Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian

Alle lügen sie, Alle, nach ihrer Art! Ich auch! aber nicht so dumm wie die Anderen alle!

Mit diesem Buch beginnt der Wallstein-Verlag eine neue, kritische Wilhelm-Raabe-Ausgabe, ein weiteres erstaunliches Unternehmen dieses Verlages, denn die Präsenz Raabes in unserer föjetonistischen Kultur dürfte mit „eher dürftig“ noch sehr freundlich beschrieben sein. Angekündigt ist für den kommenden Februar noch der Band „Der Lar“ (1889); wie sich die Sache danach entwickeln wird, müssen wir abwarten und hängt sicherlich auch davon ab, wie erfolgreich der Einstieg gerät. Ein Editionsplan ist wenigstens im Moment auf der Webseite des Verlages noch nicht zu finden.

„Fabian und Sebastian“ stammt vom Anfang der 1880er-Jahre und war keiner der großen Erfolge Raabes, der von seiner Schriftstellerei lebte und daher auf den Zuspruch des Lesepublikums angewiesen war. Erzählt wird die Geschichte dreier Brüder, von den allerdings der jüngste, Lorenz, zu Beginn der Erzählung gerade auf Sumatra im nierderländischen Militärdienst verstorben ist und eine nun verwaiste, 15-jährige Tochter hinterlassen hat, die gerade auf dem Weg nach Europa ist, um bei ihren Onkeln zu leben. Fabian und Sebastian sind Besitzer einer erfolgreichen Konfitüren- und Schokoladenfabrik, wobei Sebastian der Geschäftsführer ist, während sich Fabian um die künstlerische Gestaltung der Ware kümmert. Beide Brüder sind unverheiratet und wohnen auf dem Fabrikgelände, aber in getrennten Wohnung und haben wenig Kontakt miteinander. Sebastian möchte seine neue Nichte Constanze in einer Pension für jungen Mädchen unterbringen, nicht nur, um sie aus dem Haus zu haben, sondern auch um das Problem der Erziehung des Mädchens auf einfachem Weg zu lösen. Fabian dagegen hat zusammen mit seinem philosophischen Faktotum Knövenagel bereits ein Zimmer für sie eingerichtet und reist nach Marseille, um Constanze dort vom Schiff abzuholen.

Nach der Rückkehr in die Heimatstadt passiert erstaunlich wenig: Weder wird die Beziehung zwischen den beiden Brüdern enger, noch erweitert sich das doch sehr beschränkte soziale Umfeld Fabians durch Constanzes Einfluss. Das Mädchen lebt in der Stadt im eingezogenen Zirkel Fabians; als Gegenwelt dient das ländliche Schielau, in dem Constanze einige glückliche Sommerwochen bei dem mit Fabian eng befreundeten Amtmann und seiner Frau durchlebt. Fabian selbst gerät durch die Ankunft des Mädchens in eine künstlerische Krise, die sich auf die saisonale Vorbereitung der Schokoladenfabrikation für das nächste Weihnachtsgeschäft auswirkt.

Ebenso gerät Sebastian in eine zuerst eher unbestimmtere psychische Krise, die offensichtlich mit der unterdrückten Vorgeschichte der drei Brüder zu tun hat, die von Beginn an in Andeutungen die Erzählungen durchwirkt. Ich will hier nicht zu viel verraten, aber auch in dieser Vorgeschichte gibt es eine Tochter, die auf tragische Weise ums Leben gekommen ist, weshalb ihre Mutter seit beinahe zwanzig Jahren im städtischen Gefängnis sitzt. Diese Geschichte tritt erst peu à peu zutage, so wie sie in immer neuen Teilen Constanze erzählt wird.

Den Abschluss der Erzählung bildet eine bitter-süße Auflösung der Spannungen, die zwischen den Brüdern und dem anderen, unterdrückten Teil dieser Familie bestehen. Es kann nicht ohne Tragik abgehen, aber Constanze bewehrt sich hier als gute Wilde auf das Beste. Es wird zwar nicht alles gut, aber doch besser. All das wird in einer absichtlich umständlichen und etwas redundanten Sprache erzählt, wobei die Geschlossenheit der präsentierten kleinen Welt nur einer oberflächlichen Betrachtung standhält.

Der Band ist eine Gelegenheit, Raabe als komplexen und originellen Erzähler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennenzulernen. Er ist ein Beispiel für die Neigung des sogenannten literarischen Realismus, auf den ersten Blick eher schlichte Erzählungen mit zahlreichen Bedeutungs-Ebenen zu unterfüttern, ohne damit die Rezeption eines breiteren Lesepublikums zu stören.

Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian. Eine Erzählung. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2023. Pappband, Fadenheftung, 288 Seiten. 26,– €.

Allen Lesern ins Stammbuch (116)

Und wenngleich er niemals vollständig orthographisch schreiben lernte, so war er doch ein dichterisches Gemüt, wie sein berühmter Handwerksgenosse aus der »Mausfalle« zu Nürnberg, und las, soviel er nur irgend konnte. Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, der ihm ganz allein gehörte und mit welchem der Autor sehr oft höchst zufrieden sein konnte.

Wilhelm Raabe
Der Hungerpastor

Wilhelm Raabe (1831–1910)

Wilhelm Raabe war einer der wichtigsten und berühmtesten deutschen Erzähler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Theodor Fontane schrieb über ihn: »Hätte Raabe mehr Kritik, so wäre er absolut Nr. 1.« Thomas Mann, Kurt Tucholsky und Arno Schmidt schätzten ihn, aber heute droht er, langsam vergessen zu werden.

Dabei war Wilhelm Raabe in seinen letzten Lebensjahren, in denen er wieder in Brauschweig lebte, ein berühmter Mann. Erst spät im 19. Jahrhundert hatte eine neue Generation von Lesern besonders Raabes frühe Romane und Erzählungen wiederentdeckt, und Raabe wurde eine berühmte Persönlichkeit. Es lag für Raabe selbst ein wenig Bitterkeit in diesem Ruhm, denn er selbst schätzte sein oft süßliches und harmloses Frühwerk nicht mehr besonders, hatte sich als Schriftsteller unter großer Anstrengung weiterentwickelt, und fühlte sich durch den späten Ruhm zugleich geschmeichelt und mißverstanden.

So ist es denn heute besonders sein Spätwerk, das Leser schätzen und in dem sie den »wahren« Raabe finden: »Stopfkuchen« (1891) und »Die Akten des Vogelsangs« (1896) gehören zu den großartigsten Büchern des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit »Pfisters Mühle« (1884) entstand der erste deutsche Roman, der die systematische Zerstörung der Umwelt durch die Industrialisierung ins Zentrum stellt, und in»Odfeld« (1888) schildert Raabe eine überwältigende Rabenschlacht.

Raabes Bücher sind voll hintergründigem Humor, er ist ein Meister der ironischen Anspielungen und er vermag es, ganz wundervolle Sätze zu schreiben:

Einer gottlob unter einem ganzen, ja auch unter einem halben Dutzend deutscher Männer hat immer Astronomie ein wenig gründlicher getrieben als die übrigen und weiß Auskunft zu gehen, Namen zu nennen und mit seinem Stabe zu deuten, wo die andern vorübergehend in der schauerlichen Pracht des Weltalls verlorengehen und kopfschüttelnd sagen: Es ist großartig.

Den Nachlass Raabes verwaltet heute die Raabe-Foschungsstelle an der Stadtbibliothek Braunschweig. Die Mehrung von Raabes Nachruhm und Koordination der Raabe-Forschung hat sich die Raabe-Gesellschaft auf ihre Fahnen geschrieben.

Viele Texte Raabes sind als Taschenbuchausgaben bei Reclam in der gelben Universal-Bibliothek leicht und preiswert zu erreichen. Und bei dtv gibt es als Begleitlektüre eine empfehlenswerte Biographie von Werner Fuld.

Werner Fuld: Wilhelm Raabe

188967397_ca190bd9b7Wilhelm Raabe kann man heute zu den beinahe vergessenen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts zählen. Zwar existiert noch eine umfassende Werkausgabe – die »Braunschweiger Ausgabe« –, und es sind noch erstaunlich zahlreiche Titel in Reclams Universal-Bibliothek lieferbar, aber einen Klassiker-Status hat Raabe nie wirklich erlangt. Vielleser schwärmen einander dann und wann von einem Titel aus dem Spätwerk vor – der »Stopfkuchen« und »Die Akten des Vogelsangs« nehmen hier eine hervorragende Stellung ein –, aber dennoch bleibt Raabe eine Randfigur. Dabei hat Thomas Mann noch viel von ihm gelernt – ohne die »Akten« wäre der »Doktor Faustus« wahrscheinlich ein ganz anderes Buch geworden – und Kurt Tucholsky soll die 18-bändige Raabe-Ausgabe bei Hermann Klemm in seinem Marschgepäck mit in den Großen Krieg geschleppt haben, der damals noch nicht Erster Weltkrieg hieß. Aber auch das scheint nicht wirklich geholfen zu haben.

Die Biographie von Werner Fuld steht, soweit ich sehe, allein auf weiter Flur. Sie ist jetzt 13 Jahre alt, und es scheint nicht so, als würde sie in Kürze Konkurrenz bekommen. Fuld Lebensbeschreibung ist sorgfältig und basiert auf einer gründlichen Quellenarbeit. Was die Faktenlage und die grundsätzliche Darstellung von Leben und Werk angeht, scheint sie mir tadellos zu sein. Der strenggläubige Germanist könnte kritisieren, dass Fuld etwas zu oft dazu neigt, Figurenäußerungen aus Büchern Raabes als Selbstaussagen des Autors zu lesen, da sich aber alles in allem ein geschlossenes Gesamtbild ergibt, könnte diese Kritik auch schlicht ins Leere laufen. Bei all dem muss ich allerdings betonen, dass ich selbst alles andere als ein Raabe-Kenner bin.

Spannend ist Fulds These, der junge Raabe habe unter einer latenten Schizophrenie gelitten, die er mit Hilfe seines Schreibens therapiert habe. Fulds Belege dafür sind dünn, und wenn er in der weiteren Lebensbeschreibung immer wieder den inneren Zwiespalt Raabes zwischen seiner bürgerlichen Existenz und seinen künstlerischen Ansprüchen mit der These von der Raabeschen Schizophrenie in Zusammenhang bringt, handelt es sich dabei wohl um eine ein wenig leichtfertige Vermischung von sozialen und pathologischen Kategorien. Aber diese These steht keineswegs im Zentrum von Fulds Raabe-Biographie und kann vom Leser getrost ruhen gelassen werden.

Ein lesenswertes Buch und eine solide Einführung in das schriftstellerische Werk Wilhelm Raabes.

Werner Fuld: Wilhelm Raabe. Hanser Verlag, 1993. Leinen, fadengeheftet; 383 Seiten.

Lieferbare Ausgabe: dtv, 2006. ISBN: 3-423-34324-9. 15,00 €.