bereits Burgess’ spätere, sehr souveräne Erzähler vorausahnen, ja es gibt bereits eine Stelle, wo sich der Autor erlaubt, die Leser direkt anzusprechen.

Ein in seiner gewollt musivischen Form sehr gelungener Ausklang dieses erstaunlich welthaltigen Erstlings.

Anthony Burgess: Betten im Orient. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  241 Seiten. 34,– €.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke

Bei Allah, seine Gläubiger waren hinter ihm her, oder ein Beilschläger, oder vielleicht seine Ehefrau. Im Orient ist die Auswahl begrenzt.

Der zweite Teil der Malayan Trilogy erschien 1958, zwei Jahre nach Jetzt ein Tiger. Die Handlung beginnt am 12. Februar 1956 als der Protagonist Victor Crabbe zusammen mit seiner Frau Fenella noch weiter in den Norden Malayas fliegt, um dort eine Stelle als Schulrektor anzutreten. Fenella ist etwas angekratzt, da sie am selben Tag erfahren hat, dass Victor eine Affäre mit einer Malaiin hatte, was ihren Drang, nach England zurück zu wollen, nicht gerade reduziert.

In Kenching, der Hauptstadt des fiktiven Staates Negeri Dahaga, erwartet sie niemand am Flughafen. So schlagen sich die Crabbes allein zur Stadt durch, wobei sie unterwegs zufällig auf Rupert Hardman treffen, einen alten Studienkollegen Victors, der sich in Kenching mehr schlecht als recht als Anwalt durchschlägt und der die zweite Hauptfigur des Romans werden wird. Hardman setzt sie am Haus von Victors Vorgesetztem Talbot ab, wo sie zuerst dessen Frau Anne kennenlernen, die ebenfalls eine wichtige Rolle im weiteren Verlauf der Handlung spielen wird.

Wie bereits im ersten Band werden auch diesmal mehrere Erzählstränge parallel erzählt: Victor Crabbe hat mit seinem Vizerektor zu kämpfen und steht außerdem im Zentrum des lokalen Klatsches. Er beginnt eine Affäre mit Anne Talbot, die ihn als einen von zwei möglichen Kandidaten für einen Ausstieg aus ihrer Ehe betrachtet. Fenella wird von einem malaiischen hohen Beamten umworben, was sie zu ganz ungekannten Höhen des Selbstbewusstseins führt. Rupert Hardman heiratet die reiche Witwe Normah, um seine finanziellen Probleme überwinden und sich endlich selbstständig machen zu können. Dass er zu diesem Zweck Muslim werden muss, nimmt er vorerst billigend in Kauf, es wird aber eine ärgere Belastung für ihn, als er erwartet hatte. Schließlich plant er seine Flucht aus Malaya und vor seiner Ehefrau auf einer Pilgerreise gen Mekka. Und noch einige andere Nebenstränge werden verfolgt.

Burgess, der zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon die komplette Trilogie konzipiert hatte, bekommt zum Ende des zweiten Bandes gerade noch ein etwas vages Gleichgewicht als Abschluss hin: Victor steigt als Nachfolger Talbots zum Chef des Schulamtes auf; es gelingt ihm zudem durch einen unfreiwilligen Akt des Heldentums die Gerüchte um seine kommunistische Gesinnung zu widerlegen. Zwar hat ihn Fenella verlassen, aber nach einem Durchgang durch Depression und Krankheit scheint er auch diesen Schlag überwunden zu haben. Derweil geht Malaya immer rascher seiner Unabhängigkeit und damit Victor seiner Überflüssigkeit entgegen.

Anthony Burgess: Der Feind in der Decke. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2022. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  216 Seiten. 32,– €.

Wird fortgesetzt …

Marguerite Duras: Der Liebhaber

Ich habe nie geschrieben, wenn ich zu schreiben glaubte, ich habe nie geliebt, wenn ich zu lieben glaubte, ich habe nie etwas anderes getan, als zu warten vor verschlossener Tür.

Als Duras Un barrage contre le Pacifique schrieb, war sie 35 Jahre alt; Der Liebhaber entsteht 35 Jahre später. Diese Erzählung überschreibt teilweise den Text des früheren Romans, setzt andererseits seine Kenntnis voraus, um die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der Familie der Erzählerin vollständig verstehen zu können. Auch im Alter von 70 Jahren beschäftigt sich die Autorin noch mit den Jahren ihrer Pubertät, ihrer ersten Erfahrung der Sexualität, den Jahren, als sie ihrer zerrütteten Familie – der psychisch labilen Mutter und dem drogen- und spielsüchtigen Bruder – noch ausgeliefert war. Sie erinnert sich zurück an den frühen Tod ihres geliebten anderen Bruders, an ihre Trennung von dieser Familie, die natürlich nie eine endgültige sein konnte.

Der unglückliche Liebhaber Herr Jo aus Un barrage … wird hier zu einem chinesischen Liebhaber, der die Erzählerin auf ihrem Weg ins Internat bei einer Querung des Mekong auf einer Fähre anspricht. Er kennt ihre Mutter, die eine Schule in der Provinz leitet, und lädt die 15½-Jährige in seinen Wagen ein, um sie nach Saigon zum Internat zu bringen. Die Erzählerin lässt sich im Folgenden ohne jeglichen Widerstand auf eine sexuelle Affäre mit dem Chinesen ein. Beide führen sie anderthalb Jahre mit großer Leidenschaft fort, bis die Erzählerin nach Frankreich geschickt wird, um dort das Abitur zu machen.

Neben diesem zentralen Motiv schildert der Text eine neue Fassung der Familiengeschichte, diesmal mit beiden Brüdern der Autorin, mit einer Mutter, die als Lehrerin etabliert ist, die sich für ihre Tochter einsetzt und deren Freizügigkeit gegen die Institution des Internats verteidigt, wenn sie auch die Beziehung ihrer Tochter zum dem älteren und noch dazu von ihr rassistisch verachteten Mann nicht billigt.

Es kann nicht verwundern, dass sich der Stil der Autorin nach 35 Jahren deutlich verändert hat. Die Unmittelbarkeit der früheren Erzählung wurde abgelöst von einer reflektierten, von zahlreichen Erinnerungen aus verschiedenen Zeit ihres Lebens überschriebenen Erzählweise, die es am Ende aber auch nicht vermeidet, die autobiographische Erinnerung erneut literarisch zu überschreiben.

Eine für ihre Länge (der Text dürfte wohl knapp 100 normale Buchseiten füllen, wird aber vom Verlag in Großdruck-Manier auf das Doppelte aufgeblasen) erstaunlich inhaltsreiche und komplexe Erzählung, die die lebenslange Obsession der Autorin mit den Erfahrungen und Traumata ihrer Pubertätsjahre dokumentiert. Allerdings ist auch hiermit nicht ihr letztes Wort in dieser Sache gesprochen: Unter dem Eindruck der Verfilmung ihrer Erzählung überschreibt sie auch diesen Text sieben Jahre später unter dem Titel Der Liebhaber aus Nordchina. Ich werde auch diese Fassung bei Gelegenheit hier besprechen.

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa. st 1629. Berlin: Suhrkamp, 212018. Broschur, 194 Seiten. 8,– €.

Marguerite Duras: Heiße Küste

Seit dem Einsturz der Dämme und seit sie Joseph nicht mehr schlug, schlug die Mutter Suzanne viel öfter als vorher. »Wenn sie niemand mehr hat, dem sie Prügel austeilen kann«, sagte Joseph, »wird sie sich selbst in die Fresse hauen.«

Ich muss gestehen, dass ich erst durch eine ARTE-Dokumentation auf Marguerite Duras gestoßen wurde. Sicherlich war sie mir dem Namen nach bekannt, aber ich hatte kaum eine Vorstellung von ihrer Literatur. Wahr­schein­lich hat auch der deutsche Titel ihres be­rühm­tes­ten Werks, das im Original Un barrage contre le Pacifique (Ein Damm gegen den Pazifik) heißt, dazu beigetragen, der mit Heiße Küste denkbar nichtssagend daherkommt. Erst die Do­ku­men­ta­tion machte mir die Bedeutung dieses Bu­ches in der Diskussion des Kolonialismus in Frankreich deutlich. Duras, so darf man wohl sagen, war allein dafür verantwortlich, dass sich ein bedeutender Teil der französischen Be­völ­ke­rung im Jahr 1950 erstmals kritisch mit den Zuständen in den Kolonien, insbesondere in Französisch-Indochina auseinandergesetzt hat.

Duras wurde 1914 in der Nähe von Saigon geboren; ihr Roman spielt wohl Anfang der 30er-Jahre an der Pazifikküste Kambodschas. Im Zentrum steht eine Familie, die aus einer namenlosen Mutter, dem 20-jährigen Sohn Joseph und der 17-jährigen Tochter Suzanne besteht. Die Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und als junge Lehrerin zusammen mit ihrem Mann in die Kolonie ausgewandert. Nachdem ihr Mann gestorben ist, hat sie ihre Familie mit Klavierspielen und -unterricht über Wasser gehalten; sie war sogar in der Lage, soviel zu sparen, dass sie eine Konzession auf eine Farm erwerben konnte, auf der die Familie nun lebt. Leider erweist sich der Großteil des erworbenen Landes als unbebaubar, da es jährlich vom Pazifik überflutet wird. Nachdem sich die Mutter vergeblich beim zuständigen Katasteramt beschwert hat, organisiert sie zusammen mit einheimischen Bauern den Bau eines Dammes gegen den Pazifik, der aber schon im ersten Jahr unterspült wird und zusammenbricht. Seitdem lebt die Familie in ärmlichen Verhältnissen auf der mit Hypotheken belasteten Farm. Die Hoffnung darauf, noch einmal einen kräftigeren Damm errichten und damit doch noch über die überwältigende Natur siegen zu können, ist es, was die offenbar herzkranke Mutter am Leben hält.

Den eigentlichen Erzählanlass bildet eine in diese Verhältnisse einschneidende Änderung: Beim Besuch im nächsten Dorf fällt Suzanne dem Sohn eines reichen Kaufmanns und Kautschuk-Farmers aus dem Norden des Landes auf, dessen Ziel es über die nächsten 100 Seiten ist, mit Suzanne zu schlafen, was nicht nur durch Suzannes Gleichgültigkeit ihm gegenüber verhindert wird, sondern auch durch die Mutter, die ihre Tochter mit diesem Herrn Jo zu verheiraten und damit ihre Familie aus der Krise zu retten gedenkt. Herr Jo ist sich aber darüber im Klaren, dass sein Vater einer Hochzeit mit Suzanne niemals zustimmen würde, doch kann er sich von seiner Begierde nach dem Mädchen nicht losmachen und ist am Ende so von seiner Leidenschaft regiert, dass er Suzanne einen Diamantring seiner Mutter schenkt, der – wenigstens seiner Aussage nach – 20.000 Francs wert sein soll. Kurz nachdem sie diesen Ring geschenkt bekommen hat, teilt Suzanne Herrn Jo denkbar trocken mit, dass seine Besuche nicht weiter erwünscht seien.

Der Anfang des zweiten Teils des Romans spielt in der nächstgelegenen Provinzstadt – vielleicht Kampot –, wo die Mutter versucht, den Ring für den ihr genannten Preis zu verkaufen. Der Diamant weist allerdings einen Einschluss auf, so dass die Händler nur etwa die Hälfte des Preises zu zahlen bereit sind. Für die Mutter aber liegt in den 20.000 Franc die Hoffnung auf die Fortsetzung ihres Damm-Projektes, so dass sie zu keinem niedrigeren Preis verkaufen will. Während sie von Händler zu Händler läuft, beginnt Joseph eine leidenschaftliche Affäre mit einer verheirateten Frau, während Suzanne durch die Oberstadt streift und das Kino besucht. Am Ende gelingt es Joseph nicht nur, den Ring zum Wunschpreis an seine Geliebte zu verkaufen, er findet ihn zu seiner eigenen Überraschung auch in seiner Jackentasche wieder, als er mit Mutter und Schwester zur Farm zurückkehrt. Die Mutter hat das gerade erworbene Geld zur Tilgung eines Teils ihrer Schulden zur Bank getragen, muss dort aber feststellen, dass ein Großteil des Geldes von den aufgelaufenen Zinsen aufgefressen wird und sie von der Bank keinerlei neuerlichen Kredit erwarten darf. Mit der Rückkehr zur Farm beginnt der letzte und destruktivste Teil des Buches; aber das soll jede und jeder selbst lesen.

Das Buch ist tief getränkt von den persönlichen Erfahrungen der Autorin, erschöpft sich aber durchaus nicht in dieser autobiographischen Ebene. Im Gegenteil erweist sich das Projekt der Mutter als zentrale Allegorie des Textes, sie selbst als die eigentlich bestimmenden Figur, wenn auch nahezu gleichgewichtig die Coming-of-age-Geschichte Suzannes erzählt wird. Selbst an den Stellen, an denen die Fiktion nicht wirklich trägt – so etwa wenn Joseph Suzanne von seiner Affäre erzählt – ist der Stoff des Romans immer überzeugend und ursprünglich. Er lebt nicht nur von den zerrütteten Verhältnissen der Familie, sondern auch von der Schilderung der gesellschaftlichen Strukturen der Kolonie sowie der Armut und des Elends der einheimischen Bevölkerung. Ein in hohem Grad authentisches und zugleich literarisches Buch, wie man es nur selten findet.

Marguerite Duras: Heiße Küste. Aus dem Französischen von Georg Goyert. st 1581. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 62009. Broschur, 281 Seiten. 4,95 €.

Anthony Burgess: Jetzt ein Tiger

Weißt du, die Wirklichkeit ist immer langweilig, aber wenn wir einsehen, dass sie alles ist, was wir haben – dann hört sie wundersamerweise auf, langweilig zu sein.

Bei Jetzt ein Tiger (Time for a Tiger) handelt es sich um Burgess’ ersten Roman, der 1956 erschien. Er bildet den Auftakt zur sogenannten Malayan Trilogy, deren übrige Bände bis 1959 herausgebracht wurden. Seitdem wurden sie in allen englischen Ausgaben nur noch zusammen gedruckt und haben den Übertitel The Long Day Wanes (Der lange Tag schwindet) bekommen. Alle drei Romane sind jeweils etwa 200 Seiten stark, so dass sie zusammen einen ganz ansehnlichen Band ergeben. Zusammengehalten werden sie durch den gemeinsamen Protagonisten Victor Crabbe, einen Engländer, der in Malaya (dem Vorgängerstaat des heutigen Malaysia) als Lehrer die letzten Jahre der britischen Herrschaft (1955–1957) erlebt.

Crabbe ist verheiratet, etwas unglücklich, da seine Frau Fenella nach Europa zurück will und er sich Vorwürfe macht, sie nicht genug zu lieben, wenigstens weniger als seine erste Frau, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, bei dem Crabbe am Steuer saß. Er ist Lehrer an einer englisch geprägten Privatschule im Norden Malayas und ist bei seinen Schülern ebenso beliebt wie bei der Schulleitung unbeliebt. Crabbe unterrichtet Geschichte und ist sich der prekärer politischen Lage Malayas bewusst: Im Dschungel drohen kommunistische Terroristen, die von China unterstützt werden, mit dem Umsturz des Staates, die soziale Spanne zwischen Ober- und Unterschicht ist erheblich und die diversen Ethnien und Religionen (Malaien, Chinesen, Inder und Europäer bzw. Moslems, Buddhisten, Hindus und Christen) hegen solide Vorurteile gegeneinander, was auch den Schulalltag nicht eben leichter macht. Am Ende von Jetzt ein Tiger wird Crabbe die Schule verlassen und an die Ostküste der malaiischen Halbinsel wechseln.

Neben Crabbe, der, wie gesagt, die Trilogie als Protagonist zusammenhält, gibt es in Jetzt ein Tiger weitere Hauptfiguren: Den ewig betrunkenen Polizei-Leutnant Nabby Adams, der ständig auf der Suche nach dem nächsten Tiger ist – einer bis heute in Südostasien beliebten Biermarke – und den in halbwegs nüchternem Zustand die Liste seiner untilgbar erscheinenden Schulden plagt. Und seinen Sancho Pansa Alladad Khan, der – ähnlich unglücklich verheiratet wie Crabbe – heimlich in Crabbes Frau verliebt ist und im Laufe des Buches für einen Moslem erstaunliche Mengen Alkohol konsumiert. Dieses Trio (bzw. Quartett, wenn man Fenella mit dazu zählt) ist umringt von einer ganzen Schar von schrägen und interessanten Nebenfiguren: Dem schwulen, aber verheirateten Koch der Crabbes, dem ebenso überforderten wie cholerischen Schulleiter Boothby, einem jungen chinesischen Schüler, aus dem weder Crabbe noch Boothby richtig schlau werden, einem Kollegen Alladad Khans, den Khan um dessen Kenntnisse der englischen Sprache beneidet, Crabbes malaiischer Geliebten, die versucht sich an ihm mit Gift zu rächen, als er sie verlässt usw. usf.

Eine Handlung hat das Buch zwar, aber es lohnt kaum, sie nachzuerzählen. Seine Qualität bezieht das Buch vielmehr aus der Beschreibung des Lebens, der Konflikte, der Bestrebungen, Hoffnungen und Träume seiner Protagonisten. Für die nur gut 200 Seiten, die das Buch umfasst, ist es erstaunlich welthaltig und liefert mit seinem Gemisch aus englischen und malaiischen Dialogen (auf die Wiedergabe des von Adams und Khan gebrauchten Urdu verzichtet Burgess glücklicherweise) einen sehr lebendigen Ausschnitt dieser malaiisch-britischen Welt. Für einen Erstling ein ganz erstaunlich reichhaltiges Buch.

Die deutsche Übersetzung habe ich nur stichprobenartig geprüft, und sie hat sich an allen Stellen bewährt. Auch schwierige Stellen sind durchaus witzig gelöst – so heißt Adams Hündin Cough im Deutschen Issdich – und mit der Entscheidung, die malaiischen Passagen unübersetzt ins Deutsche zu übernehmen – Burgess hat ein Glossar erstellt, das natürlich ebenfalls übersetzt wurde –, hat man dem Buch seine sprachliche Vielfalt belassen.

Es ist zu hoffen, dass dieses überraschend gute Buch auf genügend Interesse stößt, dass sich Verlag und Übersetzer entschließen können, auch die beiden übrigen Teile der Malayan Trilogy ins Deutsche zu transportieren.

Anthony Burgess: Jetzt ein Tiger. Aus dem Englischen von Ludger Tolksdorf. Coesfeld: Elsinor, 2019. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen,  231 Seiten. 26,– €.

Wird fortgesetzt …

J. M. G. Le Clézio: Der Afrikaner

978-3-446-20948-0 Als Jean-Marie Gustave Le Clézio im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam, war er zumindest in Deutschland wohl einer der unbekanntesten Autoren der Weltliteratur. Einige Feuilletonisten machten sich über die Wahl Le Clézios ein wenig lustig, indem sie andere, ob ihrer Belesenheit berühmtere Feuilletonisten befragten, die ihre Unkenntnis wenn nicht des Autors so doch seines Werks so offen zugaben, als handele es sich dabei um ein Verdienst. Überrascht mussten dann alle zusammen aber feststellen, dass Le Clézios Schriften in einem so bedeutenden Umfang auf Deutsch vorlagen, dass es zu seiner Unbekanntheit in einem nahezu erschütternden Verhältnis stand.

Mir ist nun eher zufällig als erstes ein kleines autobiographisches Bändchen in die Hand geraten: Der Afrikaner ist ein Erinnerungsbuch an Le Clézios Vater, der den Hauptteil seines Lebens als Arzt in Afrika zugebracht hat. Er war durch den Zweiten Werltkrieg von seiner Frau und seinen beiden jungen Söhnen getrennt, die, als sie den Vater im Jahr 1948 endlich kennenlernten, in ihm einen strengen, autoritären Patriarchen fanden, den sie nicht zu lieben vermochten. Le Clézios Buch ist ein Dokument des späten Verständnisses, das der Autor für seinen Vater entwickelt hat. Es schildert das einsame und verzehrende Leben des Vaters in Afrika, geboren aus einer Ablehnung der englischen Gesellschaft und ihres Kolonialismus. Und auch nach seiner Rückkehr nach Europa bleibt der Vater ein isolierter Mann, da ihm seine afrikanischen Erfahrungen eine Eingliederung in die europäische Gesellschaft verstellt.

Ein lesenswertes kleines Buch eines Sohnes, der aus seinem Zorn und seiner Enttäuschung dem Vater gegenüber herausfindet und sein schwieriges Verhältnis zu ihm überwinden kann. Sicher wäre auch manch anderen eine solche Annäherung an den eigenen Vater zu wünschen.

Als Obskurität ist anzumerken, dass sich die Vornamen des Autors nur auf dem Waschzettel, nicht aber im Buch finden lassen.

Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. München: Hanser, 22008. Pappband, 136 Seiten. 14,90 €.