John Steinbeck: Der Winter unseres Missvergnügens

«Die ganze Wahrheit? Wenn man ein Huhn zerlegt, Ethan, ist alles Huhn, trotzdem gibt es helles und dunkles Fleisch.»

Der Winter unseres Miss­ver­gnü­gens von 1961 ist John Steinbeck letzter Roman. Der Literaturnobelpreis, den er 1962 erhielt, veränderte seinen Status als Prominenter so stark, dass er danach bei zunehmender Krankheit vor lauter öffentlichem Engagement nur noch wenig zum Schreiben kam. So sind dieser Roman und die 1962 noch erschienene, autobiographische Reise mit Charlie seine letzten Bücher gewesen. Erzählt wird im Winter unseres Missvergnügens hauptsächlich die Geschichte Ethan Allen Hawleys, eines jungen Mannes, verheiratet, mit zwei Kindern, der seine Familie und sich als Verkäufer in einem Leb­ens­mit­tel­la­den über Wasser hält. Der Laden hat im einmal gehört, aber er war als ein unerfahrener Kriegsheimkehrer pleite gegangen und der Käufer des Ladens, ein italienischer Einwanderer, hatte ihm eine Stelle als Verkäufer im selben Geschäft angeboten.

Die Handlung spielt in zwei kurzen Episoden um Ostern und den 4. Juli 1960 herum in dem kleinen, fiktiven, us-amerikanischen Ostküstenstädtchen New Baytown. Ethan gehört zu einer der Gründerfamilien des Städtchen, die ehemals durch den Walfang reich geworden, dann aber heruntergekommen war. Ethans Vater hatte die Reste des Familienvermögens durchgebracht und so bleibt Ethan nichts als das Haus und der Nachruhm der Familie. Sein Misserfolg als Kaufmann hängt ihm immer noch nach, aber um die Osterfeiertage herum beschließt er, in die Klasse der wohlhabenden Bürger zurückzukehren. Den Plan, mit dem er das ins Werk setzen will, entwickelt er im Laufe dieser Tage.

An der Oberfläche erzählt der Roman den Ablauf einiger weniger Tage, an denen sich eine entscheidende Wendungen in Ethans Leben einstellt. Im Hintergrund aber erzählt Steinbeck auch die Geschichte einer kleinen, von Tradition und Korruption gezeichneten Gemeinde und einer Gesellschaft, die trotz ihrer öffentlichen Moral von Ehrlichkeit, Fleiß und Rechtschaffenheit im Wesentlichen von Eigennutz, Betrug und Lügen geprägt ist.

New Baytown hatte so lange geschlafen. Jene Männer, die die Stadt regierten, in politischer, moralischer und wirtschaftlicher Hinsicht, beherrschten das Gemeinwesen schon so lang, dass sie in ihren Gewohnheiten festgefahren waren. Stadtdirektor und Stadtrat, Richter und Polizei waren für die Ewigkeit eingesetzt. Der Stadtdirektor verkaufte Baumaterial an die Stadt, und die Richter ließen Strafzettel verschwinden, wie sie es seit jeher taten, weshalb ihnen dies auch nicht illegal schien – obwohl die Gesetzbücher es behaupteten. Sie fanden es nicht unmoralisch, weil sie normale Menschen waren. Kein Mensch war unmoralisch. Die Nachbarn ausgenommen.

In diesem normalen Städtchen ist Ethan so etwas wie ein Einhorn: ein ehrlicher Mann, der sich – zumindest zu Anfang – weigert, an dem allgemeinen Spiel des Betrugs und der Bereicherung teilzunehmen. Als er dann beschließt, doch mitzumachen, soll das nicht ohne Folgen bleiben. Aber das soll jeder Leser selbst entdecken.

Der Roman ist in locker wechselnder Perspektive erzählt: Personales und Ich-Erzählen lösen einander ab; im zweiten Teil gibt es auch Kapitel, die ganz traditionell auktorial daherkommen. Breite Passagen sind dialogisch gefasst; überhaupt ist der Gegensatz zwischen dem, was die Figuren sagen, dem, was sie denken und beabsichtigen und schließlich dem, was sie tun, das zentrale Spannungselement des Romans. Steinbeck lässt sich lange Zeit, bevor er seinen Lesern erlaubt, seinem Protagonisten auf die Spur zu kommen, und selbst als der dann endlich weiß, was Ethan plant, sollte er sich nicht zu sehr darauf verlassen.

Die Neuausgabe bei Manesse ersetzt die ältere, bereits 1963 erschienene Übersetzung von Harry Kahn (Geld bringt Geld). Diese Übersetzung machte zumindest klar, wie schwierig es ist, Steinbeck gut zu übersetzen. Steinbecks Texte haben bei aller Ernsthaftigkeit ihrer Stoffe einen leichten, immer humoristischen Grundton, der insbesondere auch die Dialoge prägt. Zugleich gibt es in Der Winter unseres Missvergnügens einen durchgängigen, peu à peu wachsenden zornigen Unterton, der im letzten Kapitel auf ganz überraschende Weise kulminiert. Es ist sehr, sehr schwierig, das in einer anderen Sprache nachzubilden. Bernhard Robben ist dies alles andere als kleine Kunststück mit einer Souveränität gelungen, die man nur bewundern kann. Robben gehört schon lange zu den besten Übersetzern aus dem Englischen, aber hier ist ihm ein besonderes Meisterstück gelungen. Dem deutschen Text fehlt nichts von der Leichtigkeit und Eingängigkeit des Originals; insbesondere die ehelichen Dialoge zwischen Ethan und Mary sind mit einer Genauigkeit getroffen, die man bei Kenntnis des Originals kaum für möglich halten würde. Ein echter Glücksfall!

John Steinbeck: Der Winter unseres Missvergnügens. Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Robben. Zürich: Manesse, 2018. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 606 Seiten. 25,– €.

Patricia Highsmith: Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund

Im Vergleich zur Mafia hielt Tom sich für fast tugendhaft.

Highsmith-Ripley-3Auch wenn der dritte Ripley-Roman erst 1974 erschien, ist seine Handlung nur sechs Monate nach der von „Ripley Under Ground“ angesiedelt. Sie knüpft unmittelbar an einen der erzählerischen Nebenstränge des Vorgängers an: Für Reeves Minot, einen Hamburger Hehler, hatte Ripley dort kleinere Aufträge erledigt, die zumeist darin bestanden, aus dem Gepäck von Bekannten kleinere Gegenstände zu entwenden, die Reeves dort platziert hatte, und in Paris abzuliefern. Nun versucht Reeves aber, sich in der Hamburger Glücksspiel-Szene zu etablieren. Dazu will er den Einfluss der Mafia zurückdrängen und zu diesem Zweck einen Krieg zwischen zwei Mafia-Familien anzetteln, der nicht nur diese Familien ablenkt und beschäftigt, sondern auch die Hamburger Polizei veranlassen soll, sich des Mafia-Problems anzunehmen.

Reeves sucht daher nach jemandem, der nicht mit der kriminellen Szene verbunden ist und dennoch bereit wäre, gegen Bezahlung einen oder zwei Morde auszuführen. Er fragt auch Tom Ripley, ob er jemanden kenne, der dafür in Frage komme. In einem Augenblick zynischen Humors schlägt Ripley einen kleinen Handwerker aus Fontainebleau vor, der ihn bei Gelegenheit einer Party einmal unfreundlich behandelt hatte: Jonathan Trevanny ist Exil-Engländer und Bilderrahmer, verheiratet und Vater eines kleinen Sohnes, und er ist an Leukämie erkrankt. Verständlicherweise macht er sich Sorgen darum, wovon Frau und Kind nach seinem Tod leben werden. Er ist also anfällig für das Angebot Reeves’, ihm für zwei Morde eine erhebliche Menge Geld auf ein Schweizer Konto zu überweisen.

Auf den ersten Mord lässt sich Jonathan noch relativ leicht ein: Er lässt sich von Reeves für eine medizinische Konsultation nach Hamburg einladen und erschießt während des dortigen Aufenthalts einen kleineren Mafioso auf einem U-Bahnhof. Das ganze läuft so glatt ab, wie es geplant war und Reeves zahlt auch einen Teil des versprochenen Geldes. Der zweite Mord ist deutlich kniffliger: Er soll auf einer Zugfahrt zwischen München und Paris geschehen, und Jonathan soll ihn statt mit einer Schusswaffe mit einer Würgeschlinge, einer Garotte ausführen. Außerdem handelt es sich bei dem zweiten Opfer um einen bedeutenderen Mann der Mafia, der von zwei Leibwächtern begleitet wird. Für alle Fälle hat Jonathan auch eine Schusswaffe dabei und ist kurz davor, sie zu benutzen, als wie aus dem Nichts Tom Ripley auftaucht und die Tötung des Mafioso an Jonathans Stelle übernimmt. Sie werfen dann auch noch gemeinsam einen der Leibwächter aus dem Zug.

Die Mafia ist nicht ganz so dumm, wie Reeves erwartet, und wirft eine Bombe in seine Hamburger Wohnung. Auch den erst nach Amsterdam und dann nach Ascona Geflohenen stöbert sie bald auf, und so führt sie die Spur sehr bald zu Ripley und schließlich auch zu Jonathan. Auch diesmal werde ich die konkrete Auflösung des Romans natürlich nicht verraten, aber es geht auch in diesem Fall nicht ohne weitere Tote ab.

„Ripley’s Game“ folgt insoweit dem Muster von „Ripley Under Ground“ als auch hier ein weiterer Protagonist an Ripleys Seite tritt. Leider geht das Konzept in diesem Fall nur bedingt auf. Sicherlich ist Jonathan Trevanny eine spannende Figur: ein Normalbürger, durch seine Vorgeschichte entwurzelt und aufgrund seiner tödlichen Erkrankung verführbar, der sich aus Sorge für Frau und Kind auf ein Verbrechen einlässt, dessen Folgen er nicht absehen kann. Als diese Folgen dann eintreten, erweist er sich einerseits als vergleichsweise hilflos, besonders was seine Frau angeht, andererseits aber als gedankenlos mutig, beinahe skrupellos, was den Kampf mit der Mafia betrifft. Doch bleiben diese Eigenschaften letztlich unvermittelt nebeneinander stehen, da Highsmith vor lauter Betriebsamkeit der Handlung nicht recht dazu kommt, den Charakter Jonathans zu entwickeln. Bis zuletzt ist er zwar in seiner Motivation, nicht aber als Persönlichkeit verständlich.

Dagegen wird Ripleys Charakter um ein paar charmante Details ergänzt: Zwar stürzt er Jonathan wegen einer Kleinigkeit in eine Situation, der er offenbar nicht gewachsen sein kann, aber er hat zugleich Gewissen genug, ihn auf dem Höhepunkt der sich daraus ergebenden Schwierigkeiten zu retten, nicht ohne ein beträchtliches Vergnügen aus der Gefahr zu ziehen, in die ihn der Mord an einem Mafioso bringt. Am hübschesten aber fand ich eine kleine Nuance, die sich zeigt, als Ripley daran geht, zwei weitere von ihm ohne Zögern ermordete Mafiosi in ihrem Wagen zu verbrennen:

Tom goß Benzin über die Zeitungen und die beiden Leichen darunter, spritzte auch ein bißchen auf das Dach und auf die Polster der Vordersitze, die leider aus Plastik waren, nicht aus Stoff. Er blickte hinauf in die Bäume, deren Äste genau über ihm ein fast geschlossenes Dach bildeten; das frische Laub war noch nicht sommerlich grün. Ein paar Blätter würden versengt werden, aber es war ja für eine gute Sache.

Bleibt vielleicht für Leser mit der Gnade der späten Geburt noch der deutsche Untertitel zu erklären: „Der amerikanische Freund“ ist der Titel der Verfilmung des Romans durch Wim Wenders, die 1977 in die Kinos kam und so den Untertitel für die Erstauflage der Taschenbuchausgabe lieferte, die im selben Jahr erschien. Die Wendung vom „amerikanischen Freund“ findet sich übrigens gleich mehrfach in „Ripley Under Ground“, den Wenders in seiner Verfilmung zum Teil mit verarbeitet hatte. Jedenfalls hat Diogenes den etwas merkwürdigen Nachklapp zum englischen Originaltitel auch für die Neuübersetzung von 2003 übernommen.

Patricia Highsmith: Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund. Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis. detebe 23416. Zürich: Diogenes, 2004. Broschur, 404 Seiten. 10,90 €.

Patricia Highsmith: Ripley Under Ground

Tom wußte es. Er war ein mystischer Ursprung, ein Quell des Bösen.

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Erst im Jahr 1970, also 15 Jahre nach dem Auftakterfolg „Der talentierte Mr. Ripley“ liefert Patricia Highsmith den zweiten Roman um den Betrüger, Hochstapler und Mörder Thomas Ripley. Die Handlung spielt wahrscheinlich im Jahr 1968 in der Hauptsache in einem kleinen Dorf in Nordfrankreich und London. Tom Ripley führt inzwischen ein zurückgezogenes und unauffälliges Leben als amerikanischer Neureicher in Europa: Er ist verheiratet mit Héloïse, Tochter aus reichen Hause, und vertreibt sich seine Zeit zumeist mit Lesen, Gartenarbeit und Malen. Seine Einkünfte stammen nicht nur aus dem Erbe Dickie Greenleafs, das er sich am Ende des Vorläuferromans zu erschwindeln gewusst hatte, sondern auch aus einem kleinen Kunstfälscherring, den zu gründen er die Idee hatte und dessen stiller Teilhaber er ist.

Die Hauptakteure der Kunstfälscher sitzen in London und sind drei Freunde des verstorbenen Malers Philip Derwatt, der sich vor etwa acht Jahren in Griechenland umgebracht hat. Die Freunde – unter ihnen der Maler Bernard Tufts –, die zuerst erfolgreich Bilder aus dem Nachlass Derwatts auf den Markt brachten, fangen zuerst an, den Nachlass durch Fälschungen Tufts zu erweitern und lassen schließlich, auf Anregung Tom Ripleys, Derwatt, dessen Leiche nie gefunden wurde, wieder auferstehen, um die Geschäfte fortführen zu können: Derwatt lebe angeblich zurückgezogen in einem kleinen Dorf in Mexiko, von wo aus er seine Gemälde regelmäßig nach London expediere, um sie über die Galerie seiner Freunde Ed und Jeff verkaufen zu lassen. Darüber hinaus partizipieren die Freunde und Ripley auch an einer Firma, die Künstlerbedarf unter dem Namen Derwatts vertreibt und einer Derwatt-Kunstschule in Perugia.

Die Handlung des Romans setzt ein, als der amerikanischer Sammler Thomas Murchison den Verdacht entwickelt, bei einem von ihm erworbenen Derwatt-Gemälde handele es sich um eine Fälschung: Murchison ist aufgefallen, dass für das von ihm erworbenen Bild eine Farbe verwendet wurde, die Derwatt zuvor bereits aufgegeben und durch eine Mischung anderer Farben ersetzt hatte. Tom Ripley hat den Einfall, sich als Derwatt zu verkleiden und überraschend in London zu erscheinen, um Murchison die Echtheit seines Bildes persönlich zu garantieren. Murchison fällt zwar auf die Verkleidung herein, lässt aber nicht von seiner Theorie ab, sondern ist eher geneigt zu glauben, Derwatt selbst könne in das Geschäft mit den Fälschung verwickelt sein, um seine lukrative Produktion auf diese Weise zu erweitern. Ripley wechselt  daraufhin die Strategie, sucht nun unverkleidet die Bekanntschaft Murchisons und überredet ihn, ihn nach Frankreich zu begleiten, um dort zwei weitere Bilder Derwatts zu begutachten.

Im Hause Ripleys erweist sich Murchison als immun gegen die Überredungskünste Ripleys, so dass diesem am Ende nichts besseres mehr einfällt, als Murchison in seinem Keller zu erschlagen und die Leiche in der Nähe seines Hauses zu vergraben. Das Gepäck Murchisons fährt er zum Flughafen Orly und lässt es dort einfach auf dem Bürgersteig stehen, in der Hoffnung, dass es bald gestohlen werde.

Dies alles macht etwa das erste Drittel des Romans aus; die restlichen zwei Drittel erzählen zum einen von Toms Anstrengungen, den Nachforschungen der französischen und englischen Polizei zu entkommen, zum anderen von seinen Bemühungen, den nervösen und depressiven Fälscher Bernard Tufts unter Kontrolle zu halten, der durch das Auftauchen Murchisons in Panik versetzt worden ist. Tufts ist die psychologisch bei weitem interessanteste Figur des Romans: Sein Erfolg als Fälscher des von ihm bewunderten Derwatt stört nachhaltig sein Selbstbild. Im Grunde ist er der Überzeugung, Derwatt malerisch nicht das Wasser reichen zu können, sieht aber zugleich, dass erst seine Fälschungen Derwatts Erfolg begründet haben. Sein eigenes Werk hat sich im Gegensatz zu dem Derwatts in den Jahren der Fälschertätigkeit nicht weiterentwickelt; außerdem ist er tief in seinem Inneren davon überzeugt, dass er das künstlerische Vermächtnis Derwatts durch die Fälschungen trivialisiert hat.

Die Kombination aus Angst vor der Entdeckung, Gewissensbissen und Identitätsverlust treibt Tufts an den Rand des Wahnsinns. Nachdem er von Tom Ripley zu einem Komplizen des Mordes an Murchison gemacht wurde, versucht er, Tom umzubringen, begräbt den vermeintlich Toten in dem ehemals für Murchison bestimmten Grab – aus dieser Episode ergibt sich der Titel des Romans – und flieht. Da Tom befürchten muss, dass Tufts sich der Polizei offenbaren wird, um die für ihn unerträgliche Situation zu beenden, macht er sich auf die Suche nach ihm; er stellt ihn nach Umwegen schließlich in Salzburg. Auch hier sei natürlich der Verlauf des Finales und Toms abschließende Lösung all seiner Schwierigkeiten nicht verraten.

„Ripley Under Ground“ ist eine beeindruckende Fortsetzung des Stoffs: Während „Der talentierte Mr. Ripley“ ein ironisches Spiel mit dem Coming-of-Age-Muster (das einen Aspekt des klassischen Entwicklungsromans variiert) darstellte, liefert der Nachfolger nicht nur ein psychologisch weit spannenderes Figurenensemble – und bereitet in einer Nebenhandlung die Fortsetzung der Romanreihe vor–, er hebt auch die Figur Ripleys auf eine andere Ebene. Der zuvor etwas unsichere, suchende junge Mann hat sich in einen selbstsicheren und mit sich und seiner Stellung in der Welt im Reinen befindlichen Erwachsenen verwandelt, der nur eben leider seine Einkünfte aus nicht ganz legalen Geschäften bezieht. Es ist nur dieses unglückliche Detail, das ihn immer wieder dazu nötigt, das zu tun, was andere als das Böse ansehen, er selbst aber nur als unvermeidliche Folge ungünstiger Umstände begreift. Er ist kein Verbrecher aus Leidenschaft (und auch kein Serienmörder, als der er ab und an bezeichnet wird), sondern ein Mensch, dem all das Mühe und Unannehmlichkeiten bereitet, die er lieber vermieden hätte. Das einzige, was ihm wirklich fehlt, ist ein Gewissen, aber gerade das ist es, was ihn in seinem Geschäft so erfolgreich macht. Wahrscheinlich ist es die bis auf diesen einzigen Aspekt weitgehende Normalität Ripleys, die uns diese Figur mehr als gerade noch erträglich macht.

Patricia Highsmith: Ripley Under Ground. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. detebe 23414. Zürich: Diogenes, 2003. Broschur, 443 Seiten. 11,90 €.

Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman

mein ideal.
ich schreibe für die kommenden klugscheisser; um das milieu dieser ära komplett zu machen.
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Die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts waren eine fruchtbare Zeit für das, was man damals „experimentelle Literatur“ nannte. Dieses formal und stofflich recht uneinheitliche Genre hatte seine deutschsprachige Gründungsschrift wahrscheinlich in Peter Weiss’ „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ (1960) und sah – pars pro toto – Merkwürdigkeiten wie Thomas Bernhards Romane („Frost“ (1962)), Peter Bichsels „Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen“ (1964), Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ (1964), Wolfgang Hildesheimers „Tynset“ (1964), Günter Eichs „Maulwürfe“ (1968), Helmut Heißenbüttels „Projekt Nr. 1. D’Alemberts Ende“ (1970), Paul Wührs „Gegenmünchen“ (1970) und nicht zuletzt natürlich Arno Schmidts Mythos „Zettel’s Traum“ (1970).  Alle diese und zahlreiche andere Texte dieser Zeit galten und gelten zum Teil heute noch als schwer oder gar unlesbar  oder -verständlich und hätten bei dem heutigen Buchmarkt nur geringe Chancen, es an den Controllern und Finanzfachkräften in Lektorat und Vertrieb vorbei bis in die Druckerei zu schaffen.

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Einer dieser Texte war Oswald Wieners Buch „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ (1969), das im Erscheinungsjahr erstaunliche drei Auflagen (achttausend Exemplare) erlebte, 1972 als Taschenbuch aufgelegt wurde (Abb. rechts) und 1985 nochmals erschien. Ob es sich 1985 auch verkauft hat, wage ich nicht zu mutmaßen. Weswegen das alles aber hier zur Sprache kommt, ist die überaus erstaunliche Tatsache, dass in den letzten Wochen im österreichischen Verlag Jung und Jung eine weitere Neuausgabe dieses Textes erschienen ist, von dem ich vermutet hätte, dass er inzwischen – sieht man von einigen wenigen eingepuppten Germanisten ab – komplett vergessen ist.

Oswald Wiener (geb. 1935) war einer der theoretischeren Köpfe der sogenannten Wiener Gruppe um H. C. Artmann. Er hatte sich schon früh mit Kybernetik beschäftigt, ist außergewöhnlich breit belesen und hatte schon damals mehr Seiten Prosa weggeworfen, als mancher in seinem Leben überhaupt geschrieben hat. „die verbesserung von mitteleuropa, roman“ – es wäre aufgrund der dem Titel ironisch angeklebten Gattungsbezeichnung mit Sicherheit eines der am häufigsten falsch zitierten und bibliographisch erfassten deutschsprachigen Bücher, wenn es denn zitiert würde – ist ein Konglomerat kürzerer und längerer Texte, die sich im Wesentlichen mit allem beschäftigen, was dem Autor während der 60er Jahre durch den Kopf gegangen sein dürfte. Es finden sich philosophische und linguistische Reflexionen über Sprache, poetologische und literarische Aphorismen, Tagebucheinträge, ein langer Essay „zum konzept des bio-adapters“, „zwei studien über das sitzen“, die en passant allen Peter-Handke-Enthusiasten zur Lektüre empfohlen seien, (zumindest mir) völlig unverständliche Ein-, Zwei- und Mehrzeiler, Schimpfereien  und Ressentiments, alles hinter- und untereinander gesetzt wohl in der Hoffnung, jene Authentizität der Literatur wiederzugewinnen, die durch die ewige Reproduktion derselben Formen verloren gegangen zu sein schien.

Der Leser muss für dieses Buch viel Geduld aufbringen und sich einlassen auf die sehr spezifische und unvermittelte Welt des Autors. Alternativ dazu kann er das Buch auch einfach nur durchblätternd anstaunen und lernen, was auf dem deutschsprachigen Buchmarkt einmal möglich war. Jene Freiheit, die uns in den vergangenen 30 Jahren abhanden gekommen ist, scheint hier für einen Augenblick auf. Aber natürlich ist es zum Ausgleich heutzutage viel sicherer als damals. Wovor also fürchten wir uns?

Oswald Wiener: die verbesserung von mitteleuropa, roman. Salzburg: Jung und Jung, 2013. Pappband, 220 Seiten (davon 205 römisch nummeriert). 25,– €.

Philip Roth: Die Kepesh-Trilogie

Philip Roth hat zwischen 1972 und 2001 drei Erzählungen veröffentlicht, in denen der Literaturprofessor David A. Kepesh als Ich-Erzähler fungiert. Der Auftakt-Text »The Breast« (1972) ist eine vergleichsweise kurze Erzählung, während es sich bei den beiden anderen Texten, »The Professor of Desire« (1977) und »The Dying Animal« (2001), um Romane handelt, auch wenn der spätere eher ein Kurzroman ist.

Reflect upon eternity, consider, if you are up to it, oblivion, and everything becomes a wonder. Still, I would submit to you, in all humility, that some things are more wondrous than others, and that I am one such thing.

Roth_LOA_02»The Breast« erzählt eine kurze, abgegrenzte Episode aus dem Leben David Kepeshs: In den frühen Morgenstunden des 18. Februars 1971 verwandelt sich der 38-jährige Literaturprofessor in eine 155 Pfund schwere, weibliche Brust. Kepesh wird bei der Verwandlung ohnmächtig und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich. Er ist blind, kann aber hören und sprechen und so mit seiner Umwelt kommunizieren. Seine regelmäßigen Besucher sind seine 25-jährige Freundin Claire, sein Psychiater Dr. Klinger und sein Vater.

Zwar wird für die Verwandlung selbst irgendeine (schlecht erfundene) medizinische Begründung geliefert, aber Kepesh kommt zu dem nicht unwahrscheinlichen Schluss, dass er wahnsinnig geworden sein muss, da die Verwandlung eines Mannes in eine Brust schlicht unmöglich sei. Kepesh wehrt sich eine ganze Zeitlang erfolgreich gegen die Versuche Dr. Klingers, ihn von der Realität der Verwandlung zu überzeugen, aber – wie Sigmund Freud so treffend bemerkte – erkennt natürlich niemand einen Wahn, solange er ihn noch teilt. Ob Kepeshs Wahn allerdings darin besteht, sich einzubilden, eine Brust zu sein, oder darin, sich einzubilden wahnsinnig zu sein, bleibt bis zum Ende der Erzählung aufgrund ihrer konsequenten Ich-Perspektive unentschieden. Auch findet am Ende der Erzählung keine Rückverwandlung oder irgend eine andere Art von Vermittlung zwischen der Fiktion und der sogenannten Wirklichkeit der Leser statt.

Bei »The Breast« handelt es sich offensichtlich um Literatur aus Literatur. Roth schätzt die Belesenheit seiner US-amerikanischen Leser nicht sehr hoch ein und liefert daher die wichtigsten Quellen seiner Erzählung explizit mit: Kepesh hält einen regelmäßigen Kurs über europäische Literatur, in dem unter anderem auch Franz Kafkas »Die Verwandlung« und Nikolaj Gogols »Die Nase« (1836) behandelt werden. Während ich die Fabel von »Die Verwandlung« als bekannt voraussetzen darf, will ich die der »Nase« wenigstens in ihren Grundzügen nacherzählen: Ein Petersburger Barbier findet eines Morgens beim Frühstück in dem von seiner Frau frisch gebackenen Brot die Nase eines seiner Kunden, des Kollegienassessors Kowalow. Er beseitigt sie, in dem er sie in ein Taschentuch gewickelt in die Newa wirft. Kowalow bemerkt ebenfalls das Fehlen seiner Nase, an deren Stelle sich eine glatte Fläche in seinem Gesicht findet. Kurze Zeit später erkennt Kowalow seine Nase in der Gestalt und Uniform eines Staatsrates wieder. Nach einigen absurden Verwicklungen wird Kowalow seine Nase von der Polizei wieder zugestellt, da sie sich als Hochstapler erwiesen hat und verhaftet wurde. Auch wenn die Nase zuerst nicht wieder mit dem Gesicht ihres Besitzers zusammenwachsen will, so geht doch alles gut aus, als Kowalow eines Morgens unvermittelt wieder mit der Nase an der richtigen Stelle seines Gesichtes erwacht. Gogol beschließt die Novelle mit folgenden Reflexionen:

Aber das Seltsamste, Unbegreiflichste an der Sache ist, wie es nur Schriftsteller geben kann, die sich solche Gegenstände wählen. Ich muß gestehen, das ist mir das Allerunbegreiflichste … in der Tat, das geht vollständig über mein Begriffsvermögen! Denn erstens hat das Vaterland nicht den mindesten Nutzen davon, und dann zweitens – aber auch zweitens springt kein Vorteil dabei heraus. Kurz, ich weiß nicht, was das soll …

Aber dennoch, trotz alledem, obwohl man schließlich dies und jenes und noch ein drittes zugeben kann und vielleicht sogar … wo gibt es denn übrigens keine unsinnigen Dinge? – Wie man die Geschichte auch drehen und wenden mag, irgend etwas ist doch daran. Man rede, was man will, solche Dinge gibt es in der Welt – zwar nur selten, aber sie kommen vor. [Übers. v. Wilhelm Lange.]

Als dritte Quelle weist Roth auf Swift hin, insbesondere auf die zweite von Gullivers Reisen, aus der er offenbar mehr oder weniger direkt die Idee der riesigen weiblichen Brust bezieht:

Den meisten Widerwillen erregten mir aber die Ehrendamen (wenn meine Wärterin mich zu ihnen brachte), wenn sie alle Rücksichten mir gegenüber beiseite setzten, als sei ich ein geschlechtsloses Geschöpf; denn sie pflegten sich nackt auszuziehen und ihre Hemden anzuziehen, während ich auf ihrem Putztisch gerade vor ihren entblößten Gliedern stand […]. Die schönste dieser Ehrendamen, ein hübsches und munteres Mädchen von sechzehn Jahren, setzte mich mitunter mit gespreizten Beinen auf eine ihrer Brüste und spielte mir mehrere Streiche, deren Übergehung der Leser hier entschuldigen wird, da ich nicht langweilig werden will. [Übers. v. Franz Kottenkamp.]

Für den heutigen Leser hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Erzählung eine unmittelbare Reaktion auf das ist, was gerne als die sexuelle Revolution bezeichnet wird. Diesen Zusammenhang wird Roth in der letzten Kepesh-Erzählung weit deutlicher thematisieren. Dass eine satirische Behandlung der Mammae-Fixierung eines bedeutenden Teils der US-amerikanischen Männer (und wahrscheinlich auch des Autors) ein offensichtliches Thema der Zeit gewesen sein muss, kann man an der schönen Koinzidenz ablesen, dass im selben Jahr wie die Erzählung auch Woody Allens Film »Everything You Always Wanted to Know About Sex« in die Kinos kam, in dem in einer Episode als Ergebnis des Experimentes eines verrückten Wissenschaftlers eine gigantische Brust aus einem Labor ausbricht und die Umgebung terrorisiert.

 

Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
(© United Artists 1972)

 

And I can’t stand him any more. But then i can’t stand anyone. Everything everyone says is somehow wrong and drives me crazy.

Roth_LOA_03Fünf Jahre nach dieser literarischen Handübung mit satirischen Untertönen liefert der Roman »The Professor of Desire« die Vorgeschichte des Ich-Erzählers David Kepesh. Beginnend mit seiner Kindheit als Sohn eines jüdischen Hotelbesitzers in den Catskills erzählt David Kepesh seine Lebensgeschichte bis zum Ende der 60er Jahre. Er entkommt aus den proviziellen Verhältnissen seines Elternhauses an die Universität, wo er sich trotz ersten Ablenkungen durch seine sexuelle Begierde als außergewöhnlicher Student erweist und daher für ein Jahr als Fulbright-Stipendiat nach London gehen darf.

In London erst beginnt sein Sexualleben aufzublühen: Nach ersten Abenteuern mit Prostituierten lernt er zwei zusammenlebende Schwedinnen, Elisabeth und Brigitta, kennen und beginnt zuerst mit der einen, dann mit beiden zugleich ein sexuelles Verhältnis. Diese Dreieck scheitert, als Elisabeth versucht sich umzubringen; der Versuch scheitert, und sie kehrt nach Schweden zurück. Kepesh ist zwar von Gewissensbissen geplagt, wohnt aber weiterhin mit Brigitta zusammen und nimmt auch bald darauf die sexuelle Beziehung zu ihr wieder auf. Diese Erziehung des Gefühls gipfelt in einer gemeinsamen Tour durch Frankreich und Europa, die eine offensichtliche Parodie auf die Kavaliersreisen des 18. und 19. Jahrhunderts darstellt. Für Kepesh ist es klar, dass seine bevorstehende Rückkehr in die USA das Ende seiner Beziehung zu Brigitta bedeuten wird; als auch ihr klar wird, dass Kepesh sie nicht mitzunehmen gedenkt, beendet sie das Verhältnis mit ihm sang- und klanglos.

Die Erzählung überspringt ökonomisch einige Jahre und setzt mit dem Beginn von Kepeshs Beziehung zu Helen Baird wieder ein. Helen ist das, was man ein It-Girl nennt. Sie ist aus den spießigen US-amerikanischen Verhältnissen nach Südostasien geflohen, wo sie eine Zeitlang als Gespielin der Reichen und Schönen zugebracht hat. Als einer der Tycoone ihr anbietet, zu ihren Gunsten seine Gattin beseitigen zu lassen, überkommen sie moralische Zweifel, und sie flieht vor ihrem Halbwelt-Leben zurück in die USA, wo sie von Kepesh auf einer Party aufgelesen wird. Er heiratet Helen, die allerdings angesichts der bürgerlichen Verhältnisse, in die sie durch diese Ehe geraten ist, in Depressionen verfällt und sich mit dem Konsum von Alkohol und Drogen betäubt. Verzweifelt flieht sie erneut nach Hongkong und landet dort im Gefängnis, aus dem Kepesh sie mit der Hilfe eines ihrer alten Freunde befreien und in die USA zurückbringen kann. Mit dieser Episode endet die Ehe.

Nach der Scheidung verfällt Kepesh selbst in eine Phase der Depression; er wechselt von der West- an die Ostküste der USA, beginnt den uns schon bekannten Psychiater Dr. Klinger zu sehen und lernt schließlich nach einer ganzen Weile Claire Ovington, eine Grundschullehrerin, kennen, die ihn körperlich an Helen erinnert (beide Frauen haben natürlich große Brüste), der aber Helens Neurosen und Depressionen ganz und gar fremd sind. Mit Claire beginnt die glückliche Phase in Kepeshs Leben. Er entspannt sich und hier und da scheint es fast, als gelinge es ihm für ein Weilchen einfach nur er selbst zu sein, anstatt ständig inneren und äußeren Ansprüchen, Selbst- und Fremdbildern nachzulaufen. Kepesh reist mit Claire nach Europa, und in Venedig glückt es ihm sogar beinahe, mit der Erinnerung an Brigitta Frieden zu schließen. Das Paar kehrt schließlich nach einem Abstecher über Prag (womit das für »The Breast« zentrale Thema Kafka eingeholt wird, dessen Vorbildcharakter in »The Professor of Desire« übrigens von Tschechow übernommen wird) in die Staaten zurück, wo sie sich für den Sommer ein Haus mieten und das Zusammenleben ausprobieren. Der Roman klingt aus mit einer längeren Episode, in der Davids Vater ihn und Claire besucht, was Gelegenheit dazu gibt, den Tod als Thema in den Roman einzuführen. Ich musste unwillkürlich an den Satz Thomas Buddenbrooks denken: wenn das Haus fertig ist , so kommt der Tod.

Als leise, aber unverkennbar ironische Variation des Musters des klassischen Entwicklungsromans liefert »The Professor of Desire« ein solides Fundament für die Kafka/Gogol-Parodie von »The Breast«; allerdings hätte die kurze, phantastische Erzählung von der Verwandlung eines ordentlichen Professors in das obskure Objekt seiner Begierde kaum im Anschluss an diese Vorgeschichte geschrieben werden können oder zumindest nicht in der unvermittelten Weise, wie dies geschehen ist. Es ist daher kein kleiner Glücksfall, dass David Kepesh im Augenblick seiner Verwandlung das Licht der Literatur erblickt hat.

 

Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York
Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York

 

People think that in falling in love they make themselve whole? The Platonic union of souls? I think otherwise. I think you’re whole before you begin. And the love fractures you. You’re whole, and then you’re cracked open.

Roth_LOA_08Erst 2001 erscheint der dritte und letzte Text um David Kepesh. In »The Dying Animal« (der Titel ist ein Yeats-Zitat) ist der Ich-Erzähler inzwischen 70 Jahre alt. Er erinnert sich erzählend an eine acht Jahre zurückliegende Affäre mit einer seiner Studentinnen, Consuela Castillo, der 24-jährigen Tochter eines wohlhabenden kubanischen Exil-Ehepaars, die körperlich dem Grundmuster von Helen und Claire folgt: eine kräftige Frau mit ausladenden Brüsten. Die Affäre dauert anderthalb Jahre und endet, als Kepesh nicht auf der Feier von Consuelas Studienabschluss erscheint, weil er auf dem Weg zum Haus der Castillos von Furcht vor der Begegnung mit der Familie Castillo und dem Bewusstsein der Lächerlichkeit seiner Rolle überwältigt wird. Consuela verzeiht ihm seine Ausrede, dass sein Wagen liegen geblieben sei, nicht.

Die Trennung stürzt Kepesh wieder einmal in eine existenzielle Krise, die er erst nach drei Jahren einigermaßen überwunden hat. Doch am Silversterabend des Jahres 1999 meldet sich Consuela, von der er seit der Trennung nur einige Postkarten erhalten hat (darunter auch eine mit dem Akt Modiglianis, der oben zu sehen ist und von Kepesh ausdrücklich als das Alter Ego Consuelas bezeichnet wird), telefonisch bei ihm und besucht ihn kurz darauf. Sie kommt, um ihm zu sagen, dass man bei ihr Brustkrebs festgestellt und dass sie eine Chemotherapie hinter sich habe und eine Operation in Kürze bevorstehe, bei der man ihr einen Teil der rechten Brust entfernen wird. Sie bittet Kepesh, Fotos von ihr zu machen, die ihren Körper so festhalten, wie Kepesh ihn gekannt und geliebt hat. Anschließend verschwindet sie wieder für einige Wochen, nur um ihm dann mitzuteilen, dass der Operationstermin nun feststehe und man ihr die ganze rechte Brust wird entfernen müssen.

Erzählt wird dies alles als langer Monolog Kepeshs vor einem anonym bleibenden Zuhörer an dem Tag, als Consuela sich wieder bei Kepesh meldet. Consuela ist in Todesangst, und der Text endet damit, dass Kepesh aufbrechen will, um ihr beizustehen. Nur an dieser einen Stelle kommt der Zuhörer von Kepeshs Monolog zu Wort:

Stay if you wish. If you want to stay, if you want to leave . . . Look, there’s no time, I must run!
»Don’t.«
What?
»Don’t go.«
But I must. Someone has to be with her.
»She’ll find someone.«
She’s in terror. I’m going.
»Think about it. Think. Because if you go, you’re finished.«

Mit diesem Satz beendet Roth die Geschichte David Kepeshs. Er ist auch der Grund für die eher ungewöhnliche Erzählperspektive des Textes, da das abschließende Urteil, Kepesh sei erledigt, wenn er seinem Gefühl für Consuela noch einmal nachgebe, nur dann seine ganze Wirkung entfalten kann, wenn es sich dabei nicht um eine weitere der endlosen Selbstbespiegelungen Kepeshs, sondern um das objektive Urteil eines Dritten handelt. Dass dieser Dritte sowohl der Autor als auch der Leser sein kann und sein soll, steht für mich außer Frage.

Der Kurzroman »The Dying Animal« rundet die Kepesh-Trilogie auf elegante Weise ab, indem er das Thema des Todes als Widerlager des sexuellen Begehrens Kepeshs, das am Ende von »The Professor of Desire« kurz erschienen war, aufgreift und durchführt. In diesem Sinne bilden die drei Texte eine relativ geschlossene Einheit. Dies könnte aber darüber hinwegtäuschen, dass Roth sich mit der Biographie Kepeshs erhebliche Freiheiten herausnimmt: In »The Breast« ist Kepesh im Februar 1971, zum Zeitpunkt seiner Verwandlung, 38 Jahre alt, was seine Geburt in das Jahr 1932 oder 1933 (das Geburtsjahr des Autors) legt. Claire ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Fünf Jahre später werden diese Daten leicht variiert: »The Professor of Desire« endet im Jahr 1969 oder 1970; die Terminierung ist dadurch möglich, dass der letzte Teil der Erzählung mindestens ein Jahr nach dem Ende des Prager Frühlings spielt. Kepesh ist in diesem Jahr 34 Jahre alt, während Claire wieder als 25-Jährige auftritt. Der Altersunterschied zwischen beiden ist also um vier Jahre geschrumpft, und Kepeshs Geburtsjahr liegt im Jahr 1935 oder 1936.

Noch heftiger werden die Verwerfungen in »The Dying Animal«: Hier ist Kepesh zu Anfang des Jahres 2000 70 Jahre alt, was sein Geburtsjahr in das Jahr 1929 vorverlegt. Er weiß in diesem Buch nichts mehr von Claire oder Helen, von Brigitta oder Elisabeth, stattdessen hat er einen 42-jährigen Sohn, Kenny, der aus einer Ehe hervorgegangen ist, die wahrscheinlich von 1956 bis 1965 gedauert hat. Kepesh behauptet außerdem, er habe bereits mit 16 eine Geschlechtskrankheit gehabt, die er zusammen mit ihrer Spenderin in »The Professor of Desire« verschwiegen hatte. Andererseits haben auch die Eltern dieses Kepeshs ein Hotel in den Catskills geführt, so dass wenig Zweifel bestehen, dass die beiden anderen Kepeshs mit diesem identisch sein sollen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass Kepesh seinen anonymem Zuhörer mit einer erfundene Biographie täuschen will, da er zum Beispiel an einer Stelle einen Brief seines Sohnes vorliest, also einen physischen Beweis für die Fundiertheit seiner Erzählung liefert, ohne dass dies in irgend einer Weise notwendig wäre. Überhaupt ist kein Grund zu erkennen, warum dieser Kepesh in Sachen seiner Biographie seinen Zuhörer und den Leser anlügen sollte. Es bleibt als Schlussfolgerung nur, dass Roth, um Kepeshs Verwicklung in die Dynamik des studentischen Lebens Mitte der 60er Jahre und die sogenannte sexuelle Revolution wahrscheinlich und sinnvoll zu machen, ihm eine völlig andere Biographie zuschreiben musste. Warum auch nicht, nachdem er ihn schon einmal ganz und gar in eine weibliche Brust transformiert hatte?

Die Kepesh-Trilogie ist ein schönes Muster für die schriftstellerische Durcharbeitung und Fortschreibung einer literarischen Figur und eines Konglomerats von Themen und Motiven, wobei sich die Gewichtung der Motive und ihre perspektivische Darstellung mit dem Alter und der Erfahrung des Autors verändern. Dabei besteht kein Anspruch, mehr zu tun, als den Mitlebenden ein Leben zu erzählen, in dem sie sich mehr oder weniger klar spiegeln können, wobei es ihnen nicht anders ergeht als dem Protagonisten dieses Lebens selbst.

  • Philiph Roth: The Breast. In: Novels 1967–1972. New York: Library of America, 2005. S. 601–641. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.
  • Philiph Roth: The Professor of Desire. In: Novels 1973–1977. New York: Library of America, 2006. S. 679–869. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 27,– €.
  • Philiph Roth: The Dying Animal. In: Novels 2001–2007. New York: Library of America, 2013. S. 1–91. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.

David Merveille: Hallo Monsieur Hulot

Merveille_HulotIch bin mir nicht sicher, wie bekannt in Deutschland Monsieur Hulot heute noch ist. In der Generation meiner Eltern gehörten Jacques Tatis Filme »Die Ferien des Monsieur Hulot« und »Mein Onkel« (der nach dem Gewinn des Sonderpreises der Jury in Cannes 1958 und des Oscars für den besten fremdsprachigen Film im Jahr 1959 immerhin als der am höchsten premierte Film aller Zeiten beworben wurde) zum allgemeinen kulturellen Unterfutter, so dass die meisten aus meiner Genration diese Filme noch kennen und schätzen gelernt haben. Wenn ich allerdings jungen Leuten von M. Hulot erzähle, ernte ich oft nicht mehr als verwunderte Blicke, dass es zu den Zeiten, als ich jung gewesen bin, überhaupt schon bunte Filme gegeben haben soll. Ich nehme an, das liegt daran, dass Tatis Filme vom Fernsehen nicht mehr wiederholt werden oder wenn, dann auf Arte oder wo.

In Frankreich scheint die Lage noch etwas günstiger zu sein, denn David Merveille legte 2010 mit Erfolg ein Bilderbuch vor, dessen ganzer Zauber sich nur dem eröffnet, der Tatis Filme und ihren Humor kennt, der in beinahe allen  Fällen übrigens ganz ohne Sprache auskommt und deshalb für ein reines Bilderbuch ideal geeignet ist. Der NordSüd Verlag hat nun eine Ausgabe für den deutschsprachigen Markt herausgebracht, die allen, die M. Hulot bereits kennen, ans Herz gelegt sei (jeder braucht mindestens zwei Exemplare: eins für sich selbst und eines zum Verschenken), und allen anderen ein Anlass sein soll, die ganz und gar wundervolle Welt Jacques Tatis zu entdecken!

David Merveille: Hallo Monsieur Hulot. Zürich: NordSüd, 2013. Bedruckter Pappband (28,5 cm × 22 cm), Fadenheftung, 50 Seiten (unpaginiert). 14,95 €.

Gerhard Henschel: Kindheitsroman

Im Sprachbuch war eine Seite, auf der wir alle Buchstaben ausmalen konnten, die wir durchgenommen hatten. Wie wohl das große Eszett oder Rucksack-S aussah. Das kleine war schon drangewesen. Als alles ausgemalt war, fehlte immer noch das große Eszett. Ich fragte Frau Kahlfuß danach, und sie sagte, das gebe es nicht. Es gebe nur das kleine Eszett.
Das war der größte Beschiß, den die Welt je erlebt hatte.

Erster Teil eines inzwischen auf vier Bände angewachsenen, offensichtlich stark autobiographisch gefärbten Romanzyklus. Der Ich-Erzähler Martin Schlosser wächst als drittes Kind einer sechsköpfigen Familie in und um Koblenz herum auf. Ein weiterer wichtiger Ort ist Jever, in dem die Großeltern väterlicherseits leben, und Hannover, wo er mehrfach eine seiner Tanten besucht. Erzählt werden die gut zehn Jahre von Mitte der 60er bis zur Mitte der 70er Jahre. Die Familie Schlosser ist eine ziemlich typische Nachkriegsfamilie: Der Vater arbeitet als Ingenieur für die Bundeswehr, die Mutter ist Hausfrau. Man entschließt sich, ein Haus zu bauen, in das man vor der endgültigen Fertigstellung einzieht, um es dann in Eigenregie weiterzubauen. Der Vater ist zuerst oft im Ausland und später, nachdem er befördert wurde, im niedersächsischen Meppen, wohin er versetzt wurde. An den Wochenenden verbringt er viel Zeit mit der Vollendung des Hauses, im Hobbykeller und beim Reparieren des PKWs.

Die Erzählung folgt der kindlichen Entwicklung Martins, seinen Freundschaften und ersten Lieben, seiner Schullaufbahn, seiner Neigung zu unbefugter Aneignung fremden Eigentums und schließlich seinen kindlichen Träumen von Ruhm und Reichtum als klavierspielendes Wunderkind oder als späterer Rekord-Torschützenkönig und mehrfacher Fußballweltmeister. Alles das ist locker aufgereiht und folgt nur sehr bedingt unter dem Muster eines Entwicklungsromans. Das Besondere des Buches ist, neben seinem Humor, die Authentizität des Materials, sowohl bei den sachlichen Details als auch in den sprachlichen Wendungen. Dies ist eines der seltenen Bücher, die nach 100 Jahren für den normalen Leser gänzlich unlesbar geworden sind, aber von Historikern ausgeschlachtet werden, die die westdeutsche Alltagskultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreiben wollen.

Gerhard Henschel: Kindheitsroman. dtv 13444. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 62011. Broschur, 494 Seiten. 11,90 €.

Stephen King: 11/22/63

king-11-22-63Nach sicherlich mehr als 20 Jahren der erste Stephen King, der mich wieder interessiert hat. Wie der Titel und noch mehr das Cover des Buches klar machen, geht es um das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas. Gemäß dem Nachwort des Autors ist das Roman-Projekt etwa 40 Jahre alt, erschien King Anfang der 70er Jahre aber als zu aufwändig. Inzwischen ist King Inhaber einer gut laufenden Literatur-Werkstatt, die ihm in solchen Fällen zuarbeiten kann. Wer allerdings damit rechnet, in diesem Buch irgendwelche Einsichten zum Kennedy-Attentat zu finden, die über jede beliebige populäre Darstellung der Ereignisse hinausgeht, ja sie auch nur einholt, wird sich enttäuscht sehen. Das Buch ist in jeder Hinsicht banal.

Erzählt wird es von einem etwa 30 Jahre alten Englischlehrer, Jake Epping, der vom Besitzer eines Schnellrestaurants seiner Kleinstadt in ein Geheimnis eingeweiht wird: Im Hinterraum des Restaurants findet sich eine unsichtbare Treppe, die hinunter ins Jahr 1958 führt. Diese Tür in die Vergangenheit folgt einigen merkwürdigen Gesetzen: Jeder Gang in das Jahr 1958 führt immer an denselben Zeitpunkt und wenigstens auf den ersten Blick immer zu derselben Ausgangskonstellation. Jede Veränderung, die der Zeitreisende an der Vergangenheit vornimmt, wird durch seinen nächsten Besuch also wieder aufgehoben. Zum anderen vergehen in der Gegenwart immer nur zwei Minuten zwischen dem Beginn und dem Ende der Zeitreise, ganz gleich wie lange der Zeitreisende in der Vergangenheit bleibt.

Der Restaurantbesitzer, Al, hat diesen Zugang jahrelang dazu genutzt, um im Jahr 1958 preiswert Fleisch für sein Restaurant einzukaufen, bis er auf den Einfall gekommen ist, ihn für etwas Sinnvolleres zu gebrauchen. Sein Plan war es, das Kennedy-Attentat zu verhindern, auch hat er einige Jahre auf dieses Ziel hingearbeitet, wurde dann aber mit Krebs diagnostiziert und ist nun auf den Tod erkrankt und vererbt Jake sein großes Projekt zur Verbesserung der Gegenwart. Seiner Idee liegen folgende Annahmen zugrunde: Lee Harvey Oswald war als Einzeltäter verantwortlich für die Ermordung Kennedys, und Kennedys Überleben verhindert die Ausweitung des Vietnam-Krieges, die Ermordung Martin Luther Kings und die Rassenunruhen in den USA.

Nach einem Probelauf, der nur halbwegs erfolgreich verläuft, entschließt sich Epping, den Plan auszuführen. Offensichtlich muss er zu diesem Zweck mehr als fünf Jahre in der Vergangenheit verbringen, was King die Chance gibt, ein Zeitporträt der USA dieser Jahre zu liefern. Dieser Teil des Romans ist ordentlich recherchiert, zielt aber offenbar auf Leser ab, die sich nicht für die anderen Romane, die diese Zeit beschreiben, interessieren und das alles nur deshalb lesen, weil es in einem King-Roman vorkommt. Weder ist Kings Bild der Zeit irgendwie überraschend, noch von originellen Perspektiven oder Einsichten getragen. Um das ganze ein wenig interessanter zu machen, erfindet King für seinen Protagonisten eine etwas schmalzige Liebesgeschichte, die ihre Energie aus der sexuellen Verklemmtheit der 50er Jahre bezieht, der man aber immerhin zugestehen muss, dass King auf die in der Trivialliteratur inzwischen weit verbreitete exzessive Darstellung des Geschlechtsaktes verzichtet. Dies wird durch mehrere explizit gewalttätige Szenen mehr als ausgeglichen.

King braucht immerhin bis zur Hälfte des Romans, bis Oswald zum ersten Mal auftritt, und er braucht weitere hunderte, endlose Seiten bis es endlich zum entscheidenden Punkt kommt: Epping schafft es gegen nahezu überwältigende Widerstände der Vergangenheit gerade so, das Attentat zu verhindern, doch kommt dabei natürlich seine große Liebe ums Leben. In die Gegenwart zurückgekehrt, muss er allerdings einsehen, dass sein Eingreifen in den Ablauf der Geschichte zu katastrophalen Zuständen geführt hat: Die gesamte Welt wird von tektonischen Unruhen erschüttert, die den Planeten zu vernichten drohen (die schlechthin nur als blödsinnig zu bezeichnende Erklärung hierfür erspare ich mir nachzuerzählen), die alltäglichen Verhältnisse in den USA sind weit mehr als zuvor von Armut, Gewalt und offenem Rassismus gekennzeichnet, und überhaupt hat sich, wie ihm in einem auf wenige Seiten zusammengedrängter Überblick über die Geschichte nach 1963 zeigt, alles zum Schlimmeren gewendet. Wie gut also, dass er alles wieder rückgängig machen kann; und so geschieht es denn auch. – Puh! Gerade noch einmal gut gegangen.

Erzählerisch wird hier ein sehr dünnes Brett gebohrt. Man mag King die grundsätzliche Schwäche verzeihen, die jegliche Zeitreise-Erzählung unausweichlich mit sich bringt. Zwar versucht er den schlimmsten Paradoxien durch seine merkwürdige Konstruktion zu entgehen, das erklärt aber nicht, warum sein Protagonist tatsächlich fünf Jahre warten muss, um das Attentat zu hindern: Er könnte Oswald auch bei erstbester Gelegenheit ermorden (dass er mit einer solchen Lösung nur wenig Schwierigkeiten hat, stellt er zuvor bereits unter Beweis), in die Gegenwart zurückkehren, schauen, ob sich der gewünschte Effekt eingestellt hat und im Fall des Nichtgelinges einfach den nächsten Versuch starten. Aber das taugt natürlich nicht für einen Hollywood-Showdown, wie King ihn offensichtlich beabsichtigt und seine Leser erwarten.

Viel ärger dagegen ist, dass King rücksichtslos Seiten schindet: Der Roman hat fürchterlichen Leerlauf, in dem nur Dinge und Ereignisse erzählt werden, die für die Fabel vollständig unerheblich und auch gänzlich beliebig sind und im besten Falle nur dazu dienen, die unvermeidlichen Ereignisse um nochmals zehn, zwanzig Seiten zu verzögern. Die wirklich interessanten Seiten des Stoffes bleiben dagegen komplett unterentwickelt: Weder erfährt der Leser auch nur ein neues oder originelles Detail zum Kennedy-Attentat, noch, und das ist das eigentliche Versäumnis des Buches, werden die politischen und historischen Folgen der Verhinderung des Kennedy-Attentats, also eine alternative Historie der USA und der Welt auch nur ansatzweise angemessen ausgeführt. Ich will einmal ganz davon absehen, dass die sogenannten Tatsachen des Kennedy-Attentats augenscheinlich  gegen die These des Einzeltäters sprechen, ohne dass damit gesagt sein soll, dass irgendeine der diskutierten Verschwörungstheorien diese Tatsachen besser zu erklären vermag.

Eine durch und durch enttäuschende Lektüre.

Stephen King: 11/22/63. Kindle-Edition, 2011. 1759 KB (853 Seiten). 11,99 €.

Michael Buselmeier: Wunsiedel

Es war ein schwerer Fehler gewesen, dem Lockruf des alten Intendanten zu folgen und nach Wunsiedel zu fahren, eine fatale Dummheit, die aber nun nicht mehr rückgängig zu machen war.

978-3-88423-362-7Wunsiedel ist der Ort, an dem Jean Paul und der Mörder Carl Sand geboren wurden und Rudolf Heß begraben lag. Es ist auch der Ort, an den der ehemalige Schauspieler  Moritz Schoppe nach 44 Jahren zurückkehrt. 1964 hatte er in Wunsiedel bei den Luisenburg-Festspielen seine Karriere als Schauspieler begonnen, es aber nur schlecht ertragen, dort nicht die intellektuell herausragende Position zugewiesen zu bekommen, derer er sich würdig dünkt. Inzwischen ist er Schriftsteller geworden, eine Profession, die es ihm erlaubt, ausgiebig auf die alten Kollegen und deren Geistesferne zu schimpfen. Dass er dies im Ton Thomas Bernhards versucht, soll wohl der Sache eine ironische Distanz verleihen, tut es aber nicht, sondern bleibt nur eine der Stilübungen, von denen der Roman voll ist.

Neben der Enttäuschung des jungen Schauspielers, nicht unmittelbar als Genie erkannt zu werden, plagt ihn das Heimweh – er vermisst besonders seine ihn allein erzogen habende Mutter – und er wird von seiner Freundin Ulla, einer Neurotikerin aus reichem Elternhaus, per Briefpost verlassen. Während der Erzähler einerseits behauptet, darüber verzweifelt zu sein, unternimmt er andererseits mit einem Kollegen Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Gegend. Gegen Ende verliert der Roman dann auch noch an formaler Geschlossenheit und der Erzähler erzählt noch rasch ein paar Träume und was ihm sonst noch so einfällt.

Ganz nett sind die Naturbeschreibungen. An einer Stelle gerät der Autor sogar in Versuchung, einen romantischen Geist auftreten zu lassen, aber er traut sich oder auch dem Leser dann doch nicht und plaudert alles aufs Platteste aus. Kein wirklich schlechtes Buch, aber eben auch nicht gelungen. Es wirkt wie ein Produkt aus einer Creative-Writing-Klasse: Der Autor hat gut aufgepasst und weiß nun wie es geht; er hat viel recherchiert und sich einen spannungsreichen Charakter ausgedacht; er schreibt, was er erlebt hat, und mit einer biegsamen Feder und vermag zahlreiche Töne zu treffen, und dennoch fühlt man Absicht und man ist verstimmt.

Michael Buselmeier: Wunsiedel. Theaterroman. Heidelberg: Wunderhorn, 2011. Bedruckter Pappband, Fadenheftung, 159 Seiten. 18,90 €.

Uwe Timm: Freitisch

Wat wullen Se denn? Ich frage, wo Arno Schmidt wohnt. Da hat der Bauer in die Dunkelheit gezeigt. Und gesagt: Kümmt immer wieder ener. De let keenen vor.

Es ist heute schon eine angenehme Ausnahme, wenn ein erzählender Text mit der spezifischen Gattungsbezeichnung Novelle versehen ist und nicht mit dem allgemeinen Vertriebslabel Roman beklebt wird. Wenn dann zudem tatsächlich eine »sich ereignete unerhörte Begebenheit« – wenn auch in ironischer Brechung – den Höhepunkt der Erzählung bildet, kann man als Leser höchst zufrieden sein.

Uwe Timms »Freitisch« erzählt von der Begegnung zweier alter Münchner Studienkollegen in einer Kleinstadt an der Peene. Der eine der beiden, der Ich-Erzähler, ist pensionierter Studienrat, Deutsch und Geschichte, der andere ein Fachmann für Müllentsorgung, der für die Stadt eine neue Deponie planen soll. Kennengelernt haben sie sich Mitte der 1960er Jahre am Freitisch einer Versicherungsgesellschaft, einem Vierertisch, den außer den beiden auch ein Jurist und ein weiterer Germanist mit dem Spitznamen Falkner regelmäßig frequentierten. Und an diesen Tisch hatte der damalige Mathematikstudent – daher sein Spitzname Euler – und jetzige höhere Müllmann die Arno-Schmidt-Lektüre eingeführt, ausgerechnet mit dem Band »Kühe in Halbtrauer«, damals die letzte Neuerscheinung Schmidts.

Da der pensionierte Studienrat aus der Zeitung erfahren hatte, dass Euler in die Stadt kommen werde, passt er ihn vor dem Rathaus ab, und man geht miteinander in ein Café am Ort und erinnert sich der alten Zeiten: Der eigenen Aufbruchstimmung, die mit der der 68er-Generation nicht viel gemeinsam hatte, der Schreibversuche, die nur Falkner schließlich zum Beruf gemacht hat, der Diskussionen um Arno Schmidt, die durchaus kontrovers waren, und schließlich auch zweier Fahrten Eulers nach Bargfeld, um den »Meister« persönlich kennenzulernen; auf der zweiten hatte ihn der Ich-Erzähler begleitet. Und auf dieser Fahrt geschieht dann das Unerhörte: Durch einen Trick – der hier natürlich nicht verraten wird – gelingt es Euler diesmal (beim ersten Besuch hatte sich Schmidt nicht sehen lassen) tatsächlich, den »Meister« neugierig zu machen und an den Zaun zu locken. Als das Gespräch erst einmal eröffnet ist, darf Euler auch eintreten und bekommt sogar die mitgebrachten Exemplare von »Kühe in Halbtrauer« signiert. Allerdings erhält er auch verbindlichst Auskunft über die Texte, die er Schmidt vorab zugeschickt hatte, was seine Stimmung gründlich ruiniert. Diese Begegnung findet übrigens Anfang August 1965 statt, also kurz bevor Schmidt in die Niederschrift von »Zettel’s Traum« abtaucht.

Doch ist Schmidt nicht nur in den Erinnerungen der beiden alten Freunde präsent: Der Text ist durchwirkt mit zahlreichen Schmidt-Zitaten und -Anspielungen. Auch ist es sicherlich kein Zufall, dass gerade der Band »Kühe in Halbtrauer« als zentrales Paradigma Schmidtschen Schreibens benutzt wird, denn nicht nur die Erzählung »‹Piporakemes!›«, die Timm explizit heraushebt, stand bei der Entstehung der Novelle Pate, sondern sie ist als Erzählung über zwei sich erinnernde Alte auch eine Variation auf »Kühe in Halbtrauer« selbst. Und auch in den hier und da eingeschobenen Kleinsterzählungen und Anekdoten blitzt Schmidtsche Erzählkunst auf. Alles in allem eine höchst produktive, zugleich lakonische und intelligente Auseinandersetzung mit Arno Schmidt und seinem Erzählen, die jeglichen Versuch der Imitation oder Anbiederung vermeidet. Dass der Text bei all seiner Kunstfertigkeit auch für diejenigen attraktiv geblieben ist, die Schmidt nicht oder nur oberflächlich kennen, beweisen die zahlreichen positiven Besprechungen in den Feuilletons. Als Schmidt-Kenner und -Leser wünschte man sich, mehr solch gelungene Aneignungen zu Gesicht zu bekommen.

Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2011. Leinen, 136 Seiten. 16,95 €.

(geschrieben für den Bargfelder Boten, Lfg. 343–344.)