Gerhard Henschel: Kindheitsroman

Im Sprachbuch war eine Seite, auf der wir alle Buchstaben ausmalen konnten, die wir durchgenommen hatten. Wie wohl das große Eszett oder Rucksack-S aussah. Das kleine war schon drangewesen. Als alles ausgemalt war, fehlte immer noch das große Eszett. Ich fragte Frau Kahlfuß danach, und sie sagte, das gebe es nicht. Es gebe nur das kleine Eszett.
Das war der größte Beschiß, den die Welt je erlebt hatte.

Erster Teil eines inzwischen auf vier Bände angewachsenen, offensichtlich stark autobiographisch gefärbten Romanzyklus. Der Ich-Erzähler Martin Schlosser wächst als drittes Kind einer sechsköpfigen Familie in und um Koblenz herum auf. Ein weiterer wichtiger Ort ist Jever, in dem die Großeltern väterlicherseits leben, und Hannover, wo er mehrfach eine seiner Tanten besucht. Erzählt werden die gut zehn Jahre von Mitte der 60er bis zur Mitte der 70er Jahre. Die Familie Schlosser ist eine ziemlich typische Nachkriegsfamilie: Der Vater arbeitet als Ingenieur für die Bundeswehr, die Mutter ist Hausfrau. Man entschließt sich, ein Haus zu bauen, in das man vor der endgültigen Fertigstellung einzieht, um es dann in Eigenregie weiterzubauen. Der Vater ist zuerst oft im Ausland und später, nachdem er befördert wurde, im niedersächsischen Meppen, wohin er versetzt wurde. An den Wochenenden verbringt er viel Zeit mit der Vollendung des Hauses, im Hobbykeller und beim Reparieren des PKWs.

Die Erzählung folgt der kindlichen Entwicklung Martins, seinen Freundschaften und ersten Lieben, seiner Schullaufbahn, seiner Neigung zu unbefugter Aneignung fremden Eigentums und schließlich seinen kindlichen Träumen von Ruhm und Reichtum als klavierspielendes Wunderkind oder als späterer Rekord-Torschützenkönig und mehrfacher Fußballweltmeister. Alles das ist locker aufgereiht und folgt nur sehr bedingt unter dem Muster eines Entwicklungsromans. Das Besondere des Buches ist, neben seinem Humor, die Authentizität des Materials, sowohl bei den sachlichen Details als auch in den sprachlichen Wendungen. Dies ist eines der seltenen Bücher, die nach 100 Jahren für den normalen Leser gänzlich unlesbar geworden sind, aber von Historikern ausgeschlachtet werden, die die westdeutsche Alltagskultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreiben wollen.

Gerhard Henschel: Kindheitsroman. dtv 13444. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 62011. Broschur, 494 Seiten. 11,90 €.

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