Stefan Heym: Flammender Frieden

Außerdem war er in sie verliebt, und diese Liebe war sein Untergang.

Anlässlich des heutigen 20. Todestags Stefan Heyms ist bei Bertelsmann sein zweiter Roman erstmals in deutscher Übersetzung durch Bernhard Robben erschienen. Of Smiling Peace wurde zuerst 1944 auf Englisch verlegt und konnte, obwohl offensichtlich auch diesmal auf eine Hollywood-Verfilmung hingeschrieben, an den Erfolg von Heyms Erstling Hostages (1942; auf Deutsch später: Der Fall Glasenapp) nicht anknüpfen. Als sein dritter Roman Crusaders (1948; deutsch jetzt Kreuzfahrer von heute, auch unter dem Titel Der Bittere Lorbeer) ein internationaler Erfolg wurde, ließ Heym die „Vorstudie“ von 1944 auf sich beruhen und unterband jede Neuausgabe oder Über­set­zung. So erscheint der Roman erst jetzt auf Deutsch und noch dazu in einer Über­set­zung von zweiter Hand. Aber zumindest dies letzte scheint ihm nicht geschadet zu haben.

Erzählt wird im Wesentlichen die Geschichte zweier Männer, deren Leben – leider – schicksalhaft miteinander verflochten sind: Einerseits der Wehrmachts-Major Ludwig von Liszt, andererseits der deutschstämmige Lieutenant Bert Wolff, der zusammen mit seinen Kameraden am 8. November 1942 an der Küste unweit von Algier anlandet. Die Einnahme von Algier und die Gefangennahme der deutschen Waf­fen­still­stands­kon­trol­leu­re, wie sich die deutschen Besatzer euphemistisch nennen, gelingt weitgehend problemlos, aber Liszt und sein Hauptmann Tarnowsky schlüpfen den Amerikanern durch die Finger. Liszt macht sich auf Richtung Osten, um zu den von Sizilien nach Tunesien verlegten Wehrmachtstruppen zu stoßen, was ihm unter abenteuerlichen Umständen auch gelingt, und auf diesem Weg zugleich einen großen Gegenschlag zu organisieren, der die US-amerikanischen Landungstruppen in einer Zangenbewegung aufreiben soll.

Natürlich lieben Liszt und Wolff dieselbe Frau (die im Schnellschuss-Verfahren zusammengezimmerte Beziehung zwischen Marguerite und Wolff gehört zu den peinlichsten Details des Romans), aber wenigstens im Roman bekommt sie keiner der beiden (das hätte man fürs Drehbuch ändern müssen), sondern sie heiratet am Schluss denjenigen von all den ihr zu Füßen herumkriechenden Männern, den sie am meisten verachtet.

Schon an diesem Detail merkt man, dass der Roman an einigen Klischees nicht vorbeikommt. Auch die weite Strecken des Buches bestimmenden Dialoge der zahlreichen Akteure untereinander sind zum Teil von einer Plattheit, die ihresgleichen sucht. Dafür ist die erzählerische Konstruktion, die die Geschichte bis zum Ende parallel in mehreren Strängen vorwärts treibt, durchaus souverän gehandhabt und zeigt eine gut geplante Struktur. Für ein schnell und auf ein breites Publikum hin geschriebenes Buch, das zudem erst den zweiten Roman des Autors darstellt, verdient es durchaus Respekt, auch wenn sich Begeisterung wohl nur bei echten Heym-Fans einstellen wird. Das Nachwort fasst es so zusammen:

In bester amerikanischer Erzähltradition gleichermaßen spannend wie unterhaltsam komponiert, legt Heym mit seinem Flammenden Frieden den Finger in eine Wunde, die bis heute nicht verheilt ist.

S. 477

Ein wenig besser ist es schon, aber nicht viel.

Stefan Heym: Flammender Frieden. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. München: Bertelsmann, 2021. Pappband, 477 Seiten. 24,– €.

John Steinbeck: Der Winter unseres Missvergnügens

«Die ganze Wahrheit? Wenn man ein Huhn zerlegt, Ethan, ist alles Huhn, trotzdem gibt es helles und dunkles Fleisch.»

Der Winter unseres Miss­ver­gnü­gens von 1961 ist John Steinbeck letzter Roman. Der Literaturnobelpreis, den er 1962 erhielt, veränderte seinen Status als Prominenter so stark, dass er danach bei zunehmender Krankheit vor lauter öffentlichem Engagement nur noch wenig zum Schreiben kam. So sind dieser Roman und die 1962 noch erschienene, autobiographische Reise mit Charlie seine letzten Bücher gewesen. Erzählt wird im Winter unseres Missvergnügens hauptsächlich die Geschichte Ethan Allen Hawleys, eines jungen Mannes, verheiratet, mit zwei Kindern, der seine Familie und sich als Verkäufer in einem Leb­ens­mit­tel­la­den über Wasser hält. Der Laden hat im einmal gehört, aber er war als ein unerfahrener Kriegsheimkehrer pleite gegangen und der Käufer des Ladens, ein italienischer Einwanderer, hatte ihm eine Stelle als Verkäufer im selben Geschäft angeboten.

Die Handlung spielt in zwei kurzen Episoden um Ostern und den 4. Juli 1960 herum in dem kleinen, fiktiven, us-amerikanischen Ostküstenstädtchen New Baytown. Ethan gehört zu einer der Gründerfamilien des Städtchen, die ehemals durch den Walfang reich geworden, dann aber heruntergekommen war. Ethans Vater hatte die Reste des Familienvermögens durchgebracht und so bleibt Ethan nichts als das Haus und der Nachruhm der Familie. Sein Misserfolg als Kaufmann hängt ihm immer noch nach, aber um die Osterfeiertage herum beschließt er, in die Klasse der wohlhabenden Bürger zurückzukehren. Den Plan, mit dem er das ins Werk setzen will, entwickelt er im Laufe dieser Tage.

An der Oberfläche erzählt der Roman den Ablauf einiger weniger Tage, an denen sich eine entscheidende Wendungen in Ethans Leben einstellt. Im Hintergrund aber erzählt Steinbeck auch die Geschichte einer kleinen, von Tradition und Korruption gezeichneten Gemeinde und einer Gesellschaft, die trotz ihrer öffentlichen Moral von Ehrlichkeit, Fleiß und Rechtschaffenheit im Wesentlichen von Eigennutz, Betrug und Lügen geprägt ist.

New Baytown hatte so lange geschlafen. Jene Männer, die die Stadt regierten, in politischer, moralischer und wirtschaftlicher Hinsicht, beherrschten das Gemeinwesen schon so lang, dass sie in ihren Gewohnheiten festgefahren waren. Stadtdirektor und Stadtrat, Richter und Polizei waren für die Ewigkeit eingesetzt. Der Stadtdirektor verkaufte Baumaterial an die Stadt, und die Richter ließen Strafzettel verschwinden, wie sie es seit jeher taten, weshalb ihnen dies auch nicht illegal schien – obwohl die Gesetzbücher es behaupteten. Sie fanden es nicht unmoralisch, weil sie normale Menschen waren. Kein Mensch war unmoralisch. Die Nachbarn ausgenommen.

In diesem normalen Städtchen ist Ethan so etwas wie ein Einhorn: ein ehrlicher Mann, der sich – zumindest zu Anfang – weigert, an dem allgemeinen Spiel des Betrugs und der Bereicherung teilzunehmen. Als er dann beschließt, doch mitzumachen, soll das nicht ohne Folgen bleiben. Aber das soll jeder Leser selbst entdecken.

Der Roman ist in locker wechselnder Perspektive erzählt: Personales und Ich-Erzählen lösen einander ab; im zweiten Teil gibt es auch Kapitel, die ganz traditionell auktorial daherkommen. Breite Passagen sind dialogisch gefasst; überhaupt ist der Gegensatz zwischen dem, was die Figuren sagen, dem, was sie denken und beabsichtigen und schließlich dem, was sie tun, das zentrale Spannungselement des Romans. Steinbeck lässt sich lange Zeit, bevor er seinen Lesern erlaubt, seinem Protagonisten auf die Spur zu kommen, und selbst als der dann endlich weiß, was Ethan plant, sollte er sich nicht zu sehr darauf verlassen.

Die Neuausgabe bei Manesse ersetzt die ältere, bereits 1963 erschienene Übersetzung von Harry Kahn (Geld bringt Geld). Diese Übersetzung machte zumindest klar, wie schwierig es ist, Steinbeck gut zu übersetzen. Steinbecks Texte haben bei aller Ernsthaftigkeit ihrer Stoffe einen leichten, immer humoristischen Grundton, der insbesondere auch die Dialoge prägt. Zugleich gibt es in Der Winter unseres Missvergnügens einen durchgängigen, peu à peu wachsenden zornigen Unterton, der im letzten Kapitel auf ganz überraschende Weise kulminiert. Es ist sehr, sehr schwierig, das in einer anderen Sprache nachzubilden. Bernhard Robben ist dies alles andere als kleine Kunststück mit einer Souveränität gelungen, die man nur bewundern kann. Robben gehört schon lange zu den besten Übersetzern aus dem Englischen, aber hier ist ihm ein besonderes Meisterstück gelungen. Dem deutschen Text fehlt nichts von der Leichtigkeit und Eingängigkeit des Originals; insbesondere die ehelichen Dialoge zwischen Ethan und Mary sind mit einer Genauigkeit getroffen, die man bei Kenntnis des Originals kaum für möglich halten würde. Ein echter Glücksfall!

John Steinbeck: Der Winter unseres Missvergnügens. Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Robben. Zürich: Manesse, 2018. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 606 Seiten. 25,– €.

Sinclair Lewis: Babbitt

Ihm gefiel keines der Bücher. Er spürte darin einen Geist der Rebellion gegen alles Biedere und Bürgerliche. Diesen Autoren – und er fürchtete, sie waren sogar berühmt – lag offenbar nichts daran, einfach eine gute Geschichte zu erzählen, bei der man seine Sorgen vergessen konnte.

Sinclair Lewis war auch so eine Lücke in meiner Lesegeschichte. Der Mann hatte 1930 als erster US-Amerikaner den Literaturnobelpreis bekommen und war in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einer der bekanntesten US-Autoren. Sein Babbitt wurde erstmal schon 1925 – nur drei Jahre nach seinem Erscheinen – auf Deutsch vorgelegt in einer Übersetzung, die sich bis zuletzt auf dem Markt gehalten hat (die letzte Auflage bei Rowohlt scheint 1995 gedruckt worden zu sein). Nun legt Manesse eine Neuübersetzung durch Bernhard Robben vor, einem der fleißigsten und im Großen und Ganzen zuverlässigen Übersetzer englischer und amerikanischer Hochliteratur.

Babbitt spielt zu Anfang der 20er Jahre in der von Lewis erfundenen Großstadt Zenith irgendwo an der us-amerikanischen Ostküste. Sein Titelheld Georg F. Babbitt ist eine Null des gehobenen Mittelstandes, Immobilienmakler, Mitte 40, von sehr mäßiger Bildung, verheiratet mit Myra, drei Kinder, von denen  zwei noch zur Schule gehen. Die Fabel des Buches ist das Durcharbeiten dessen, was man gemeinhin eine Mid­life­cri­sis nennt. Babbitt ist dort angekommen, wo es nicht mehr recht vorwärts geht: Die Geschäfte laufen gut, kleinere und mittlere Betrügereien werden erfolgreich abgewickelt, seine Ehe ist so langweilig, wie er das erwarten darf, man gibt hier und da eine kleine Party, aber so richtig bewegt sich nichts im Leben des George F. Babbitt. Aus der Bahn wirft ihn dann, dass sein Freund aus Studientagen Paul Riesling nicht nur eine Geliebte hat, sondern schließlich sogar ins Gefängnis muss, weil er auf seine Gattin geschossen und sie verletzt hat.

Babbitt sieht sich vor die Frage gestellt, ob das alles gewesen sein kann. Er versucht, verzweifelt eine Geliebte zu finden, bis ihn dann eine le­bens­fro­he Witwe nimmt, weil gerade nichts besseres da ist. Er versucht es mit Saufen und durchgemachten Nächten, mit der Flucht in die Natur und wird am Ende ein Liberaler, also ein politisch und gesellschaftliche toleranter Mensch, womit er in seiner näheren Umgebung erheblich aneckt. Zwar wird seinen Lebenskrise toleriert, aber als er sich schließlich für einen Anwalt stark macht, der in Sachen Arbeitsrecht und Ge­werk­schaf­ten aktiv ist, hört der Spaß auf: Babbitt wird sozial geächtet und geschäftlich ausgebootet. Eine glückliche Blinddarmentzündung seiner Frau verschafft aber seiner Sentimentalität wieder die Oberhand, so dass es ihm letztendlich gelingt, sich wieder in die Normalität seines alten Lebens einzufinden. Sogar ein besserer Vater ist er durch das Durchlaufen der Krise geworden.

Babbitt ist eine böse und in manchen Teilen scharfe Satire auf den Kult der Normalität in der modernen Gesellschaft. Babbitt ist ein Idiot unter Idioten, die sich alle gegenseitig auf die Schulter klopfen und einander in die Taschen arbeiten. Dieser Kult der Normalität nimmt zum Ende des Buches hin sogar leicht faschistische Züge an, als Babbitt mit wachsendem Druck dazu genötigt wird, einer „Liga Anständiger Bürger“ (im Original die G.C.L., Good Citizens’ League) beizutreten. Der doch noch erfolgende, erleichterte Beitritt Babbitts zum Verein ist das abschließende, ver­nich­ten­de Urteil des Autors über seine Figur.

Das Buch liest sich in der Übersetzung Robben flott weg; der Übersetzer hat auf eine zu deutliche Differenzierung der im Original verwendeten Slangs verzichtet, ja verflacht insgesamt die sprachliche Differenzierung des Buches. Einige wenige Stellen hat er offenbar nur flüchtig gelesen oder auch nicht verstanden; an anderen zeigt er die für ihn üblichen sprachlichen Manierismus: So erscheint es mir etwa fraglich, ob man “chicken croquettes” tatsächlich mit „panierte Hühnerbällchen“ übersetzen sollte. Aber das alles sind Kleinigkeiten, die in der Textmasse verschwinden. Wichtiger ist, dass Robben den satirischen Ton des Textes und seinen Humor genau trifft und so dem deutschen Leser einen ziemlich genauen Eindruck vom amerikanischen Original liefert.

Für mich ist Sinclair Lewis eine echte Entdeckung, und dies wird nicht das letzte Buch sein, das ich von ihm lesen werde.

Sinclair Lewis: Babbitt. Aus dem amerikanischen Englisch von Bernhard Robben. München: Manesse, 2017. Pappband, Fadenheftung, Le­se­bänd­chen, 784 Seiten. 28,– €.

Ian McEwan: Am Strand

Eine längere Erzählung, in deren Zentrum die Hochzeitsnacht eines jungen, englischen Ehepaars steht. Die Hochzeitsreise hat sie nach Dorset geführt, wo sie in einem Hotel in der Nähe von Chesil Beach Quartier nehmen. Es ist der Juli 1962, und McEwan betont die zeitliche Nähe der erzählten Ereignisse zum Umbruch der Sexualmoral Ende der 60er-Jahre. Die Jungvermählten, Florence und Edward, scheinen auf den ersten Blick beide über keine erheblichen sexuellen Erfahrungen zu verfügen: Zwar masturbiert Edward offensichtlich exzessiv, aber Florence hat einen heimlichen Ekel vor den Vorstellungen, die sie von sexuellen Handlungen zwischen den Geschlechtern hat.

So beginnt diese Hochzeitsnacht unter schlechten Voraussetzungen: Während Edward sich an der Schwelle zur Erfüllung seiner sexuellen Wünsche wähnt, sieht sich Florence einer angstbesetzten Probe ihrer Liebe zu Edward gegenüber. McEwan behandelt die konkrete Situation selbst mit einigem psychologischen Geschick. Statt seine Protagonisten geradewegs auf die sich abzeichnende Katastrophe zusteuern zu lassen, schiebt er einen Augenblick echter Erregung als retardierendes Moment in den Gang der Ereignisse ein: Mehr zufällig berührt Edward bei einem ungeschickten Griff an den Oberschenkel seiner Frau dabei eines ihre Schamhaare, und sein hin- und herstreichelnder Daumen versetzt sie für einen Moment lang in einen Zustand, der sie ihre Angst vergessen lässt. Aber dann verdirbt Edward alles: Weil er den Reißverschluss am Kleid seiner Frau nicht öffnen kann, bricht er alle weiteren Zärtlichkeiten ab, entkleidet sich und versucht, ohne weitere Umstände zum Vollzug zu kommen. Florence, im Bewusstsein ihrer ehelichen Pflicht, greift nach seinem Glied und versucht, es in sich einzuführen. Bei dem Versuch erleidet Edward, der sich für die bevorstehende Hochzeitsnacht seit einer Woche der Masturbation enthalten hatte, einen vorzeitigen Samenerguss, den er nur als ein eklatantes Versagen begreifen kann. Florence wiederum ekelt sich vor dem sich über sie ergießenden Samen Edwards so sehr, dass sie aufspringt und aus dem Zimmer flieht.

Später findet Edward Florence am Strand wieder, und es kommt zum Streit. Florence eröffnet Edward einen Plan, den sie sich schon vor der Hochzeitsnacht zurechtgelegt hatte: Edward soll jegliche Freiheit genießen, sich mit anderen Frauen sexuell auszuleben, dabei aber mit ihr zusammenleben und sie lieben. Edward kann dies im Augenblick nur als einen Zynismus und Betrug an sich und seiner Liebe begreifen, und so kommt es zu einem endgültigen Bruch zwischen den beiden.

McEwan füllt diese kleine Studie mit den Vorgeschichten seiner beiden Protagonisten auf und rundet sie mit einer kurzen Erzählung ihrer weiteren Schicksale ab. Am spannendsten an der Geschichte von Florence dürfte ihr enges Verhältnis zu ihrem Vater sein, von dem der Text offenlässt, ob es sich um eine platonische Vater-Tochter-Liebe handelt, wie sie sich wohl in vielen Fällen entwickelt, oder ob diese Liebe in einen Missbrauch gemündet ist, den Florence komplett aus ihrem Bewusstsein verdrängt hat. Letzteres bleibt aber Spekulation, die der Text höchstens nahelegt, aber nicht tatsächlich stützt.

McEwan lässt aber von Beginn an keinen Zweifel daran, dass es sich für ihn wesentlich um eine Geschichte mangelnder Kommunikation handelt:

Sie waren beide jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren. Einfach sind sie nie.

Wie oben bereits gesagt, ist die Nähe zur sogenannten Sexuellen Revolution nicht zufällig gewählt: McEwan konfrontiert die heutige Lage an der sexuellen Front – wie sie inzwischen in der Literatur gehandelt wird – mit der Situation, in der sich junge Menschen noch vor knapp 50 Jahren normalerweise befanden. Dies ist eine reizvolle Folie, und der Autor verzichtet bewusst auf jeglichen expliziten Kommentar der vorgeführten Differenz.

Ein gehaltvolles kleines Buch, das McEwan einmal mehr als einen Autor von außergewöhnlichem psychologischem Einfühlungsvermögen zeigt.

Ian McEwan: Am Strand. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Zürich: Diogenes, 2007. Leinenband, 208 Seiten. 18,90 €.

Ian McEwan: Zwischen den Laken

mcewan_laken Sammlung von sieben routiniert und gekonnt erzählten Geschichten McEwans, von denen drei (Zwei Fragmente, Hin und Her und Psychopolis) bereits zuvor bei Diogenes veröffentlicht worden sind. Der Band hat kein wirklich einheitliches Thema, wenn sich auch die meisten mehr oder weniger zentral um das Thema Sexualität drehen. Sie umfassen stilistisch eine deutliche Bandbreite, so dass kein geschlossenes Bild der Sammlung entsteht. Die Übersetzungen scheinen – soweit sich das vom deutschen Text ablesen lässt – anspruchsvoll und sorgfältig gearbeitet zu sein.

Pars pro toto hier ein paar inhaltliche Hinweise: Pornographie erzählt von einem jungen Mann, der im Sexshop seines Bruders arbeitet. Nebenher hat er Verhältnisse zu mindestens zwei Frauen, die aber nichts voneinander wissen. Nun zwingt ihn eine Geschlechtskrankheit, sich für einige Zeit zurückzuziehen, und als er wieder Kontakt zu seinen Damen aufnimmt, erwartet ihn eine Überraschung …

Der kleine Tod erzählt von einem sehr erfolgreichen Londoner Geschäftsmann, der sich eines Tages in eine Schaufensterpuppe verliebt und mit ihr einige glückliche Wochen verbringt. Dann allerdings schöpft er Verdacht, dass sie ihn mit seinem Fahrer betrügen könnte und verfällt einer zunehmend tiefen Verzweiflung. So absurd die Grundkonstellation auf der einen Seite zu sein scheint, so realistisch gerät die aus ihr entwickelte Beziehungsgeschichte. Diese Erzählung stellt sicherlich das humoristische Prunkstück der Sammlung dar.

Die Titelerzählung erzählt von einem geschiedenen Schriftsteller, den die beginnende Pubertät seiner bei seiner Frau lebenden Tochter in einige Verwirrung stürzt. Der Titel In Betwen the Sheets stammt übrigens aus dem Rolling-Stones-Song Live With Me, der in der Erzählung auch zitiert wird.

Ian McEwan: Zwischen den Laken. Erzählungen. Aus dem Englischen von Michael Walter und Bernhard Robben. detebe 21084. Zürich: Diogenes Verlag , 2008. 224 Seiten. 8,90 €.

Ian McEwan: Saturday

mcewan-saturday Der Roman eines Tages, des 15. Februar 2003 in London, eines Samstags, wie der Titel schon verrät. Für den Protagonisten, den erfolgreichen und renommierten Neurochirurgen Henry Perowne, beginnt der Tag merkwürdig genug: Er wacht viel zu früh auf und beobachtet, am Fenster stehend, ein brennendes Flugzeug, das zur Landung in Heathrow ansetzt. Es wird sich erweisen, dass dies am Ende so harmlos ist, wie der ganze Roman.

Henry Perowne ist 48 Jahre alt, mit einer Anwältin verheiratet, hat zwei wundervolle, hochbegabte Kinder und kommt selbst mit seinem berühmten Schwiegervater, einem Dichter, irgendwie zurecht. Henry ist Rationalist, Squash-Spieler, Mercedes-Fahrer, Bach-Liebhaber, Hobby-Koch und auch sonst ein blitzgescheiter Kerl.

Leider passiert ihm auf dem Weg zum Squash ein kleines Malheur: Durch eine Zusammenrottung unglücklicher Umstände hat er in seinem Mercedes 500 einem leichten Zusammenstoß mit einem roten BMW. Damit ist die Konflikthöhe einer klassisch griechischen Tragödie erreicht: Dem BMW entsteigt ein neurologisch erkrankter Kleinkrimineller – im Folgenden Baxter genannt – mit zwei Schlägern. Doch das diagnostische Genie Perownes hilft ihm aus der Patsche: Sofort erkennt er das Krankheitsbild Baxters, der daraufhin verwirrt und gedemütigt das Weite sucht. Nach einem knapp verlorenen Squash-Spiel gegen seinen Chef-Anästhesisten kauft Perowne Fisch ein, besucht seine demente Mutter im Pflegeheim, wohnt einer Probe seines Gitarre spielenden Sohnes bei und fährt dann heim, um zu kochen.

Dort trifft zuerst seine in Paris studierende Tochter ein, die unmittelbar vor der Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbandes steht, anschließend der ebenfalls dichtende Schwiegervater, dann der Sohn. Schließlich treffen auch Henrys Frau und mit ihr zusammen der lang erwartete Baxter ein, der sich zuerst bedrohlich gibt, dann aber von einem Gedicht verzaubert und anschließend von Vater und Sohn gemeinsam die Treppe heruntergeworfen wird.

Es kommt, wie es kommen muss: Baxter wird in das Krankenhaus eingeliefert, in dem Perowne arbeitet; der wird vom Squash spielenden Anästhesisten angerufen und fährt ins Krankenhaus, um dort gänzlich leidenschaftslos die Operation Baxters durchzuführen. Alles wird gut! Nach alles in allem etwa 24 Stunden kehrt Perowne in sein Haus zurück, tröstet noch kurz seine Frau, sieht noch ein Flugzeug, das diesmal aber nicht brennt, und schläft mit dem Gedanken ein, dass dieser Tag vorbei ist.

Das Buch ist in seinem Gehalt so albern, wie hier dargestellt. Daran ändert auch nichts, dass die Londoner Großdemonstration gegen den Krieg im Irak den Hintergrund bildet oder sich Perowne Sorgen um die Sicherheitslage der Welt und seiner Familie macht. Der Roman brilliert dagegen auf zwei Ebenen: Zum einen beherrscht McEwan sein Handwerk, wenn es ihm problemlos gelingt, die Lebensgeschichte seines Protagonisten glatt und bruchlos in den Ablauf eines einzigen Tages einfließen zu lassen. Hier steht natürlich der Joycesche Ulysses im Hintergrund und McEwans trivialisierte Fassung beweist einmal mehr sein schriftstellerisches Geschick. Zum anderen sind die Details einzelner Szenen mit beeindruckender Präzision geschildert, was man insbesondere daran merkt, dass diese Sequenzen auch einen Leser fesseln, der sich mit diesen Dingen nicht auskennt oder sich nicht für sie interessiert. Perownes Diagnosen langweilen nicht, auch wenn man nicht in der Lage ist, jeden Terminus technicus zu verstehen und einzuordnen. Und ich hätte niemals geglaubt, mit Interesse der Beschreibung eines Squash-Spiels folgen zu können, aber hier hat mich die entsprechende Passage nicht gestört.

Dass der Autor allerdings die Chuzpe hat, indirekt zu behaupten, er unternehme in diesem Buch nichts anderes als das, was Flaubert und Tolstoi auch gemacht hätten, macht die Sache nicht wirklich besser:

Unter Daisys Anleitung hatte Henry immerhin Anna Karenina und Madame Bovary gelesen, zwei anerkannte Meisterwerke. Obwohl er seine Denkvorgänge verlangsamen und viele Stunden kostbarer Zeit aufwenden mußte, hatte er sich den wechselnden Komplikationen dieser anspruchsvollen Märchen anvertraut. Doch welche Einsichten hielten sie letztlich bereit? Daß Ehebruch zwar verständlich, aber falsch ist, daß es Frauen im neunzehnten Jahrhundert nicht besonders leicht gehabt haben und daß Moskau, die russische Landschaft und die französische Provinz so und nicht anders ausgesehen hatten? Falls, wie Daisy behauptete, das Genie im Detail lag, dann war er keineswegs beeindruckt. Die Details waren angemessen und überzeugend beschrieben, doch jeder auch nur halbwegs aufmerksame Beobachter sollte sie geordnet wiedergeben können und dürfte, wenn er die nötige Geduld besaß, es wohl kaum besonders schwierig finden, derlei niederzuschreiben. Diese Bücher waren das Ergebnis eines unerbittlichen, fachkundigen Sammeleifers.

Immerhin erlaubt er wenig später einer seiner Figuren, leise Zweifel am Lektüreansatz seines Protagonisten anzumelden.

All dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass Henry Perowne ein alberner Supermann von einem Protagonisten und die Fabel von dummer Berechenbarkeit ist und der Autor mit keinem seiner angerissenen Konflikte auch nur für einen einzigen Augenblick Ernst macht. Selbst wenn man unterstellen wollte, McEwan habe einen Roman schreiben wollen, wie ihn etwa sein Protagonist gerade noch zu schreiben in der Lage wäre, überzeugt die einfältige und zu durchschaubare Konstruktion nicht. Eine Schauerkomödie der Besserverdienenden, Schönen und Erfolgreichen.

Ian McEwan: Saturday. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. detebe 23627. Zürich: Diogenes, 2007. 390 Seiten. 10,90 €.

Ian McEwan: Abbitte

mcewan_abbitteWhat a book! Ian McEwan war mir bislang nur dem Namen und einigen Titeln nach geläufig, und ich will gleich vorweg betonen, dass mich die Dichte und Intensität dieses Buches überwältigt haben! »Abbitte« ist ein gewaltiges Buch, ein Buch der Reflexion, der Introspektion, der erlebten Rede. Die wenigen Figuren, die im Fokus stehen, sind von einer Einprägsamkeit und Schlüssigkeit, wie man sie nur selten findet. Die sparsame Handlung ist der Figurenpsychologie deutlich nachgeordnet, obwohl es gerade die ausgefeilte Anfangskonstellation ist, die die differenzierte psychologische Darstellung fundiert und überhaupt erst ermöglicht.

Der Roman ist in drei Teile und einen Epilog gegliedert: Der erste Teil erzählt von einem einzigen Sommertag des Jahres 1935 auf dem Schloss der Familie Tallis. Anwesend sind außer der Hausherrin Emily Tallis ihre beiden Töchter Cecilia und Briony, 23 und 13 Jahre alt, Robbie Turner, der vom Hausherrn geförderte Sohn einer Bediensteten, sowie die Nichte Lola und zwei Neffen der Hausherrin. Im Laufe des Tages kommt noch Cecilias und Brionys Bruder Leon hinzu, der als Gast einen jungen, erfolgreichen Unternehmer, Paul Marshall, mitbringt. Der Hausherr befindet sich in London, wo ihn seine beruflichen Pflichten in einem Ministerium und eine Geliebte festhalten.

Die eigentliche Handlung des ersten Teils, der etwa die Hälfte des Romans umfasst, zusammenzufassen, fällt schwer, da er überaus reich an Perspektivwechseln und Mißverständnissen ist. Er ist in 13 Abschnitte gegliedert, die jeweils aus einer wechselnden personalen Perspektive erzählt sind. Wesentlich ist, dass sich an diesem Tag aus der Kinder- und Jugendfreundschaft zwischen Cecilia und Robbie eine leidenschaftliche Liebe entwickelt, was aufgrund einer Reihe von Zufällen, Mißverständnissen und Fehlleistungen in Briony den Eindruck wachruft, bei Robbie Turner handele es sich um einen »Psychopathen«, ohne dass sie eine genaue Vorstellung davon hat, was das bedeuten soll. Dieses Vorurteil, dessen Entstehung skrupulös nachgezeichnet wird, führt sie dazu, Robbie wenige Stunden später der Vergewaltigung ihrer Kusine Lola zu bezichtigen, obwohl sie sich schon zu diesem Zeitpunkt darüber im Klaren ist, dass sie den Täter im Dunkel der Nacht nicht wirklich erkannt hat.

Teil zwei spielt etwa fünf Jahre später: Robbie Turner ist nach dreieinhalb Jahren im Gefängnis in die Armee entlassen worden und befindet sich zusammen mit zwei Unteroffizieren auf der Flucht vor den deutschen Truppen Richtung Dünkirchen. Er ist verletzt, trägt einen Schrapnellsplitter in sich herum. Wir erfahren, dass sich Cecilia von ihrer Familie getrennt hat, in der Zeit, in der Robbie im Gefängnis war, Krankenschwester geworden ist und auf Robbies Rückkehr nach England wartet. Auch ihre Schwester Briony, die eigentlich Schriftstellerin hatte werden wollen, ist inzwischen in der Ausbildung zur Krankenschwester, und wir lesen in einem Brief Cecilias an Robbie, dass sich Briony inzwischen bewusst ist, was ihre Aussage angerichtet hat und sie sich auch sicher ist, wer der tatsächliche Vergewaltiger Lolas war. Der Abschnitt enthält eine intensive Schilderung der Flucht Robbies unter wiederholten Angriffen der deutschen Luftwaffe. Robbie und seine Begleiter erreichen zwar Dünkirchen, aber der Bericht wird zunehmend von den Fieberphantasien Robbies überlagert und bricht ab, bevor wir erfahren, ob Robbie lebend ausgeschifft wurde.

Teil drei berichtet über annähernd denselben Zeitraum wie Teil zwei, diesmal aus Brionys Sicht: Sie ist als Lehrschwester in einem Londoner Krankenhaus beschäftigt und muss die erste Welle verletzter Soldaten, die aus Frankreich herüberkommen, versorgen. Es sind diese Erfahrungen, die Briony endgültig erwachsen werden lassen und sie dazu bringen, sich der Verantwortung für ihre Lüge zu stellen. Am nächsten freien Tag besucht sie die Hochzeit ihrer Kusine Lola mit Paul Marshall und sucht anschließend ihre Schwester auf, die sie seit fünf Jahren nicht mehr gesprochen hat. Dort findet sie auch Robbie vor, der ihr aufträgt, ihre Eltern von ihrer Lüge in Kenntnis zu setzen, sie auch vor einem Notar zu bezeugen und ihm einen Brief zu schreiben, in dem sie ausführlich die Umstände schildert, die zu ihrer Lüge geführt haben. Nicht versöhnt, aber doch einander wieder angenähert, trennen sich Cecilia, Robbie und Briony auf dem Londoner U-Bahnhof Balham. Der Abschnitt schließt mit der Unterschrift:

BT
London 1999

Die weiteren Überraschungen, die der Epilog noch bereit hält, sollen hier nicht verraten werden.

Sowohl die intensiven Beschreibungen der Kriegsschrecken als auch die Figurenpsychologie zeichnen dieses Buch aus. Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor so klare und zugleich detaillierte und stimmig entwickelte psychologische Portraits gleich mehrerer Figuren gelesen zu haben. Ohne Frage eines der letzten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts!

Ian McEwan: Abbitte. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben. Zürich: Diogenes, 2002. Lizenzausgabe für die SPIEGEL-Edition: Hamburg, 2006. Pappband, 507 Seiten. 9,90 €.